Öffentliche Gebetsrufe, Kirchenglocken oder Balkonkonzerte. In der Corona-Pandemie hilft die Musik, räumliche Distanz zu überwinden. Ein Gastbeitrag des Musikwissenschaftlers Kaan Cevahir.
Der pandemische Ausbruch des neuartigen Corona-Virus wirkt sich auf sämtliche Lebensbereiche und -situationen aus. Mit gravierenden Auswirkungen auch auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, gar Konsequenzen für den physischen Kontakt – letztere unter der neumodischen Bezeichnung Social Distancing subsummiert werden. Dabei ist dieser Terminus mehr irreführend als zutreffend. Er scheint geradezu als Ultimatum den sowohl physischen als auch sozialen Kontakt in all seinen Erscheinungsformen und Formaten kategorisch auszuschließen respektive einzuschränken, dies zumindest zu suggerieren. Die Digitalisierung hat uns gelehrt, die Verschränkung des Sozialen mit dem Physischen auch in einen Kontext technologischer Innovationen einzuordnen, eben dieses Verhältnis neu zu definieren, zumindest zu überdenken. Denn weder ist das Verhalten des Menschen im sozialen Gefüge auf das physische Beisammensein angewiesen, noch garantiert die physische Nähe eine soziale Interaktion.
Ausgehend von diesem Verständnis und angesichts der mit der Corona-Krise einhergehenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens stellt sich die Frage, durch welche Möglichkeiten der Entfall zwischenmenschlicher Begegnungen kompensiert werden kann und welche Alternativen gegeben sind, eventuell neu generiert werden müssen. Deutlich wird, dass hier – neben den diversen online Kommunikationsformaten – der Musik eine zentrale Bedeutung zukommt. Ihre gesellschaftliche Relevanz gewinnt an Aktualität und Signifikanz – aus musiksoziologischer Sicht nicht verwunderlich.
Musiken sind stets in einem wechselwirkenden Dreiecksverhältnis von Kultur-Gesellschaft-Politik verortet, werden aus diesem generiert, haben gar das Potential, darauf Einfluss zu nehmen. In jedem Fall versetzt Musik sich selbst in eine Beziehung zur Gegenwart respektive zu den gegenwärtigen Verhältnissen – dass sie auf die Corona-Krise reagiert, gar sich zu den Auswirkungen der Pandemie positioniert, zeichnet ihr Wesen aus.
Dazu nur eine Auswahl an Beispielen, die sich im Folgenden – über die Beschreibung hinaus – jener Deutung unterziehen, die in Ansätzen versucht den gesellschaftlichen Auftrag von Musik in der Krise (zu der Musik nicht immer verpflichtet ist!) zu dechiffrieren. Es sind jene Beispiele, die auch durch ihre mediale Aufladung an Popularität gewonnen haben.
Darunter die in häuslicher Quarantäne musizierenden Italiener, die in diesem Zusammenhang und mit einer solchen Initiative gewiss eine Vorreiterstellung einnehmen. Es sind Lieder wie „Grazie Roma“, „Abbracciame“ oder „Azzurro“, die aus den Balkons durch die Straßen Italiens hallen, in einer befremdlichen Situation etwas Vertrautes schaffen und(!) Musik gemeinschaftlich erleben lassen. Hier wird in und durch Musik ein Kollektiv gestiftet und die Sorge mit Freude, Humor und Ironie überspielt – ein Kanon der Gefühlsausbrüche.
Über diese Emotionalität hinaus ist es auch der (kultur)politische Bedeutungsgehalt von Musik, der das Identitätsbewusstsein der Menschen stärkt und darin – von der Betroffenheit hin zum Zusammenhalt – eine weitere Gemeinsamkeit kreiert. Deutlich wird dies am Beispiel der italienischen Nationalhymne „Fratelli d’Italia“, die ebenfalls von den Italienern in das Repertoire ihrer „Corona-Konzerte“ aufgenommen wurde: Hier wird durch das Nationale in der Musik wie auch seine Adaption im Sujet ein Gefühl der Zugehörigkeit und Verbundenheit vermittelt.
Viele Länder folgten der Initiative Italiens mit einem eigenen musikalischen Programm – darunter Deutschland mit Beethovens „Ode an die Freude“. Am 22. März erklang bundesweit die „Hymne Europas“ als Ausdruck für Solidarität, Euphorie und europäische Geschlossenheit – von der Musik verkündet. In Istanbul geben türkische Musiker täglich zur selben Uhrzeit „Balkonkonzerte“ und laden die Nachbarschaft zur musikalischen Beteiligung ein. Wieder in der Türkei – und gewiss auch in anderen Ländern – werden die Genesenen mit festlicher und tänzerischer Musik aus den Krankenhäusern entlassen. Das Ganze erinnert an einen zeremoniösen Akt, an die Glorifizierung des Menschen im Kampf gegen den Virus.
Mit der Ausbreitung der Pandemie geht weltweit ein besonderes musikalisches Engagement einher. Von digitalen Unterrichtsformaten und „Remote sessions“, über online Chöre und Konzerte, bis hin zu Neukompositionen mit Corona-Bezug und „Bleib-Zuhause-Songs“: In jedem Fall sind es – zum Teil in und aus der Krise entstanden – musikalische Reaktionen auf die Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Es sind Interventionen im Auftrag der sozialen Interaktion.
Das Bedürfnis des künstlerischen Ausdrucks wächst gewiss auch an der Krise und wird gestillt durch die Konzeption neuer musikalischer Formen und (Aufführungs-)Praktiken („Balkonkonzerte“!), gar durch die Schaffung eines musikalischen Kollektivs, das über nationalen Gefühle und emotionale Reize hinaus auch Religionen zu harmonisieren vermag. Kirchenglocken läuten, während gleichzeitig der islamische Gebetsruf erklingt, beides – mehr in einem Nebeneinanderklingen als Zusammenklang – über den spirituellen Zugang zur Solidarität aufruft und Trost spendet. Es ist ein Klang von Interreligiosität, der nicht bloß auf einer textlichen, sondern zugleich auf einer Ebene der musikalischen Syntax über seine religiöse Motivation hinauswirkt. Denn ob die Klänge der Kirchenglocken oder die Melodiestruktur des Gebetsrufs – es sind immer auch musikalische Hörerfahrungen, die in schwierigen, von Desorientierung begleiteten Zeiten das Bekannte und Vertraute schaffen und dem Leben des Menschen Halt geben.
Musik bewegt sich zwischen Reminiszenz und Resilienz, und was uns die Corona-Krise darüber hinaus noch lehrt: Musik lässt sich weder auf ein Klangphänomen noch auf eine bestimmte Funktionalität reduzieren – ihre gesellschaftliche Relevanz ist nicht zu überhören.