Ist das Ehrenamt nur ein Dienst für die Gesellschaft oder Eigenwerbung und Profit? Warum es umso wichtig ist, an den islamischen Prinzipien festzuhalten, erklärt Yaqub Chaudhary. Ein Gastbeitrag.
Ehrenamtliche Tätigkeiten werden in den heutigen säkularen Gesellschaften typischerweise aus zwei Perspektiven betrachtet: als unbezahlte Arbeit oder Freizeitbeschäftigung. Wer im Ehrenamt tätig ist, kann etwas bewegen, indem er eine Dienstleistung für andere Menschen, seine Gemeinde oder die Gesellschaft als solche erbringt. Er baut Selbstvertrauen auf und kommt mit anderen in Kontakt. Auch das Erlernen neuer Fähigkeiten und das Sammeln wichtiger Erfahrungen werden zu den typischen Vorteilen ehrenamtlicher Arbeit gezählt.
Seit einigen Jahren wird das Ehrenamt mehr und mehr zum globalen Phänomen, was sich besonders anhand der vielen Freiwilligen zeigt, die vermüllte Naturräume säubern, um die sich die örtlichen Behörden nicht kümmern. Beflügelt wurde dieser Trend 2019 durch das Hashtag „#trashtag“, der schon 2015 erstmals auftauchte. Das Ergebnis war eine bemerkenswerte landschaftliche Verwandlung: Küstenabschnitte kamen zum Vorschein, Naturräume wurden wiederhergestellt und öffentliche Plätze neu belebt.
Für Muslime geht das Ehrenamt jedoch noch weiter und findet ihren höchsten Ausdruck in der Suche nach und der Weitergabe von religiösem Wissen. Dies wiederum basiert auf dem Grundsatz der reinen Absicht, die jeder Tat ebenso vorausgehen soll, wie die Kenntnis ihrer Regeln und Bestimmungen. Bezogen auf das oben genannte Beispiel der freiwilligen Reinigungsaktionen wäre dies eine angemessene Schulung der freiwilligen Helfer im Umgang mit potenziellen Gefahrenstoffen, die bei unsachgemäßer Handhabung durch die unerfahrenen, aber umso enthusiastischeren Helfer zum Risiko für sie selbst und andere werden können.
Für manche ist eine ehrenamtliche Tätigkeit eine offizielle Teilzeitbeschäftigung, für andere eine Daueraktivität und ein Lebensstil. Dazwischen liegen informelle Ad hoc-Einsätze. Für muslimische Ehrenamtler ist es in jedem Fall wichtig, die besonderen Verantwortlichkeiten im Blick zu behalten, die jede Lebensphase und die persönlichen Lebensumstände begleiten und gegebenenfalls Vorrang vor dem ehrenamtlichen Engagement haben. Man muss also darauf achten, eine von Allah bereits zugewiesene Pflicht oder Position nicht ohne triftigen Grund für eine andere Position zur vernachlässigen.
Angesichts des sich über die sozialen Medien rasch verbreitenden Trends des Ehrenamtes darf nicht vergessen werden, dass diese Form der Tätigkeit nicht immer lobenswert ist, vor allem wenn sie von politischen Philosophien oder Weltanschauungen bestimmt wird, die im Gegensatz zur islamischen Tradition stehen.
Es obliegt dem angehenden Ehrenamtler, eine klare Trennlinie zwischen Ehrenamt und politischem Aktivismus zu ziehen und sich vor Aktionen zu hüten, die Großunternehmen als PR-Strategie einsetzen, um von Praktiken abzulenken, die von der Öffentlichkeit oder politischen Kontrollorganen als unmoralisch oder unethisch bewertet werden.
Von einem islamischen Standpunkt aus betrachtet wird ehrenamtliche Arbeit allein um Allahs Willen verrichtet. So heißt es im Koran „[…] Und die den Armen und die Waise und den Gefangenen speisen, auch wenn sie der Nahrung selbst bedürfen. Seht, wir speisen euch um Allahs willen. Wir wollen weder Belohnung von euch noch Dank.” (Sure Insân, 76:8-9)
Statt eines materiellen Nutzens sucht der muslimische Ehrenamtler nach spiritueller Erfüllung durch die Möglichkeit, anderen einen Dienst zu erweisen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Aufnahmeorganisationen auf Dankesgesten völlig verzichten sollten. Zivilgesellschaftliche Organisationen gelten als Stütze der westlichen Demokratien, sofern sie unpolitisch bleiben, auf der lokalen Ebene agieren und sich selbst verwalten. Wo solche Vereinigungen als Vermittler bürgerschaftlichen Engagements zur Verfügung stünden, so das Argument, könnten Fürsorgeleistungen ohne politische Einmischung und Kontrolle dorthin gelenkt werden, wo sie benötigt würden.
Oft wird behauptet, dass sich Regierungen mit der Auslagerung ihrer Bereitstellungspflichten an den ehrenamtlichen Sektor aus ihrer Verantwortung stehlen würden. Umgekehrt sprechen sich andere gegen die staatliche Finanzierung von Bereichen aus, in denen Ehrenamtliche fehlen. Dieser monetäre Aspekt würde sowohl die Motivation zu freiwilliger Arbeit als auch die Qualität der Betreuung verringern. Wichtige Fragen betreffen also die Balance zwischen Regierung, Markgegebenheiten und dem Freiwilligensektor bei der Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen.
Es muss festgehalten werden, dass sich die Wahrnehmung der „Zivilgesellschaft“ aus der Wahrnehmung des „Staates“ ergibt. Aus islamischer Perspektive ist die Reichweite der Gewalt des Staates und seiner Funktionen in der Gesellschaft dagegen deutlich beschränkter. Ein prominentes Beispiel für ein staatsunabhängiges Wohlfahrtswesen ist das Stiftungssystem (arab. Wakf) des osmanischen Reiches, das eine wichtige Rolle bei der Bereitstellung von Obdach, Nothilfe für Bedürftige, medizinischer Versorgung und anderer Dienstleistungen spielte. Gleiches galt für die Zünfte. Diese standen in der Tradition der Futuwwa, der vom Vorbild des Propheten, der Gefährten und der frommen Gottesfreunde inspirierten Brüderlichkeit, Gastfreundschaft, Großzügigkeit und des ehrbaren Verhaltens.
Die Zentralisierung des Verwaltungsapparats, der Säkularisierungsprozess und ihre finanzielle Kontrolle drängten die Bedeutung der Stiftungen im öffentlichen Sektor zugunsten des Staates zurück und schwächten auch die Futuwwa-Tradition.
Eine Rückbesinnung auf die islamische Weltsicht könnte nicht nur in Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung das Ehrenamt gegen sich verlagernde politische und wirtschaftliche Trends absichern. Der barmherzige Dienst am Nächsten würde auf diese Weise wieder im eigenen Sein und der Bestimmung des Menschen als Diener Allahs verankert. Im Gegensatz dazu wird das Ehrenamt im modernen Kontext zunehmend für eigennützige Zwecke, Selbstvermarktung, politische Ideologien oder Unternehmensinteressen instrumentalisiert.