NOTFALLSEELSORGE

Notfallbegleitung – erste Hilfe für verletzte Seelen

Alle Menschen erleben hin und wieder schwierige Lebenssituationen. Umso wichtiger ist der seelische Beistand in solchen Krisenzeiten. Die muslimische Notfallseelsorgerin Aişe Akova schreibt über die islamische Notfallbegleitung.

31
05
2020
0
Notfallbegleitung
Notfallseelsorge © Shutterstock, bearbeitet by iQ

Die Notfallseelsorge ist akute seelsorgliche Krisenintervention. Sie begleitet Opfer und Angehörige während und nach Krisensituationen wie Unfällen, Bränden, großen Katastrophen und Todesfällen. Gleichzeitig unterstützt sie Beteiligte und Ersthelfer vor Ort und übernimmt eine Vermittlerrolle zwischen den Angehörigen und den Einsatzkräften. In der Notfallseelsorge werden diese Tätigkeiten als „Erste Hilfe für die verletzte Seele“ bezeichnet. Muslimische Seelsorger werden in der Regel bei besonderem Bedarf von der Krisenleitung angefordert. Sie kommen vor allem dann zum Einsatz, wenn religiöse und kultursensible Begleitung notwendig ist.

In Zusammenarbeit mit der christlichen Notfallseelsorge, den Rettungsdiensten und der Polizei stehen muslimische Notfallbegleiter betroffenen Menschen in Extremsituationen bei und übernehmen eine wichtige Vermittlerrolle zwischen den Familien und den Einsatzkräften.

Bedarf nach muslimischer Notfallbegleitung

Ich arbeite seit zehn Jahren als ehrenamtliche Notfallbegleiterin in Köln und habe viel Erfahrung in dem Bereich gesammelt. Ich beobachte, dass der Bedarf an muslimischen Seelsorgern in den letzten Jahren stetig steigt. Da sich das Bewusstsein der Muslime im Umgang mit Tod und Trauer verändert, nimmt auch die Nachfrage an Trauerbegleitung zu. Je mehr die Arbeit der muslimischen Seelsorger in den Strukturen der Leitstellen bekannt wird, desto mehr greifen auch die Behörden bei Krisen gerne auf diese Angebote zurück, um in Notfällen zusätzliche Unterstützung für muslimische Familien zu erhalten. Nur mit Hilfe dieser Seelsorger sind Barrieren wie Sprache und kulturelle und religiöse Unterschiede zu überbrücken. Denn christliche Seelsorger sind ohne die Mithilfe von muslimischen Notfallbegleitern an Unglücksorten mit muslimischen Betroffenen oft überfordert. Zu den Kommunikations- und Sprachproblemen kommen zusätzlich rituelle und theologische Unterschiede.

Seit 2009 bildet die Christlich-Islamische Gesellschaft e.V. (CIG) in Köln gemeinsam mit dem Landespfarramt für Notfallseelsorge der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) ehrenamtliche muslimische Notfallbegleiter/-innen in Nordrhein-Westfalen aus. Weil der Begriff „Notfallseelsorge“ im Zusammenhang mit der christlichen Seelsorge benutzt wird, werden muslimische Seelsorger als „Notfallbegleitung“ bezeichnet.

Zwischen Ohnmacht und Empathie

Auch ich habe 2010 meine Ausbildung als muslimische Notfallbegleiterin absolviert und anschließend mit den Einsätzen angefangen. Die Einsatzbereitschaft nach der Ausbildung zur Notfallbegleitung kann jeder für sich selbst entscheiden. Es gibt eine allgemeine Rufbereitschaftsliste, in die man sich nach eigenem Ermessen eintragen kann. Das ist das Positive am Ehrenamt: Es gibt keine verbindliche Einsatzverpflichtung. Zeit und Einsatzaufwand kann man flexibel bestimmen. Diese sollten vereinbar mit den eigenen Lebensumständen und dem Arbeitsalltag sein und nicht zur eigenen körperlichen und psychischen Belastung führen. Wer aus persönlichen Gründen nicht einsatzbereit ist, wird von der Rufbereitschaft befreit. Nach besonders belastenden Einsätzen setze ich persönlich meine Bereitschaft für eine gewisse Zeit aus, weil ich mich selber schützen möchte. Schließlich sind wir keine Therapeuten, und die persönlichen Schicksale können einem als Mensch sehr nahe gehen. Denn auch Notfallbegleiter brauchen bei jedem Einsatz innere Kraft und Mut, die sie an die betroffenen Menschen weitergeben können. Daher darf man als Notfallbegleiter nicht zulassen, dass man selber emotional in die Schicksalsschläge anderer Menschen hinein gezogen wird.

Notfallbegleitung: Selbstschutz ist das wichtigste Gebot

Um ein Beispiel zu nennen: Mich hatte ein Brandeinsatz Ende 2018 besonders getroffen. Eine junge Frau hatte in einem Brand an einem Abend nicht nur ihre Eltern verloren, sondern ihr zuhause und ihr ganzes Hab und Gut. Noch dazu musste sie in dieser schrecklichen Nacht in einer Notunterkunft für Obdachlose übernachten. Ich musste wegen der extrem schwierigen Situation die Frau länger wie gewohnt begleiten und blieb über Nacht einige Stunden bei ihr. Das Gefühl der Ohnmacht hatte ich besonders zu spüren bekommen.

Nach diesem Einsatz habe ich für einige Monate meine Bereitschaft bewusst ausgesetzt. Bei Notfällen mit Kleinkindern halte mich auch oft bewusst zurück. Jeder Seelsorger muss seine eigenen Grenzen kennen und sich auch mal zurücknehmen können. Denn Selbstschutz ist ein wichtiges Gebot in der Notfallseelsorge. Wer selber seelisch angeschlagen ist, kann seinem Gegenüber nicht helfen. Eine gesunde Balance zwischen Empathie, Fürsorge, Geduld und Achtsamkeit ist sehr wichtig. Genau diese Haltung ist die Herausforderung in der Seelsorge.

In der Regel hat jeder muslimische Notfallbegleiter zwei bis drei aktive Einsätze im Jahr. In extremen Krisenzeiten können diese Einsätze häufiger vorkommen, wie zum Beispiel nach dem Germanwings-Absturz im März 2015. Dort wurde die muslimische Notfallbegleitung in die psychosoziale Betreuung von Angehörigen muslimischer Opfer stärker eingebunden. Auch die Flüchtlingszuzug zwischen den Jahren 2014 und 2016 führte zu einer Zunahme von Einsätzen an den sogenannten Hotspots und Notunterkünften für geflüchtete Familien.

Trauersprache ist die Muttersprache

Eine der wichtigsten Aufgaben der muslimischen Notfallbegleiter ist die Sprachvermittlung. Denn bei Todesfällen wird in der Regel innerhalb der Familie getrauert. Je größer der Familienzusammenhalt, desto schwieriger wird es außenstehenden Fremden, zu den sehr persönlichen und emotionalen Situationen der Trauer Zugang zu finden. Da kommen die Notfallbegleiter zum Einsatz. In einem fremden und auch bürokratischen System von Rettungsdiensten, Polizei und Ersthelfern können Personen mit derselben Muttersprache besser Vertrauen, Halt und nicht zuletzt richtige Informationen vermitteln als Menschen, die nicht dieselbe Sprache sprechen. Denn getrauert wird hauptsächlich in der Muttersprache. Sie ist das gemeinsame Bindeglied aller Generationen in schweren Zeiten und bietet emotionale Orientierung. Auch Trost lässt sich in Krisenzeiten besser über die Muttersprache spenden. Mit der Muttersprache kann man eben tiefere Emotionen erreichen als nur ein routiniertes „herzliches Beileid“ von einem Polizeibeamten.

Ehrenamt kann nicht alle Aufgaben übernehmen

Trotz der hohen Bereitschaft hinsichtlich der muslimischen Notfallbegleitung ist eine flächendeckende Rufbereitschaft im Ehrenamt nicht auf Dauer ausreichend. Muslime erleben einen gesellschaftlichen Wandel; die Nachfrage an Seelsorge in jedem Bereich wird immer größer. Ehrenamtliche Notfallbegleiter können nicht alle Aufgaben einer Institution übernehmen und werden nicht ständig abrufbar sein. Es gibt über 200 ausgebildete muslimische Notfallbegleiter allein in NRW sowie aktive Teams in Duisburg, Köln, Oberhausen, Solingen und in anderen Städten. Bundesweit werden sie von diversen Vereinen oder über Kirchenverbände organisiert. Allerdings sind alle ehrenamtlich tätig, und es gibt keine institutionelle Strukturierung der muslimischen Seelsorge wie in der Kirche. Moscheen und islamische Religionsgemeinschaften konnten diese Aufgaben bisher nicht übernehmen. Doch das muss sich meiner Meinung nach in Zukunft ändern, damit auch die muslimische Notfallbegleitung zum Hauptamt wird und ihren Platz in der Struktur der Notfallstelle findet.

Der Tod macht kein Unterschied zwischen den Religionen

Die Arbeit der muslimischen Notfallbegleitung kann man mit der freiwilligen Feuerwehr vergleichen. Wenn es „in der Seele brennt“ kommen die Notfallbegleiter zum Einsatz. Sie arbeiten Hand in Hand mit den Einsatzkräften vor Ort und vermitteln zwischen den Betroffenen und Helfern. Ungeachtet ihrer Religion und Weltanschauung unterstützen sich Mitmenschen einer gemeinsamen Gesellschaft in Krisenzeiten: ein Zusammenhalt, wie wir ihn zum Beispiel während der aktuellen Corona-Krise erleben. Krisen können nur dann überwunden werden, wenn in allen Bereichen zusammenhalten gehalten wird. Die Not und letztendlich der Tod macht keinen Unterschied zwischen den Religionen: Jeder Mensch braucht in schwierigen Zeiten und Stunden seelischen Beistand.