Rassismus ist auch ein Dauerthema in Deutschland. Warum Politik und Gesellschaft immer noch keine Lösung für dieses Problem gefunden haben, erklärt SPD-Bundestagsabgeordneter Helge Lindh im IslamiQ-Interview.
IslamiQ: Herr Lindh, Sie sind aktuell für Ihren Einsatz gegen antimuslimischen Rassismus häufiger im öffentlichen Diskurs. Weshalb ist Ihnen dieses Thema so wichtig?
Helge Lindh: Respekt gegenüber Menschen ist sehr wichtig. Deshalb können Rassismus und der antimuslimische Rassismus niemandem egal sein. Wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht, kann man den Rassismus überall sehen. Daher bewegt mich dieses Thema schon seit vielen Jahren. Meiner Meinung nach muss Rassismus aufmerksam beobachtet und offen debattiert werden. Es ist aber auch kein Thema, das nur mit Migration und Integration zu tun hat, denn es gibt z.B. auch viele Deutsche muslimischen Glaubens. Genau diese Verbindung mit der Integrationsdebatte ist schon stigmatisierend.
IslamiQ: Werden Sie aufgrund Ihrer Unterstützung angefeindet?
Lindh: Ja, in den letzten Jahren ist das leider zur Gewohnheit geworden, da ich die Themen ja offensiv anspreche, auch im Bundestag. Dabei versuche ich, die Perspektive derjenigen, die Rassismus erfahren, deutlich zu machen. Aus diesem Grund bin ich heftigsten Beschimpfungen ausgesetzt und erhalte Beleidigungen, Einschüchterungsversuche, Morddrohungen.
IslamiQ: Was macht das mit Ihnen?
Lindh: Ich bin da relativ abgehärtet und werte das als Motivation und Bestätigung, an meiner Haltung nichts zu ändern. Es wäre jedoch gelogen, wenn ich sagen würde, es lässt mich, meine Eltern oder Mitarbeiter*innen unberührt. Ich glaube aber, wenn die vielen Vernünftigen in diesem Land nicht schweigen, sondern auch laut werden, können wir die Stimmen der Hasser überstimmen. Das ist mein Anliegen, ich werde da in keiner Weise nachgeben.
IslamiQ: Nach den Anschlägen in Solingen und Mölln hieß es: „Nie wieder!“. Doch danach folgten die NSU-Morde. Wie bewerten Sie die Aufarbeitung dieser Anschläge aus politischer Sicht?
Lindh: Leider ist es uns als Politikern nicht gelungen, auf der Ebene der sicherheitspolitischen Aufarbeitung hinreichend zu reagieren. Die Möglichkeiten der Sicherheitsbehörden und des Verfassungsschutzes wurden nicht annähernd genug ausgeschöpft. Auch die gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung ist nicht erfolgt. Das Vorgehen der Polizei und Jurisprudenz wird nichts nützen, wenn wir den Rassismus und die Diskriminierung im Alltag nicht bekämpfen. Es braucht ein Gesamtkunstwerk des Einsatzes gegen Rassismus. Das hat also auch mit jedem selbst zu tun.
IslamiQ: Warum wurde bis heute so wenig gegen Rassismus, Rechtsextremismus und Islamfeindlichkeit in der Politik getan? Waren die Anschläge nicht Grund genug?
Lindh: ‚Die Politik‘ gibt es nicht. Wir alle sind Teil der Politik. Daher ist es wichtig, dass so viele wie möglich sich auch artikulieren. Umgekehrt müssen wir Abgeordneten begreifen, dass wir nicht einfach so vor uns hinarbeiten, sondern dass wir allen anderen Rechenschaft schuldig sind. Politik ist weit mehr als nur Parlamente.
Ich glaube, dass Rassismus und antimuslimischer Rassismus und Antisemitismus zur Realität dieses Landes gehören. Wir würden uns doch selbst betrügen, wenn wir sagen würden, dass unsere Gesellschaft rassismusfrei ist. Es gibt viele Menschen, die manifest rassistisch denken. Und es gibt immer wieder Menschen, die latent rassistisch sind. Diese Denkmuster sind weit verbreitet. Es ist nicht nur eine kleine Zahl von Neonazis. Rassismus reicht weit hinein in die Mitte der Gesellschaft. Daher ist es auch kein Wunder, dass Rassismus politisch nicht hinreichend bearbeitet wird und noch kein Masterplan gegen Rechtsextremismus in der Praxis realisiert wurde.
IslamiQ: Gilt das auch für den NSU-Fall?
Lindh: Der NSU wurde nur bedingt aufgearbeitet – zum Teil skandalöser Weise gar nicht. Die Anträge im Bundestag gegen Rassismus und Alltagsrassismus waren nicht entschieden genug und sind allzu häufig nur Anträge geblieben. Wenn wir nun einmal Rassismus haben, der die Gesamtgesellschaft betrifft, auch die Politik selbst, dann ist man nicht konsequent genug gegen diesen Umstand angegangen. Die schrecklichen Ereignisse der letzten Jahre haben eine größere Sensibilität geschaffen, aber leider erst sehr spät. Wir hätten Vieles längst begreifen müssen, nach Mölln, Solingen und dem NSU. Das ist nicht geschehen. Sogar schlimmste Taten haben nicht gereicht, um die Gesellschaft aufzuwecken.
IslamiQ: Hanau ist ein Beispiel dafür. Wie haben sie den Anschlag dort erlebt?
Lindh: Mich hat es sofort an Christchurch erinnert. Nach dem Anschlag in Neuseeland hatten viele den Eindruck, dass es hier bei uns nicht passieren könne. Aber leider hat Hanau gezeigt, dass es passieren kann. Die rassistischen Ereignisse in den letzten Jahren haben Spuren hinterlassen. Und Hanau war das Ergebnis. Leider, muss ich sagen, und das ist ganz bitter, hat mich der Anschlag in Hanau nicht wirklich überrascht. Man hat leider schon damit gerechnet. Ich war geschockt, aber andererseits habe ich es auch erwartet, befürchtet.
IslamiQ: Hat nach dem Anschlag in Hanau ein Umdenken stattgefunden?
Lindh: Ja und nein. Ich habe nach dem Anschlag gesagt, dass wir mit aller Staatsgewalt gegen so eine Tat und deren Umfeld vorgehen müssen. Wir müssen Täter und Netzwerke ermitteln. Aber sowas braucht eine gesamtgesellschaftliche Maßnahme. Wir können nicht so wie bisher weitermachen. Ich glaube schon, dass Hanau ein Weckruf war, denn immerhin gibt es nun einen Kabinettsausschuss gegen Rechtsextremismus und Rassismus. Das ist ein Novum. Viele haben das Problem erkannt, aber es hat leider sehr lange gedauert.
Umso wichtiger ist es, dass wir offensiv gegen Rassismus vorgehen. Wir müssen Foren für Menschen schaffen, die diesem Hass ausgesetzt sind. Aber diese Leistung müssen Menschen erbringen, die nicht Opfer von Rassismus sind. Wer Opfer von Rassismus ist, hat nicht primär die Aufgabe, sich auch noch um die Bekämpfung von Rassismus zu kümmern.
Wir haben Rassismus zu oft und zu abstrakt diskutiert. Man hat nicht begriffen, wie ernst die Lage ist und wie groß das Problem ist. Man hat nicht begriffen, dass Rassismus eine Gesellschaft kaputt macht. Die Stimmen der betroffenen Menschen müssen sehr eindringlich Raum finden. Das ist bis jetzt nicht geschehen.
IslamiQ: Die Themen Rassismus und Islamfeindlichkeit werden uns wohl noch lange beschäftigen. Wie kann dieses strukturelle Problem gelöst werden? Ist eine Lösung überhaupt möglich?
Lindh: Rassismus muss klar beim Namen genannt und ungeschminkt beschrieben werden. Auch die Opfer müssen benannt werden. Dafür müssen sich an erster Stelle u.a. die Gesetzgebung und die Strafverfolgung ändern. Gefährdete Einrichtungen müssen geschützt werden und die rechte Szene besser beobachtet werden, um bestmöglich gegen sie handeln zu können.
Zudem müssen wir es schaffen, dass die Menschen ins Gespräch kommen. Es reicht nicht, wenn wir zweimal im Jahr einen interreligiösen Dialog führen. Vor allem müssen Opfer und Betroffene zu Wort kommen. Es ist ganz schwierig, auch nur latent vorurteilsbehaftete Menschen mit Opfern in Gespräch kommen zu lassen, aber gerade das ist notwendig.
Wir dürfen nach einem Anschlag nicht wegschauen und zur Routine zurückkehren, wir müssen unmittelbar danach anfangen, etwas zu ändern. Anschließend, nicht abschließend, denn die Aufgabe erledigt sich nicht, müssen Sanktionen gegen Hass und Hetze im Netz eingeführt werden, da wir derzeit dort eine Ungehemmtheit der Erniedrigung, Entwürdigung und des Hasses erleben.
Das Interview basiert auf der #IslamiQdiskutiert-Veranstaltung „Rassismus – von Hanau bis Solingen“ am 5.6.2020.