Orient vs. Okzident, Osten vs. Westen. So lässt sich – stark verkürzt – das Verständnis vieler Menschen zusammenfassen. Warum es sich hierbei um eine Konstruktion handelt und wie es heute aussieht, besprechen wir mit dem Autor und Übersetzer Stefan Weidner.
IslamiQ: Sie übersetzen Literaturen „des Orients“. Gibt es „den Orient“ überhaupt? Wo beginnt er, wo hört er auf?
Stefan Weidner: Ich glaube, der Orient ist grenzenlos. Denn wir finden ihn nicht in der Geographie, sondern nur in unseren Köpfen. Ich nenne ihn einen „polykulturellen Imaginationsraum“, und zwar mit beträchtlichem utopischem Potential. So wichtig es ist, Klischees im Orientbild zu erkennen und diese Imagination nicht mit der Realität zu verwechseln, so wichtig scheint mir auch, die möglichen positiven und schönen Aspekte im Bild vom Orient nicht einfach über Bord zu werfen.
IslamiQ: Welche Rolle spielt hier der „Orientalismus“, der ja ganz deutlich ein Bild vom Orient formuliert?
Weidner: Orientalismus hat zwei Ausprägungen: künstlerisch, literarisch und spirituellen oder politisch-gesellschaftlich. Letzterer läuft heute, wie auch früher, auf eine rassistische Abwertung dessen hinaus, was als Orient, Orientalisch, Orientale angesehen wird. Dieser Rassismus ist rigoros aufzudecken und zu bekämpfen. Der künstlerische Orientalismus hingegen ist heute, anders als früher, eine spielerische, ironische Bewegung, die unser Orientbild im Kopf aufgreift und dessen kritisches, aber auch ästhetisches und spirituelles Potential zur Geltung bringt. Das reicht von Künstlerinnen wie Shirin Neshat bis zu Autoren wie Stanislaw Strasburger.
Da der Orient kein Gegenstand, keine Realität ist, sondern eine Konstruktion und Imagination, also ein Bild im Kopf, ist der Orientalismus eine Bewegung, die dieses Bild schafft, damit umgeht, damit spielt, es braucht oder missbraucht. Allenfalls hilft er, dieses Bild zu verstehen, zu nutzen, zu brauchen oder zu missbrauchen.
IslamiQ: Welche Rolle spielt hier die Orientalistik?
Weidner: Im Unterschied zum Orientalismus hilft die akademische Orientalistik in einem oberflächlichen Sinn beim Verständnis von Ländern, die früher als orientalisch bezeichnet wurden, zum Beispiel, indem sie deren Sprachen und Literaturen erforscht und erschließt. Jedoch kann freilich auch dieses Wissen missbraucht werden, um ein politisch opportunes Orientbild zu konstruieren, wie es der Kolonialismus getan hat.
IslamiQ: Wie steht es um das gegenseitige Wissen über den Anderen im Vergleich von Orient und Okzident?
Weidner: Ebenso wie der Orient ist auch der Okzident, der vielbeschworene ‚Westen‘, ein Bild im Kopf, eine mehr oder weniger bewusste Konstruktion, wie ich in meinem Buch „Jenseits des Westens“ ausführlich dargelegt habe — wenn auch ein Bild von großer Mächtigkeit, mit realen politischen Auswirkungen.
Wenn Sie aber von gegenseitigem Wissen zwischen, sagen wir, westeuropäischen Ländern und solchen im Nahen und Mittleren Osten reden wollen, so scheint mir, dass die Menschen in diesen Ländern sehr viel über Europa oder die USA wissen und wissen wollen, dass aber andererseits nur bestimmte Menschen aus Europa oder den USA etwas über diese Länder, ihre Geschichte und Kultur, wissen wollen.
Darin tut sich ein Machtgefälle kund. Der „Westen“ konnte es sich eine Zeitlang leisten, die anderen zu ignorieren. Der Osten konnte es früher einmal, seit dem Kolonialismus aber nicht mehr. Inzwischen dämmert den Europäern freilich, dass ihre Perspektive auf die Welt nicht die einzige ist.
IslamiQ: Sie haben vor mehr als zehn Jahren ein Buch mit dem Titel „Manual für den Kampf der Kulturen“ geschrieben. Dort steht: „Selbst wenn man die kulturellen Unterschiede nicht betonen will: Ohne Kampf gibt es keine Verschmelzung.“ Das hört sich ziemlich drastisch an.
Weidner: Ich wünschte mir, dass es anders wäre, und vielleicht können wir das Wort „Kampf“ hier auch metaphorisch lesen, im Sinn von Auseinandersetzung, Streitkultur. Aber ich denke, die letzten Jahre, oder eigentlich die Zeit seit dem 11.9.2001, hat gezeigt, was ich meine. Das Interesse, die Sorge, die Auseinandersetzung zum Beispiel mit dem Islam hat in Europa gesamtgesellschaftlich erst mit diesen Konflikten begonnen.
IslamiQ: Wie sieht es in Deutschland aus?
Weidner: Heute ist Deutschland bunter, internationaler, kosmopolitischer als in den Neunziger Jahren. Von allein und ohne Druck verschmelzt nicht viel, so sehr wir das bedauern können. Menschen und Gesellschaften sind träge. Sie bewegen sich erst, wenn man sie anstößt, und leider oft erst, wenn man sie sehr fest anstößt.
Das Interview führte Ali Mete.