Corona-Krise

„Wir müssen die Gemeindearbeit nach Krisenzeiten neu definieren“

Die Corona-Pandemie hat das muslimische Gemeindeleben verändert. Was das für die Angebote und Strukturen der Moscheegemeinden bedeutet, erklären der Islamrats-Vorsitzende Burhan Kesici und die Bildungsbeauftragte der Schura Hamburg Özlem Nas im IslamiQ-Interview.

27
06
2020
Burhan Kesici und Özlem Nas sprechen über das Gemeindeleben in Corona-Zeiten © AA/Privat, bearbeitet by iQ.
Burhan Kesici und Özlem Nas sprechen über das Gemeindeleben in Corona-Zeiten © AA/Privat, bearbeitet by iQ.

IslamiQ: Herr Kesici, die Corona-Pandemie hat die Moscheegemeinden unvorbereitet getroffen. In dieser Krisenzeit haben Sie das Amt des KRM-Sprechers übernommen. Wie haben Sie die ersten Wochen wahrgenommen?

Burhan Kesici: Das war für mich sowohl körperlich als auch psychisch eine schwierige Zeit. Die Corona-Pandemie haben wir als Gesellschaft sehr schnell und abrupt zu spüren bekommen. Es war sehr schwer abzuschätzen, welche Auswirkungen das Virus auf das gesellschaftliche Leben haben würde. Noch vor den Maßnahmen der Bundesregierung haben wir als islamische Religionsgemeinschaft sofort alle Aktivitäten in der Moschee ausgesetzt, auch wenn es einige Diskussionen diesbezüglich gegeben hat. Denn zum ersten Mal in der Geschichte der Muslime in Deutschland wurde entschieden, die Moscheen für eine unbestimmte Zeit zu schließen. Es war natürlich eine große Herausforderung, aber ich bin froh, dass die muslimische Gemeinschaft es sehr verständnisvoll aufgenommen hat.

IslamiQ: Welche Diskussionen gab es denn unter Muslimen?

Kesici: Es ging um die Frage, wann und wie wir mit den ersten Maßnahmen beginnen sollen. Einige waren der Meinung, wir sollten die Moscheen sofort schließen, andere wiederum wollten abwarten. Nachdem wir die Gemeinschaftsgebete in den Moscheen ausgesetzt haben, haben wir uns mit der Frage beschäftigt, wann und unter welchen Voraussetzungen die Moscheen wieder geöffnet werden können. Als dann mit den ersten Lockerungen die Geschäfte öffneten, haben wir im KRM beschlossen, die Moscheen ab dem 9. Mai wieder schrittweise und unter Auflagen zu öffnen.

Die Moscheegemeinden haben sich insgesamt sehr gut an die Vorgaben gehalten und sind sensibel mit der Situation umgegangen. Das wurde von der Öffentlichkeit und Teilen der Politik auch so wahrgenommen und anerkannt. Einige Politiker haben sich aber kontraproduktiv geäußert und waren misstrauisch. So haben wir mitbekommen, dass in einigen Regionen Moscheen seitens der Polizei und des Ordnungsamts kontrolliert wurden, was für mich ein Beweis von Misstrauen ist. 

IslamiQ: Frau Nas, Sie sind Vorstandsmitglied der SCHURA Hamburg und dort für die Bildungsarbeit zuständig. Nun besteht ein wesentlicher Teil der Moscheearbeit aus Bildungsangeboten. Wie hat Corona diese Angebote beeinflusst?

Özlem Nas: Es ist wichtig zu betonen, dass die Corona-Krise alles beeinflusst hat. Auch im Bildungsbereich haben wir gemerkt, dass es schnell eine Umorientierung geben musste. Die Erfahrung zeigt, dass viele Gemeinden sehr flexibel gehandelt haben und sich Mühe gegeben haben, nicht nur das Bildungsangebot, sondern auch das Angebot für die Jugendlichen so zu gestalten, dass vieles einfach online lief. Auch wenn die Digitalisierung teilweise sehr überfordernd war und in einigen Gemeinden besser als in anderen.

Die digitalen pädagogischen Angebote werden heute weiterhin genutzt, da die Moscheen noch nicht vollständig im normalen Betrieb laufen. Der Nachteil der Digitalisierung ist, dass nicht alle Gemeindemitglieder erreicht werden können. Denn nicht jeder hat die Möglichkeit und das Wissen, mit den digitalen Medien umzugehen und sie zu nutzen.

IslamiQ: Herr Kesici, der Islamrat hat kurze Zeit nach den Moscheeschließungen in einer Pressemitteilung auf die zu erwartenden finanziellen Engpässe aufmerksam gemacht. Nun sind einige Monate vergangen. Wie stehen die Moscheen heute finanziell da?

Kesici: Aktuell haben die Moscheegemeinden die Corona-Krise finanziell recht gut überstanden. Es gibt sicherlich einige kleinere Gemeinden, die darunter leiden werden. Doch musste keine Gemeinde aufgrund fehlender Einnahmen ihre Türen schließen.

Aufgrund der Corona-Krise erlebten Muslime einen ungewöhnlichen Ramadan. Gemeinschaftsgebete und gemeinsame Iftar-Abende blieben aus. Somit fehlte den Moscheegemeinden eine wichtige Einnahmequelle. Aus diesem Grund wollten wir auf finanzielle Engpässe aufmerksam machen. Insgesamt müssen die Gemeinden sich professionalisieren und Möglichkeiten der Online-Spenden ausbauen.

Nas: In Hamburg haben wir eine Spendenaktion für unsere Moscheegemeinden gestartet, da viele kleine Gemeinden sehr hohe Mieten zahlen müssen. Diese werden größtenteils durch Spenden finanziert, die sie meistens beim Freitagsgebet einsammeln. Da diese aber weggefallen sind, gab es dementsprechend auch finanzielle Schwierigkeiten. Die vorhandenen Defizite müssen überarbeitet werden, um bei solchen Krisen unabhängiger agieren zu können. Das ist ein Thema, was uns auch noch weit nach Corona beschäftigen wird.

IslamiQ: Frau Nas, im Ramadan hat IslamiQ das Hashtag #MissMyMosque ins Leben gerufen. Hat Corona dazu beigetragen, dass Muslime oder zumindest ein Teil von ihnen sich der Bedeutung der Moscheen bewusst geworden ist?

Nas: Das Fernbleiben von der Moschee im Ramadan hat viele Menschen sehr hart getroffen. Es war nicht die Normalität im Ramadan, die sie gewohnt waren. Die Corona-Krise führte zu einer Restrukturierung des religiösen Lebens, vor allem bei der älteren Generation. Die bekannte Gemeinschaft fiel weg. Vielen wurde verdeutlicht, dass nichts selbstverständlich ist und sie für vieles dankbar sein müssen. Die aktuelle Situation hat uns gezeigt, dass es Krisen gibt und geben wird. Wir müssen uns darauf einstellen, in solchen Situationen von der Normalität abzuweichen.

IslamiQ. Denken Sie, Herr Kesici, dass nach der Pandemie die Moscheen einen Zulauf bekommen haben? Hat sich die Beziehung der Muslime zur Moschee geändert?  

Kesici: Das ist schwer abzuschätzen. Ich denke wir haben in der Corona-Krise gesehen, dass es wichtig ist, den Kontakt zu den Gemeindemitgliedern noch stärker zu pflegen, sie seelsorgerisch zu unterstützen und sie noch mehr in das Gemeindeleben zu involvieren. Vielleicht können wir die Corona-Krise zum Anlass nehmen, unsere Kontakte besser und nachhaltiger zu pflegen.

IslamiQ: In dutzenden deutschen und europäischen Städten wurde während der Corona-Pandemie, vor allem im Ramadan, öffentlich zum Gebet gerufen. Ist das ein Corona-Phänomen oder wird es weiterhin bleiben? 

Kesici: Der öffentliche Gebetsruf war ein Corona-Phänomen. Es war eine sehr schöne Aktion, weil es vielen Muslimen das Gefühl gegeben hat, angekommen und akzeptiert worden zu sein. Doch leider hat uns die Situation auch gezeigt, dass Behörden sehr unterschiedlich mit den Gebetsrufen umgegangen sind. So wurden in Berlin keine Gebetsrufe gestattet. Die ganze Diskussion um öffentliche Gebetsrufe hat zwar gezeigt, dass Muslime angekommen sind, dass aber ihr Angekommen-sein bei einigen noch nicht angekommen ist.

Nas: In Hamburg wurden öffentliche Gebetsrufe nicht gestattet. Dies hat zur Folge, dass die öffentliche Sichtbarkeit und Hörbarkeit der Muslime immer noch problematisch ist. Viele Moscheegemeinden in Deutschland verzichten bewusst auf den Gebetsruf, weil sie nicht provozieren wollen. Dass Behörden in Zeiten der Corona-Krise solche Anträge nicht genehmigen, führt zu falschen Signalen.

IslamiQ: Eine persönliche Frage zum Schluss: Was haben Sie persönlich von der Corona-Zeit mitgenommen?

Kesici: Ich habe eine lange Zeit gebraucht, bis ich mich dran gewöhnt habe, nicht mehr so oft reisen zu können. Wenn man einen getakteten Zeitplan hat und dann plötzlich nur noch zu Hause sitzt, ist es schon eine sehr ungewohnte Situation. Am Anfang war es sehr problematisch, weil noch viele wichtige Termine anstanden. Ich habe gemerkt, wie wichtig die Gemeinde bzw. die Gemeinschaft ist. Für mich stellte sich dann die Frage, wie wir nach der Corona-Pandemie, die ja noch nicht beendet ist, das Gemeindeleben besser gestalten können.

Nas: Mir ist die Sinnhaftigkeit der Entschleunigung klar geworden. Diese neue Art von Entschleunigung hat uns die Möglichkeit gegeben, uns intensiver um andere Dinge zu kümmern oder uns darauf zu konzentrieren. Ich konnte mich persönlich mehr auf den Ramadan konzentrieren. Aber auch Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen, war eine neue Situation. Das Einkaufen erschien plötzlich nicht mehr so selbstverständlich. Das Wort Normalität hat wieder einen ganz anderen Sinn und eine neue Bedeutung gewonnen.

Das Interview basiert auf der #Islamiqdiskutiert-Veranstaltung „Muslime in Krisenzeiten – Auswirkungen der Pandemie: Wie verändert die Corona-Krise das muslimische Gemeindeleben?“

Leserkommentare

Dilaver Çelik sagt:
Öffentliche Gebetsrufe können in (auf die Lärmschutzgrenze) reduzierter Lautstärke wieder aufgenommen werden, was im Rahmen der Religionsfreiheit und Lärmschutz zulässig und auch nicht genehmigungspflichtig ist. Dann provoziert es niemanden. Es ist unverständlich, dass Moscheen heute noch von Vorständen verwaltet werden, welche die Rechte von Muslimen in Deutschland nicht kennen und immer noch in einer Art Gastarbeiter-Mentalität stecken geblieben sind. Dieses ständige "Sich-klein-machen" zeugt von mangelndem Selbstbewusstsein, was langfristig nicht gut ist. Andere Religionsgemeinschaften von Minderheitenreligionen sind da viel weiter.
28.06.20
16:16