Naciye Kamçılı-Yıldız ist Lehrerin und islamische Religionspädagogin. Seit 2015 arbeitet sie als abgeordnete Lehrkraft an der Universität Paderborn. Im IslamiQ-Interview spricht sie über die religiöse Vielfalt in Kindergärten und ihre Anforderungen.
IslamiQ: Religiöse Vielfalt in der Kindertagesstätte ist eine Bereicherung, kann aber auch eine Herausforderung sein. Welche Herausforderungen sind das?
Naciye Kamçılı-Yıldız: Lassen Sie zunächst einmal festhalten, dass die KiTas die Einrichtung sind, wo die ganze Gesellschaft aufeinandertrifft. Je nachdem, ob es sich um eine kommunale oder kirchliche Einrichtung oder eine Elterninitiative in privater Trägerschaft handelt, kann sich die kulturelle, religiöse oder soziale schichtgehörige Zusammensetzung der Kinder unterscheiden.
Kinder mit den unterschiedlichsten Hintergründen erleben in der KiTa in der Regel das erste Mal, dass manche Menschen sich anders kleiden, andere auf bestimmte Lebensmittel verzichten, verschiedene Sprachen sprechen oder andere Gebräuche haben. Sie begegnen Dingen, die sie in ihrer Familie oder ihrem bisherigen kulturellen Umfeld bislang nicht kannten.
Ob diese de facto real existierende Pluralität in der Einrichtung als Herausforderung oder als Bereicherung angenommen wird, hängt von vielfältigen Faktoren ab. Das ist u. a. die Offenheit der Erziehenden, des Konzeptes der Einrichtung in Bezug auf die religiöse Vielfalt, aber auch der Eltern, die ihre Kinder in dieser Einrichtung angemeldet haben. Manchmal kann eine einzige Familie so positive Impulse für die Arbeit vor Ort geben, aber auch durch ihre Verschlossenheit gute Ansätze zunichtemachen. Das gleiche gilt aber auch für Erziehende oder auch Träger der Einrichtung.
IslamiQ: Gibt es Unterschiede zwischen den Erwartungen muslimischer und nichtmuslimischer Eltern?
Kamçılı-Yıldız: Alle Eltern, die eine Kindertageseinrichtung für ihr Kind suchen, möchten sicherlich die bestmögliche Förderung und Begleitung ihres Kindes in all seinen Entwicklungsbereichen, wie etwa der sensorischen, motorischen, kognitiven oder sprachlichen Entwicklung. Tatsächlich hat die Deutsche Islam Konferenz (DIK) im Jahre die Ergebnisse einer in Auftrag gegebenen Studie veröffentlicht, in der sie muslimische Eltern nach ihren Prioritäten der Ausstattungsmerkmale einer Einrichtung befragt haben. Die Studie zeigt, dass 96% der befragten muslimischen und alevitischen Eltern die Sprachförderung als besonders wichtig erachten, ebenso der Kontakt zu Kindern ohne Migrationshintergrund – auch mit 96%. Interessant ist auch, dass 84% die Einhaltung der muslimischen Speisegebote und 61% sich interreligiöse Angebote in der Einrichtung wünschen. Diese Prioritäten verdeutlichen, dass muslimische Eltern sehr wohl eine interreligiöse Ausrichtung der KiTa begrüßen.
IslamiQ: Gibt es Unterschiede zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Eltern in Bezug auf die religiöse Erziehung ihrer Kinder in Kindengärten?
Kamçılı-Yıldız: Derzeit gibt es noch wenige Studien, die sich mit der religiösen Erziehung in muslimischen Familien auseinandersetzen. Dieser Bereich ist bislang wissenschaftlich noch wenig erforscht. Grundsätzlich lässt sich aber festhalten, dass in muslimischen Familien die religiöse Erziehung eine größere Rolle spielt als in der Herkunftskultur oder der Mehrheitsgesellschaft. Als Beispiel lässt sich die noch recht aktuelle Forschungsarbeit von Ayşe Uygun-Altunbaş anführen, die sich mit religiösen Erziehungsvorstellungen von aus der Türkei stammenden muslimischen Familien analysiert hat. Dort arbeitet sie heraus, dass es den interviewten Eltern grundsätzlich wichtig ist, dass ihre Kinder die islamischen Glaubensgrundlagen, die rituelle Praxis erlernen und ethisch-moralische Grundauffassungen tragen. Allerdings unterscheiden sie sich dabei in ihren Erziehungsstilen: Während manche Eltern z. B. den rituellen Aspekt in ihrer religiösen häuslichen Erziehung betonen, legen andere Eltern mehr Wert auf die Entwicklung eines guten Charakters.
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass wir weitere Studien dieser Art brauchen, die mit einer größeren Stichprobe arbeiten und Muslime mit unterschiedlichen Migrationshintergründen befragen, um auf dieser Grundlage den Bedarf für die religiöse Erziehung in der Familie unterstützende Angebote aufzubauen.
IslamiQ: Wie werden die Kinder in Kindergärten religiös sensibilisiert?
Kamçılı-Yıldız: Die Frage lässt sich pauschal nicht beantworten: Festzuhalten ist zunächst, dass in den Bildungsgrundsätzen vieler Bundesländer festgehalten steht, dass religiöse Bildung und ethische Orientierung wesentliche Aspekte der frühkindlichen Bildung sind. Bildungsgrundsätze für Nordrhein-Westfalen sehen beispielsweise vor, dass Kindern die Möglichkeit gegeben werden soll, unterschiedliche Formen von Weltanschauungen, Glaube und Religion zu erfahren oder Feste und Rituale aus dem eigenen Kulturkreis oder anderen Kulturkreisen zu entdecken.
In der Realität entscheidet oft die Trägerschaft, inwieweit religiöse Angebote in einer Einrichtung gemacht werden. Eine Kita beispielsweise in christlicher Trägerschaft hat ihren Ausgangspunkt im christlichen Menschenbild und hat in der Regel das vorrangige Ziel, mit ihrer pädagogischen Arbeit die Kinder mit dem christlichen Glauben und der christlichen Lebenspraxis vertraut zu machen. Aufgrund der religiösen Nähe entscheiden sich häufig muslimische Eltern für so eine Einrichtung nach dem Motto „Lieber eine Religion als gar keine!“
Kommunale Einrichtungen hingegen stellen eine weltanschaulich neutrale Vermittlung von Werten und Verhaltensweisen in den Vordergrund. Wenn religiöse Feste gefeiert werden, werden die religiösen Wurzeln oft ausgeblendet und das Fest säkularisiert. Sicherlich kennen Sie auch Beispiele, wo eine St.-Martin-Feier „Lichterfest“ oder Ostern als „Frühlingsfest“ gefeiert wird.
Inwieweit die gelebten und mitgebrachten religiösen Traditionen der Kinder auch in der Einrichtung von Bedeutung sind, ist relativ unterschiedlich. Es lässt sich aber durchaus ein Trend verzeichnen, dass in vielen kommunalen wie kirchlichen Einrichtungen unterschiedliche religiöse oder kulturelle Traditionen immer mehr eine Rolle spielen. In Bezug auf den Islam kann das der Ramadan, die beiden Feste, manchmal auch der Besuch einer Moschee sein.
IslamiQ: Inwieweit wird auf die Ernährung muslimischer Kinder in Kindergärten geachtet?
Bei dem Anmeldegespräch eines Kindes in einer Einrichtung werden die Eltern häufig nach gesundheitlichen Aspekten, aber auch auf die Ernährung angesprochen. Die Kindergärten gehen mit dem Essensagebot recht unterschiedlich um: Es gibt viele Kindergärten, die konzeptionell vegetarisch sind, manche bieten Mahlzeiten mit Schweinefleisch, manche aber auch nur aus Rind- und Geflügelfleisch an.
Beim Umgang mit Speisevorschriften setzen muslimische Eltern auch unterschiedliche Prioritäten: Während beispielsweise die eine muslimische Familie nur vegetarische Gerichte bevorzugt oder ihren eigenen Halal-Kriterien folgt, kann eine andere muslimische Familie Speisegebote ungeachtet lassen. So können auch Gummi-Bärchen mit Schweinegelatine für die eine Familie ein Problem darstellen, für die andere aber wiederum nicht. Wichtig ist hierbei, dass die Angebote der Einrichtung den muslimischen Eltern bekannt sind und mit den Erziehenden Abmachungen getroffen werden, die im Kita-Alltag beachtet werden sollen.
IslamiQ: Denken Sie, die Erziehenden sind heutzutage auf die Vielfalt in den Kindergärten vorbereitet?
Kamçılı-Yıldız: In den letzten Jahren hat sich in Bezug auf die interreligiöse Bildung in den Kindergärten immens viel getan. Nach meinem subjektiven Gefühl zu urteilen, spielt das interreligiöse Lernen in der Erzieherausbildung eine immer größere Rolle. Auch viele Tageseinrichtungen nehmen mittlerweile an entsprechenden Fortbildungen als Team teil, wobei sie sich entweder nur über den Islam informieren möchten oder auch planen, manche Angebote interreligiös zu gestalten.
Besonders erfreulich ist, dass die beiden großen christlichen Konfessionen eine größere Öffnung in ihren Einrichtungen begrüßen. Dieser Trend, entsprechende interreligiöse Angebote für alle Kinder zu machen, um ihnen eine vorurteilsfreie und offene Begegnung in der KiTa zu ermöglichen, wurde nach meiner persönlichen Einschätzung gerade nach dem großen Flüchtlingszuzug 2015 verstärkt.
Allerdings ist es allein mit Fortbildungen noch lange nicht getan: Erziehende sind Praktiker und benötigen Materialien, die sie effektiv im Alltag einsetzen können. Mittlerweile gibt es einige Verlage, die pädagogisch sinnvolle Materialien für den KiTa-Bereich herausgeben. Die Bandbreite reicht hierbei von Kamishibai-Geschichten, Gestaltung von interreligiösen Festen und Liedern hin zu Prophetengeschichten mit Legematerialien.
IslamiQ: Was, denken Sie, sollte sich allgemein in den Kitas ändern?
Kamçılı-Yıldız: Langfristig würde ich mir wünschen, dass die Sensibilisierung der Erziehenden zum Umgang mit religiöser und kultureller Vielfalt vor dem Hintergrund der immer pluraler werdenden Gesellschaft eine größere Priorität in der Erzieherausbildung bekommen sollte. Wünschenswert wäre auch die Entwicklung weiterer praxisnaher Materialien, wo auch muslimische Pädagogen sowie Wissenschaftlern Ansätze zum interreligiösen Lernen mitkonzipieren und zu einem Perspektivenwechsel zum Umgang mit religiöser Vielfalt und Differenz in der Gesellschaft beitragen. Bekanntlich prägen uns frühkindliche Erfahrungen stärker und begleiten uns oft ein Leben lang.