Berlin

Kopftuchverbot gekippt: Muslimin gewinnt Rechtsstreit

Das Land Berlin kann muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch nicht unter Berufung auf sein Neutralitätsgesetz ablehnen. Das Bundesarbeitsgericht wies eine Revisionsklage ab.

27
08
2020
Lehrerin mit Kopftuch © Perspektif, bearbeitet by iQ.
Musliminnen © Perspektif, bearbeitet by iQ.

Das im Berliner Neutralitätsgesetz verankerte pauschale Kopftuchverbot für Lehrerinnen verstößt nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts gegen die Verfassung. Das Gericht wies am Donnerstag nach Angaben einer Sprecherin die Revision des Landes Berlin gegen ein Urteil des Landesarbeitsgerichts zurück. Dieses hatte einer muslimischen Lehrerin im November 2018 rund 5159 Euro Entschädigung zugesprochen, weil sie wegen ihres Kopftuches nicht in den Schuldienst eingestellt worden war.

Die Frau sei wegen ihrer Religion diskriminiert worden, entschied nun das Bundesarbeitsgericht. Der Paragraf 2 im Neutralitätsgesetz, der Pädagogen an allgemeinbildenden Berliner Schulen nicht nur das Tragen eines Kopftuchs, sondern auch anderer religiöser Kleidungsstücke und Symbole wie Kreuz oder Kippa untersagt, müsse verfassungskonform ausgestaltet werden.

Nach Einschätzung der Erfurter Richter sei ein generelles, präventives Verbot zum Erhalt des Schulfriedens nicht rechtens, erläuterte die Sprecherin. Vielmehr müssten konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Schulfriedens vorliegen. Die bisherige Regelung verletze die Religionsfreiheit der Lehrer. Mit seiner Entscheidung liegt das Bundesarbeitsgericht auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts. Dieses hatte schon 2015 konkrete Gefahren für den Schulfrieden als Voraussetzung für ein allgemeines Verbot religiöser Symbole an Schulen genannt.

Das Landesarbeitsgericht hatte bei seinem Urteil 2018 erklärt, das Neutralitätsgesetz sei verfassungskonform auslegbar. Im konkreten Einzelfall sei allerdings keine konkrete Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität durch das Kopftuch erkennbar gewesen. Der Lehrerin, die sich wegen ihrer Religion diskriminiert sah, gab das Gericht daher Recht und sprach ihr eine Entschädigung in Höhe eines 1,5-fachen Bruttomonatsverdienstes zu. Sie hoffte vor dem Bundesarbeitsgericht nun auf eine höhere Summe, was das BAG aber ablehnte.

Konkret handelt es sich um eine Informatikerin, die sich als sogenannte Quereinsteigerin für eine Stelle in einer Sekundarschule, einem Gymnasium oder einer Berufsschule beworben hatte. Für die Berufsschule, für die das Neutralitätsgesetz im Unterschied zu allgemeinbildenden Schulen nicht gilt, wurde die Klägerin mit Verweis auf andere, besser geeignete Bewerber abgelehnt. Für die anderen Schultypen erhielt sie kein Angebot.

In den vergangenen Jahren hatten mehrere Urteile von Arbeitsgerichten in Berlin Zweifel am Neutralitätsgesetz aufkommen lassen. Aktuell ist laut Bildungsverwaltung noch ein weiteres Verfahren wegen mutmaßlicher Diskriminierung einer muslimischen Lehrerin anhängig. (dpa, iQ)

Leserkommentare

Johannes Disch sagt:
Die SPD erwägt eine Verfassungsbeschwerde und den Gang zum Europäischen Gerichtshof. Das ist richtig so, damit über dieses Gesetz, das seit Jahren ein Zankapfel ist, endlich ein für allemal Klarheit herrscht.
29.08.20
19:53
Johannes Disch sagt:
Das Urteil ist bedauerlich. Auch das Bundesverfassungsgericht lag 2015 mit seiner Entscheidung nicht richtig, dass eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens erkennbar sein muss, um ein Kopftuch bei einer Lehrerin zu verbieten. Solche Urteile sind darin begründet, dass viele in Deutschland noch immer nicht begreifen, dass das Kopftuch eben mehr ist als nur ein Stück Stoff. Es steht für einen konservativ-reaktionären Islam. Es steht für Abgrenzung. Es steht für ein diskriminierendes Frauenbild. Dabei ist es völlig unerheblich, ob die individuelle Trägerin dieses Weltbild nun teilt oder nicht. Auch mit der Religionsfreiheit ist für das Kopftuch nicht zu argumentieren. Das Kopftuch ist keine religiöse Pflicht. Also fällt es auch nicht unter Religionsfreiheit. Es ist zu hoffen, dass die SPD mit ihrer Verfassungsbeschwerde Erfolg haben wird. Wenn nicht, dann sollte die SPD bis vor den Europäischen Gerichtshof ziehen, um endlich ein für allemal Klarheit zu bekommen über das lästige Dauerthema Kopftuch.
30.08.20
11:24
Ute Fabel sagt:
@Johannes Disch: „Das Berliner Neutralitätsgesetz ist ein Beispiel für Borniertheit und politischen Dilettantismus. In der Schule wird Pluralität vermittelt“ Wenn sich ein Lehrer für einen Salafistenbart mit dem typischen abrasierten Oberlippenbereich entscheidet, um sich damit mit Stolz zur saudischen Staatsreligion des Wahabismus zu bekennen, wäre dass dann auch ein wertvoller Beitrag für die Vielfalt und Eltern, die sich darüber beklagen, engstirnig und intolerant? Oder wie wäre es mit AfD-Ansteckern und PEGIDA-Shirts bei Pädagogen? Rechtspopulisten stellen ein großes Wählersegment und damit einen Teil Deutschlands dar. Wie die Islamverbände jammern auch sie immer über eine vermeintliche politische Verfolgung, der sie ausgesetzt seien.
30.08.20
13:26
Kafira sagt:
Liebe Leser " Muslimin gewinnt " Ech ? hat sie wirklich gewonnen? Den erwünschten Job hat sie nicht bekommen. Sie steht auf der Strasse - selbst Schuld, das gönne ich ihr. Alle Personal- Leier Deutschlands kenn jetzt ihren Namen. Kein Personalleiter ist darauf erpicht eine Querulantin einzustellen Und dann noch Muslim " Musel? nein danke. " Und dann noch mit KopftuchFobie? Nicht einmal ohne Kopftuch nimmt sie jemand denn sie könnte ja jederzeit wieder "mit " auftauchen . Hoffentlich bekommt sie nicht noch Sozialauskehrung und fällt der Deutschen arbeitenden Gemeinschaft zu Last. " Muslim gewinn " ? maybe not! Kafira
31.08.20
19:05
Johannes Disch sagt:
@Ute Fabel Ich finde das Urteil ja auch nicht in Ordnung. Es liegt aber nun mal eben auf Linie der Karlsruher Rechtsprechung, das ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrerinnen 2015 als verfassungswidrig deklariert hat. Und somit verstößt das Berliner Neutralitätsgesetz in seiner aktuellen Form nun mal gegen unsere Verfassung. Vielleicht hat die Verfassungsbeschwerde des Landes Berlin ja Erfolg. Warten wir einfach mal ab.
01.09.20
12:23
Johannes Disch sagt:
@Ute Fabel (30.08.20, 13:26) Sie argumentieren-- wie immer-- mit Extrembeispielen. Natürlich ist Pluralismus nicht grenzenlos. Verfassungsfeindliche Symbole fallen natürlich nicht unter Pluralismus. Wobei noch zu klären wäre, was ein "Salafistenbart" ist.
01.09.20
16:25
grege sagt:
Wie ich schon mehr anmerkte, liegt das Problem in Deutschland darin bergründet, dass Gerichte Pauschalurteile zum Kopftuch ablehnen und immer auf den Einzelfall abstellen. Das erschwert die Handhabung für die betroffenen Parteien, da jeder Streit zwangsläufig auf eine juristische Auseinandersetzung hinausläuft, bei der die gegenseitigen Interessen gegeneinander abgewogen werden muss. Die Fälle sind dabei so komplex, da selbst juristische Experten uneins sind. Besteht überhaupt die Möglichkeit, dass das Bundesarbeitsgericht vom EuGH überstimmt werden kann? Ich habe irgendwo gelesen, dass diese Möglichkeit nicht gegeben ist?
01.09.20
20:36
Ute Fabel sagt:
@ Johannes Disch. "Die Karlsruher Rechtsprechung hat ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrerinnen 2015 als verfassungswidrig deklariert" Das stimmt so nicht! Es wurde ein Schulgesetz aus NRW verfassungsrechtlich geprüft, das ausdrücklich zur Vermittlung christlicher Werte in öffentlichen Schulen anhielt. In diesem Zusammenhang wurde ein pauschales Kopftuchverbot - durchaus verständlich - diskriminierend und damit verfassungswidrig betrachtet. In Österreich hat sich gezeigt (Karfreitagsverfahren), dass innerstaatliche Gerichte Fragen mit Religionsbezog scheinbar als heiße Kartoffeln betrachten und ihnen erst Urteile europäischer Gerichte den nötigen Mut gegeben, sich klar zu positionieren. Der Europäische Gerichthof für Menschenrecht (EGMR) in Straßburg hat in den Urteilen Dogru und Kervanci gegen Frankreich 1 Folgendes erkannt: Die Beschwerdeführerinnen sind Musliminnen. Nachdem sie wiederholt erfolglos aufgefordert worden waren, im Turnunterricht ihr Kopftuch abzunehmen, wurden sie aus der Schule ausgeschlossen, weil sie am Turnunterricht nicht aktiv teilgenommen und damit ihre schulischen Verpflichtungen verletzt hätten. In ihren Beschwerden an den EGMR rügten sie die Verletzung von Art 9 EMRK (Religionsfreiheit) und Art 2 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK (Recht auf Bildung). Für den Gerichtshof ist offensichtlich, dass ein Eingriff in die Religionsfreiheit vorliegt, dieser gesetzlich vorgesehen ist und mit dem Schutz der öffentlichen Ordnung sowie der Rechte und Freiheiten anderer legitime Anliegen verfolgt. In einer demokratischen Gesellschaft könne es sich für das Zusammenleben als notwendig erweisen, die Religionsfreiheit einzelner Gruppierungen einzuschränken, um die Interessen der verschiedenen Glaubensrichtungen auszugleichen. Die innerstaatlichen Entscheidungsträger würden gerade in derart kontroversen Bereichen über einen erheblichen Entscheidungsspielraum verfügen. Der Eingriff in die Religionsfreiheit sei nicht nur aus Gründen der Sicherheit und der Gesundheit erfolgt. Er treffe alle Schülerinnen und Schüler unterschiedslos und bezwecke generell, die Laizität der staatlichen Schulen aufrechtzuerhalten. Letztere sei in Frankreich genauso wie in der Türkei oder der Schweiz ein zentraler, von breitem Konsens getragener Verfassungswert, dessen Verteidigung vorrangig sei. Es liege keine Verletzung von Art 9 EMRK vor (einstimmig). Analog hat der EGMR in dem Urteil Sahin gegen die Türkei 2 entschieden. Die Abweisung einer kopftuchtragenden Medizinstudentin von der Universität Istanbul sei EMRK-konform.
02.09.20
8:29
Johannes Disch sagt:
@grege (01.09.20, 20:36) Völlig richtig. Auch deutsche Gerichte haben da noch immer keine einheitliche Linie gefunden. Das gilt leider auch für das oberste deutsche Gericht in Karlsruhe. Dabei wäre die Sache ganz einfach zu regeln: Das Kopftuch zählt nicht zu den Essentials des islamischen Glaubens. Es zählt nicht zu den 5 Säulen des Islam. Nirgendwo im Koran ist vom Kopftuch die Rede. Das Wort Kopftuch kommt im Koran nicht vor. Es fällt also nicht zwangsläufig unter Religionsfreiheit. So könnte das Gericht argumentieren und urteilen und hätte eine einheitliche und verbindliche Richtschnur. Urteile wie das Karlsruher Urteil 2015 und das aktuelle Urteil von Erfurt kommen aus Unkenntnis zustande. Noch immer weiß der deutsche Staat zu wenig über den Islam und lässt sich von den Verbänden alles mögliche als "Religionsfreiheit" unterjubeln, darunter das Kopftuch. Das Kopftuch ist das beliebteste, weil einfachste Einfallstor, um einen konservativ-reaktionären Islam hoffähig zu machen. Leider hat dabei auch das Bundesverfassungsgericht geholfen, durch sein falsches Urteil von 2015. Es ist zu hoffen, dass Karlsruhe dieses Urteil bald korrigiert. Notfalls sollte es der Europäische Gerichtshof tun. Die aktuelle juristische Lage ist eine Zumutung für alle. Für Arbeitnehmerinnen und für Arbeitgeber. Diese Regelung ist nicht praxistauglich und nicht zukunftsfähig. Ohne eine Korrektur und eine einheitliche Linie wird das ganze zur Endlosschleife und wir werden auch noch die nächsten Jahrzehnte Kopftuch-Prozesse führen. Daran kann niemand Interesse haben. Die Justiz hat eigentlich wichtigeres zu tun.
02.09.20
19:50
Johannes Disch sagt:
@Kafira (31.08.20, 19:05) Da muss ich Ihnen zustimmen. Gewonnen hat die Klägerin nicht wirklich. Sie bekommt zwar eine kleine Entschädigung, die aber schnell aufgebraucht sein dürfte. Den erwünschten Job jedoch bekommt sie nicht. Und es ist töricht, einen Job abzulehnen wegen eines Stück Stoff. Das ganze wird langfristig dazu führen, keine Musliminnen mehr als Lehrerinnen einzustellen selbst welche ohne Kopftuch. Sie könnten ja nach den Ferien plötzlich mit Kopftuch zurückkommen, sowie kürzlich eine Krankenschwester in einer konfessionellen Einrichtung. Und die staatlichen Schulen hätten nach dem aktuellen Urteil kaum noch Möglichkeiten dagegen (Eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens nachzuweisen ist schwer). Dasselbe gilt wohl auch für private Arbeitgeber. Auch die werden in Zukunft vorsichtiger sein bei der Anstellung von Musliminnen. Letzten Endes ist so etwas wie das Erfurter Urteil lediglich ein Pyrrhus-Sieg.
03.09.20
9:08
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