Berlin

Kopftuchverbot gekippt: Muslimin gewinnt Rechtsstreit

Das Land Berlin kann muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch nicht unter Berufung auf sein Neutralitätsgesetz ablehnen. Das Bundesarbeitsgericht wies eine Revisionsklage ab.

27
08
2020
Lehrerin mit Kopftuch © Perspektif, bearbeitet by iQ.
Musliminnen © Perspektif, bearbeitet by iQ.

Das im Berliner Neutralitätsgesetz verankerte pauschale Kopftuchverbot für Lehrerinnen verstößt nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts gegen die Verfassung. Das Gericht wies am Donnerstag nach Angaben einer Sprecherin die Revision des Landes Berlin gegen ein Urteil des Landesarbeitsgerichts zurück. Dieses hatte einer muslimischen Lehrerin im November 2018 rund 5159 Euro Entschädigung zugesprochen, weil sie wegen ihres Kopftuches nicht in den Schuldienst eingestellt worden war.

Die Frau sei wegen ihrer Religion diskriminiert worden, entschied nun das Bundesarbeitsgericht. Der Paragraf 2 im Neutralitätsgesetz, der Pädagogen an allgemeinbildenden Berliner Schulen nicht nur das Tragen eines Kopftuchs, sondern auch anderer religiöser Kleidungsstücke und Symbole wie Kreuz oder Kippa untersagt, müsse verfassungskonform ausgestaltet werden.

Nach Einschätzung der Erfurter Richter sei ein generelles, präventives Verbot zum Erhalt des Schulfriedens nicht rechtens, erläuterte die Sprecherin. Vielmehr müssten konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Schulfriedens vorliegen. Die bisherige Regelung verletze die Religionsfreiheit der Lehrer. Mit seiner Entscheidung liegt das Bundesarbeitsgericht auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts. Dieses hatte schon 2015 konkrete Gefahren für den Schulfrieden als Voraussetzung für ein allgemeines Verbot religiöser Symbole an Schulen genannt.

Das Landesarbeitsgericht hatte bei seinem Urteil 2018 erklärt, das Neutralitätsgesetz sei verfassungskonform auslegbar. Im konkreten Einzelfall sei allerdings keine konkrete Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität durch das Kopftuch erkennbar gewesen. Der Lehrerin, die sich wegen ihrer Religion diskriminiert sah, gab das Gericht daher Recht und sprach ihr eine Entschädigung in Höhe eines 1,5-fachen Bruttomonatsverdienstes zu. Sie hoffte vor dem Bundesarbeitsgericht nun auf eine höhere Summe, was das BAG aber ablehnte.

Konkret handelt es sich um eine Informatikerin, die sich als sogenannte Quereinsteigerin für eine Stelle in einer Sekundarschule, einem Gymnasium oder einer Berufsschule beworben hatte. Für die Berufsschule, für die das Neutralitätsgesetz im Unterschied zu allgemeinbildenden Schulen nicht gilt, wurde die Klägerin mit Verweis auf andere, besser geeignete Bewerber abgelehnt. Für die anderen Schultypen erhielt sie kein Angebot.

In den vergangenen Jahren hatten mehrere Urteile von Arbeitsgerichten in Berlin Zweifel am Neutralitätsgesetz aufkommen lassen. Aktuell ist laut Bildungsverwaltung noch ein weiteres Verfahren wegen mutmaßlicher Diskriminierung einer muslimischen Lehrerin anhängig. (dpa, iQ)

Leserkommentare

Ute Fabel sagt:
@ Johannes Disch: "Das ganze wird langfristig dazu führen, keine Musliminnen mehr als Lehrerinnen einzustellen selbst welche ohne Kopftuch." Durch solche Verfahren wird Frauen insbesondere bosnischer, türkischer, persischer und arabischer Herkunft in der gesamten Arbeitswelt wirklich ein Bärendienst erwiesen. Stellen Unternehmen Frauen aus anderen Weltregionen oder überhaupt gleich Männer ein, laufen sie keine Gefahr, dass aufgrund unerfüllter Sonderbehandlungswünsche unter dem bloßen Deckmantel des Antidiskriminierungsrechts Geldforderungen erhoben werden.
03.09.20
12:52
Johannes Disch sagt:
@Ute Fabel (03.09.2020, 12:52) Da bin ich ganz ihrer Meinung. Aber diese Frauen erweisen sich diesen Bärendienst selbst, unterstützt durch die konservativen Islamverbände, die sie zu diesen Klagen ermutigen. Die Aufklärung sollte in die Richtung gehen: Lasst dieses Utensil weg! Es ist kein essentieller Bestandteil des islamischen Glaubens. Lasst euch nicht einreden, ihr müsstet dieses Tuch tragen. "Oben ohne" habt ihr es einfacher. Durch die Karlsruher Rechtsprechung-- die ein pauschales Kopftuchverbot an Schulen als verfassungswidrig betrachtet-- haben wir jetzt die absurde Situation, dass institutionell gebundene und private Arbeitgeber eine bessere Handhabe gegen das Kopftuch haben als der Staat. Kommt eine Lehrerin nach den Ferien plötzlich mit Kopftuch zurück, so hat die Schule keine Möglichkeit, dagegen etwas zu tun. Will man dieses Risiko vermeiden, dann bleibt nur, keine muslimische Lehrerin mehr einzustellen. Also, die aktuelle Rechtslage ist eine Zumutung für alle Seiten: Für Schulen und für muslimische Lehrerinnen. Der Karlsruher Standpunkt ist praxisfremd und nicht zukunftsfähig. Man kann nur hoffen, dass Karlsruhe sich da bald korrigiert.
05.09.20
18:05
Johannes Disch sagt:
@Ute Fabel (02.09.20, 8:29) Doch, das stimmt so. Ein pauschales Kopftuchverbot ist verfassungswidrig. Das ist die generelle Linie des Bundesverfassungsgerichts in dieser Frage seit dem Karlsruher Urteil von 2015. Justiz funktioniert von oben nach unten. Die oberste Instanz ist Karlsruhe. Und an Urteilen des Bundesverfassungsgerichts orientieren sich alle untergeordneten Gerichte. Das Karlsruher Urteil von 2015 bezieht sich zwar auf das Schulgesetz von NRW. Aber aus dem Urteil folgt, dass alle Schulgesetze, die ein Kopftuch pauschal verbieten, verfassungswidrig sind. Und da das Berliner Neutralitätsgesetz ein Kopftuch pauschal verbietet-- genau wie das frühere Schulgesetz in NRW-- ist es verfassungswidrig. Genauso hat das Arbeitsgericht Erfurt bei seinem jüngsten Urteil auch argumentiert. Und das ist auch folgerichtig und juristisch korrekt. Beschweren sollte man sich also nicht in Erfurt, sondern in Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht hat den Schulen mit seinem Urteil 2015 den Schlamassel eingebrockt. Und wenn Karlsruhe bei seiner Linie bleibt, dann wird wohl auch die Verfassungsbeschwerde des Landes Berlin erfolglos bleiben. Dann bleibt nur noch der Gang nach Straßburg. Nach aktueller Rechtslage ist das Berliner Neutralitätsgesetz verfassungswidrig.
06.09.20
10:24
Johannes Disch sagt:
Meine Güte, kaum erleidet man mal eine Schlappe vor Gericht, schon knickt man ein. Berlin erlabt jetzt auch das Kopftuch auf der Richterbank. Das hat jedenfalls der Berliner Justizsenator Behrendt (DIE GRÜNEN) verfügt. Die SPD sollte diese Koalition-- die von Anfang an unter keinem guten Stern stand-- beenden.
06.09.20
19:31
AntiFa09 sagt:
Der Hammer schreibt : Ganz klar - es wird viele Eltern in Deutschland die Ihr Kind von der Schule nehmen wenn religiös konservative Lehrer (egal welcher Religion) dort unterrichten. Ich auch. Welche meinst du denn eigentlich? Die römisch-katholischen oder evangelischen Lehrer dürfen bekannterweise erst nach einer Vokation (ev.) oder misio canonica (rö-kak) als eine Art kirchliche Erlaubnis zur Erteilung des Unterrichts unterrichten. Wie ich finde eine mehr als fanatische Einstellung. Leider ist es nicht so einfach die Schule zu wechseln. Das entscheidet ja meistens das Schulamt und fanatische Kirchengänger sind leider Kein Wechselgrund. :)
17.09.20
16:45
Tarik sagt:
„Die Aufklärung sollte in die Richtung gehen: Lasst dieses Utensil weg! Es ist kein essentieller Bestandteil des islamischen Glaubens. Lasst euch nicht einreden, ihr müsstet dieses Tuch tragen. "Oben ohne" habt ihr es einfacher“ (Johannes Disch) Es ist verständlich, dass Sie von sich von Ihren eigenen Positionen bzgl. des Kopftuchs distanziert haben. Und hier sehen wir auch, was sich hinter dem liberal-säkularen Verständnis von Toleranz verbirgt. Im Gegensatz zu nationalistisch-konservativ-reaktionärer begründetem Islamhass hofft der Liberal-Aufgeklärte, dass man „die Muslime“ aufklären kann, in der Hoffnung, sie werden möglichst dieselben Ansichten teilen. Hinter dem Slogan „keine Toleranz gegenüber Intoleranz“ verbirgt sich eine neue liberale Inquisition und der Widerstand aus nationalkonservativen Kreisen (nichtmuslimischen wohlgemerkt) gegen das, was als „Meinungsterror“ und „Diktatur der politischen Korrektheit“ empfunden wird, kommt ja nicht ungefähr. Die Philosophin Angela Nagle erinnert in ihrem glänzendem Buch „Die digitale Gegenrevolution“ an die -als ein Beispiel von vielen - äußerst aggressive Polemik seitens linksliberaler Identitätspolitischer Aktivisten: als Facebook 2014 seinen Nutzern 50 verschiedene Geschlechteridentitäten zur Auswahl bot, wurde alleine das Infragestellen dieser neuen „Realität“ als reaktionäres Denken gebrandmarkt. Dad Abweichen vom gegenwärtigen Mainstream ist zur neuen, moderne Blasphemie geworden. Und die aktuelle Datenerfassung und Schaffung von Beibachtungsstellen gegenüber einem „politischen Islam“ ist genau unterdiesem Gesichtspunkt zu verstehen. Denn Muslime sind am offensichtlichsten im Erscheinungsbild etwas, das im liberal-säkularen Denken nicht passt. Michel Houllebecq hat dies in seinen Romanen „Plattform“ und erst Recht in“ Unterwerfung“ hellsichtig analysiert. Diese Antiislam-Aggitation gerade von libertärer Seite ist interessant. 2004 äußerte der EU-Binnenmarktskommissar in einem Interview, dass bei einer Aufnahme der Türkei „die Befreiung der Belagerung von Wien 1683 vergeblich gewesen wäre“. Trotz der damaligen Reformeifers von Erdogan. Und dieser Herr ist aus einer liberalen Partei. Auch Mitterrand konnte sich nicht für eine Unterstützung für Bosnien-Herzegowina im Krieg (dank ihm wurde daraus eine „humanitäre Hilfe) unterstützen, obwohl die bosn. Muslime einbürgerlich-säkulares Konzept vertraten. Insofern ist die Frage, „ob der Liberalismus etwas anderes als sich selbst tolerieren kann, durchaus berechtigt. Ich persönlich bin gegen jede Form von -ismus. Die Lösung. Mit Tim Winters Wortengesprochen: Die Lösung ist eher Liberalität (Freigiebigkeit) statt Liberalismus, denn Letzterer benötigt mehr, als er gibt.
22.09.20
12:16
Johannes Disch sagt:
@Tarik (22.09.20, 11:16) Ja, so jongliert man mit Begriffen und füllt sie mit einem Inhalt, der einem gerade in den Kram passt, von wegen "liberale Inquisition"(Tarik) Das ist eine Begriffsverbindung, die keinen Sinn ergibt Es ist ein Oymoron. Genauso gut könnte man von einer "freiheitlichen Diktatur" sprechen. Das wäre ebenso unsinnig wie ihre "liberale Inquisition." Muslime müssen nicht alle unsere Ansichten teilen, sondern unsere Werte. Das ist der entscheidende Punkt. Liberalismus und liberale Demokratie bedeuten nicht laizssez-faire oder "anything goes", auch nicht für Muslime. Der liberale Rechtsstaat legt den Spielraum fest für die Religionsfreiheit, aber auch für deren Grenzen. Und dass ein Verbot des Kopftuchs am Arbeitsplatz unter bestimmten Voraussetzungen rechtens ist, das haben das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof festgestellt. Dazu gibt es inzwischen längst entsprechende Urteile. Und bei hoheitlichen Aufgaben vor Gericht ist das Kopftuch nun mal nicht erlaubt, wie erst unlängst das Bundesverfassungsgericht im Fall einer Referendarin in Hamburg geurteilt hat. Nur Berlin schert hier aus der Reihe mit seinem umstrittenen Neuträtsgesetz. Genauer: Der Berliner Justizsenator Behrendt. Das Berliner Neutralitätsgesetz ist nach wie vor in Kraft. Der amtierende Justizsenator verstösst mit seiner Aktion also gegen geltendes Recht. Das hat was! Nun, das Bundesverfassungsgericht oder spätestens der Europäische Gerichtshof werden diesen Justizsenator wohl wieder einfangen. Ich habe meine Haltung zum Kopftuch in der Tat modifiziert. Vor Gericht hat es nichts zu suchen. Da hat die staatliche Neutralität Vorrang vor der Religionsfreiheit. So sieht es auch das oberste deutsche Gericht. Diese Meinung habe ich aber schon immer vertreten. Inzwischen bin ich aber der Meinung, dass es auch in der Schule bei Lehrerinnen nichts zu suchen hat. Das Kopftuch steht für einen konservativ-reaktionären Islam und für ein Geschlechterbild, das mit unseren Werten nicht vereinbar ist. Da ist es auch völlig belanglos, was die individuellen Gründe der Trägerin sind. Die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist hier praxisfremd.(Es muss konkret der Schulfrieden gestört sein, um ein Kopftuchverbot zu erlassen). Die aktuelle Lage ist für alle Beteiligten-- für Arbeitgeber und für betroffene Musliminnen-- eine Zumutung. Also sollte der Gesetzgeber endlich Klarheit und endgültige Rechtssicherheit schaffen. Es kann nicht sein, dass wir endlos Kopftuchprozesse führen. Das Kopftruch ist keine religiöse Pflicht. Es gehört nicht zu den 5 Säulen des Islam. Also fällt es auch nicht unter Religonsfreiheit. Und von wegen "linksliberale Idendiitätspolitik" (Tarik): Auch das ist ein Jonglieren mit Begriffen, die keinen Sinn macht. Identitätspolitik betreibt vor allem der Islam, allen voran die islamischen Verbände, die einen identitären Islam fördern. Da werden Frauen und Mädchen zum Kopftuch ermutigt, zu Kopftuch-Klagen, da werden Gebetsräume in Schule und Universität gefordert, etc. Fordern, fordern, fordern--- durch die Hintertür immer mehr islamische Bräuche und Gesetze einführen. Das aktuelle Wunschpaket besteht aus muslimischen Feiertagen und dem Verzicht auf Klassenarbeiten im Ramadan. Und bei abschlägigem Bescheid kommt man uns dann halt mit der Rassismus-Keule und mit "Islamophobie." Glücklicherweise fallen immer weniger Deutsche darauf rein (mit Ausnahme des Berliner Justizsenators und der Hamburger SPD, die an einem Staatsvertrag mit dem islamistischen IZH Islamisches Zentrum Hamburg-- das vom Iran gesteuert wird-- festhält). Versteht euch nicht als europäische Bürger, als Individuen, sondern in erster Linie als Muslime, als Teil der "Umma." Definiert eure Identität religiös--- das ist Botschaft und Ziel der Islamverbände. Und deren identitärer Islam ist mindestens so gefährlich wie die Identitäspolitik der Völkisch-nationalen Neuen Rechten. "Keine Toleranz der Intoleranz" als "liberale Inquisition" (Tarik) zu bezeichnen ist an Konfusion kaum noch zu überbieten! Der Slogan stammt von Karl Popper, dem Autor der offenen Gesellschaft ("Die offene Gesellschaft und ihre Feinde"), einem der größten Philosophen des 20. Jahrhunderts, der mit erwähntem Buch einen Klassiker der politischen Philosophie geschrieben hat. Ein Klassiker, der bis heute als Leitfaden für eine liberale Demokratie dienen kann. Nicht umsonst war der deutsche Sozialdemokrat und Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt ein bekennender Karl-Popper-Verehrer. Wir wollen auch niemanden aufklären. Wir erwarten nur die Akzeptanz unserer Werte. Und das sind die Werte der "kulturellen Moderne" (Habermas). Es sind die Werte der Aufklärung. Es sind die Werte des Grundgesetzes (das auf den Werten der Aufklärung fußt). Freiheit unter einem Dach gemeinsamer unverhandelbarer Werte, die für alle, die bei uns leben wollen, verbindlich sind. Das ist nicht zu verwechseln mit Multikulturalismus. Der ist als Integrationskonzept tatsächlich untauglich. Es ist Kulturpluralismus. Vielfalt unter einem Dach gemeinsamer Werte. Man kann das "Leitkultur" nennen (Bassam Tibi) oder einfach eine Hausdordnung. Unser Haus. Unsere Regeln. So einfach ist das.
23.09.20
9:31
Tarik sagt:
Das sieht für Sie nur wie "Jonglieren" aus, weil Sie mir nicht folgen können ;-) Korrektur: "LiberalISTISCHE Inquisition" sollte es heißen. Wie es sie ja schon unmittelbar nach der Französischen Revolution im Namen von "Gleichheit.Freiheit.Brüderlichkeit" gegeben hatte (Robespierre). Daher schrieb ich auch am Ende meines Kommentars, dass ich gegen jede Form von -ISMUS bin. Und wir leben heute nicht mehr in Poppers Zeiten. Der Hang zur Vereindeutigung - Identitär nach Kästchenbildung, wie dies Bauer in seinem als "philosophisches Essay des Jahres" ausgezeichnetem Werk beschreibt, meint, dass am Ende des ursprünglichen Freiheits- und Befreiungsgedanken ein Totalitarismus steht. Und der Rahmen immer enger gesetzt wird. Sie kenne offensichtlich den Unterschied zwischen "identitär" und "Identitätspolitik" nicht. Ich helfe Ihnen da gerne auf die Sprünge. "Identitär" zielt darauf ab, die Gesellschaft als ganze zu erhalten und zu fördern. Daher bezeichnen sich bsp. die "Neuen Rechten" auch als "identitäre" Bewegung. Es ist das GEgenteil von Multikulturalismus, dieser ist nämlich ein Produkt de r"Identitätspolitik". Denn sie strebt danach, die eigene identitäre Sondergruppe auf Kosten der Gesellschaft zu begünstigen und zu bevorrechten. Man will nicht das Ganze mehren, sondern den eigenen Anteil am Ganzen, und sei es, indem man das dem feindlichen Widersacher Gebliebene schädigt. Und angestoßen wurde "Identitätspolitik" ja ursprünglich von Linken Bewegungen, von Gruppen, die sich als benachteiligt sahen. Die Feminismusbewegung, das STreben von Sondergruppen nach Rechten, seien es Homo- und Transsexuelle, sogenannte "person of color" oder religöse Gruppen. Und nach der Durchsetzung von gewissen Rechten strebt man dann danach, diese Rechte zu schützen. Und so reagieren diese Gruppen dann sehr emotional und empfindlich. Und dieses Denken ist heute in den Medien und in den Verwaltungs- und Bildungsstrukturen Mainstream. Konkret heißt dies, dass man darauf aus ist, Bücher aus dem Kanon zu streichen, die bsp. das Wort "Neger" beinhalten. Oder das eine DRag Queen fünfjährigen in der KITA aus Büchern vorliest, die selbstvertändlich die zahlreichen neuen Geschlechter als etwas völlig normales betrachten. Wir sehen heute, dass bei dabei weit über das Ziel hinausgeschossen wird und eine Art Fetischisierung der Abweichung stattfindet, weit über ihre reale Bedeutung und lebensweltliche Präsenz hinaus. Das führt zu massiver geschlechtsidentitärer Verunsicherung bei jüngeren Generationen. Es gibt einen regelrechten Hype um diese Themen, die Zahl der operativen Eingriffe explodiert ins Absurde, Psychotherapeuten investieren heutzutage einen Großteil ihrer Energie für sexuell entwurzelte Jugendliche, Mediziner empfehlen irreversible Hormontherapien bereits vor der Pubertät und auch Lehrer haben nun plötzlich immer wieder mit Umgewandelten zu tun – die im Übrigen in den seltensten Fällen glücklich wirken. Das Geschlecht zu wechseln, ist heute scheinbar ein Ausweg aus verfahrenen Biographien geworden. Und gerade konservative Positionen, die solche und andere Entwicklungen kritisch betrachten, werden mit Shitstorms überzogen. Mehr noch, sie werden medial gebrandmarkt. In den USA - wo jeder auch hier künftige Trend anfängt - heißt dies, dass Professoren entlassen werden, weil bestimmte identitätspolitische Aktivisten in seiner Vergangenheit stöbern und irgendetwas finden, was sie ihm als Rassismus oder Frauenfeindlichkeit auslegen. Das und weiteres ist mit "liberalistische Inquisition" gemeint. Hier ist das natürlich harmloser - auch wenn die öffentliche Erniedrigung einer Eva Hermann - die ja ein konservatives Frauenbild vertritt (was in den Augen linksliberaler Feministinnen Blasphemie ist) - in einer Talkshow schon etwas inquisitorischen Touch hatte. Und man sich die Frage stellt "darf man mit Rechten überhaupt reden?" Wichtig hier, dass man sämtliche alternativ-konservative Meinungen als "rechts" deklariert und sie somit als persona non grata definiert. Ähnlich wie beim "politischen Islam". Die Spaltung in den USA und der Aufstieg der Neuen Rechten in Europa ist genau diesem Umstand geschuldet - selbst Menschen, die intellektuell viele Zusammenhänge nicht begreifen, haben das Gefühl, "dass man nicht alles sagen darf, was man denkt". Die mediale Zurschaustellung - hier handle es sich halt um ein paar Spinner aus Sachsen zeigt, dass die linksliberalen Eliten die die Medien- und Kulturwelt dominieren, das Problem nicht ganz erfasst haben, weil sie zulange nur mit sich selbst geredet haben. Dabei ist die "Neue Rechte" - leider - ihnen intellektuell überlegen. Lesen Sie sich mal durch Magazine wie "Sezession" durch oder lesen Sie Camus, Kubitschek und wie sie nicht alle heißen. Angesichts der zentralistischen Trends (Pandemie, Datenkontrolle) wird dieser innereuropäische Kulturkampf nur noch weiter zunehmen.
24.09.20
10:39
Tarik sagt:
Daraus folgt, dass man bestimmten Islamverbänden durchaus "Identitätspolitik" vorwerfen kann. Hier gilt es allerdings die Spreu vom Weizen zu trennen, statt alle über einen Kamm zu scheren. Der Ansatz der Islamkonferenz ist hier sicherlich zu nennen. In ihrer Studie verweist Riem Spielhaus darauf hin, dass dieser Runde Tisch tatsächlich viele konkrete Lösungen - ob Gefängnisseelsorge oder Bestattungen - in einem langen Verhandlungsprozess gefunden hat. Dass der ein oder andere Politiker die Ergebnisse vielleicht nicht gerade an die große mediale Glocke hängt (um ja nicht dem Vorwurf ausgesetzt zu sein, er helfe einer "Islamisierung des Abendlands"), ist verständlich. Was die Frage des Kopftuchs angeht, ist hier Klarheit, da gehe ich d'accord, sicherlich wünschenswert. Ein wichtiger Punkt ist, dass die Unterstellung, eine Frau mit Kopftuch vertrete eine bestimmte politisch-reaktionäre Gesinnung, schlicht haltlos ist. Und auch die Etiketten - lies: Worthülsen - zwischen "konservativ" und "liberal" lässt sich daran nicht ausmachen. So sehen wir bsp. kopftuchtragende Frauen, die sich für feministische Anliegen aktiv engagieren. Auch wieder ein Beispiel für traditionell mangelnde Ambiguitätstoleranz: Man kann sich sowas als Abendländer nicht vorstellen. Entweder ist man konservativ oder liberal. Aber beides? Wie jetzt? Und letztlich steckt hinter dem ganzen Neutralitätsgerede, dass man Angst davor hat, dass eine politisch-religiöse Agenda den Staat unterwandert oder gar - Gott behüte - die eigenen Kinder islamisiert. Weil ja angeblich jeder Muslim außerhalb der islamischen Welt den koranischen Auftrag habe, zu missionieren. Wir lernen: Ohne die ein oder andere grobe Fhhlinterpretation gepaart mit eine ordentlichen Portion Halbwissen geht das ganze nicht. Daher auch die seltsame Unterstützung des Westens für Salafisten. Beispiel Ägypten: Man malte den Teufel in Gestalt der Muslimbrüder an die Wand, aber über die damals zweitstärkste salafitische Bewegung (die sehr schnell aufgebaut wurd,e aus dem Nichts, mit finanzieller Unterstützung von Saudi Arabien, das den kompletten Wahlkampf finanzierte) kein Wort. Auch kein Wort darüber, dass eben jene Salafisten den Umsturz gegen Mursi mit unterstützten. Weil der Salafismus in politischer Gestalt keine Alternative ist, sondern ein nützliches Instrument für den radikal-totalitären Säkularismus. Daher auch das Bündnis von al-Sisi mit Saudi Arabien. Gemeinsam mit den Franzosen, versteht sich (siehe Libyen). Aber das ist wiederum ein anderes Thema.
24.09.20
10:55
Tarik sagt:
Übrigens fehlte in Ihrem letzten Kommentar noch ein „basta“ mit Ausrufezeichen. Ein zu meinen Ausführungen passendes Beispiel für ...Diskussionskultur. Was die universellen westlichen Werte angeht - die gesamte Geschichte der letzten 200 ist eine regelrechte „Modifikation“ von Werten. Und immer sind sie universell, obgleich der Zeitgeist eine Generation später wieder anders aussieht. Wenn es denn eine lineare Entwicklung wäre - ist es jedoch nicht. Es ist ein hin und her zwischen Extremen. Am Ende dieser Corona-Pandemie, also wie angekündigt frühestens nächsten Spätsommer werden wir eine neue Normalität begrüßen dürfen und uns bewusst sein, dass die Zeit von Recht auf Privatsphäre und Freizügigkeit vorbei sind - dank der seit Jahrzehnten andauernden Ausnahmezustands und der damit einhergehenden schrittweise Abschaffung all jener liberalen Errungenschaften, von denen ein Fukuyama dachte, sie wären „das Ende der Geschichte“.
24.09.20
15:27
1 2 3 4