Ein neuer Expertenkreis soll die steigende Muslimfeindlichkeit in Deutschland analysieren. Im IslamiQ-Interview sprechen wir mit Rassismusforscherin Prof. Dr. Iman Attia über die Ursachen und Bekämpfung von Islamfeindlichkeit.
Seit Jahren beschäftigen Sie sich mit antimuslimischem Rassismus und Islamfeindlichkeit. Nun wurden Sie in den neu gegründeten Expertenrat Muslimfeindlichkeit berufen. Was erwarten Sie von der Arbeit im Expertenrat?
Prof. Dr. Iman Attia: Das Gremium ist zunächst ein öffentliches Bekenntnis. Und zwar dafür, dass wir ein gesellschaftliches Problem haben und dass die Politik gewillt ist, hierzu Sachverständige mit einem Mandat auszustatten und sie zu hören. Natürlich arbeiten einige von uns auch ohne politisches Mandat seit Jahren zu dem Thema. Wir sind in der Forschung, in der Lehre, in der politischen Bildung, in Netzwerken, in Verbänden und in vielen anderen Kontexten mit verschiedenen Aspekten des antimuslimischen Rassismus beschäftigt, die meisten von uns seit Jahren und Jahrzehnten.
Es gibt bereits eine Menge an Wissen, Erfahrungen und Ansätzen dazu und ich hoffe, dass wir dieses Potential für die Arbeit der Kommission nutzen können. Am Ende der zwei Jahre soll ein Bericht vorgelegt werden, der sicherlich breit gelesen werden wird und hoffentlich in konkreten Maßnahmen mündet, die nachhaltig wirksam sind und zur Gleichstellung von Muslim*innen beitragen.
IslamiQ: Der Expertenrat wurde nach dem rassistischen Terroranschlag in Hanau gegründet. Wurde Rassismus und Islamfeindlichkeit trotz Solingen, NSU und Marwa El Sherbini ignoriert?
Attia: Es gab leider auch vorher und parallel zu diesen öffentlich mehr oder weniger breit wahrgenommenen Gewaltakten und Morden antimuslimischen Rassismus. Wir haben es hier nicht mit einem neuen Phänomen zu tun. Aber es entwickelt sich nach und nach ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür, dass rassistische Brandanschläge und Morde nicht aus dem Nichts kommen und dort wieder verschwinden. Jeder dieser Morde, aber auch jede alltägliche Mikroaggression ist eine zu viel.
Wenn das erste, allzu deutliche Anzeichen von antimuslimischem Rassismus bereits ernst genommen worden wäre, wäre vielen Menschen, Familien, ganze Communities und der Gesamtgesellschaft viel Leid erspart geblieben. Aber das hätte vorausgesetzt, dass es tatsächlich nur Einzeltäter*innen und Einzeltaten gewesen wären, die in der ganzen Breite der Bevölkerung Empörung und Trauer ausgelöst hätten. Es hat lange gedauert, bis nun einige, lange noch nicht alle, langsam anfangen zu begreifen, dass es sich nicht um Ausnahmeerscheinungen handelt, sondern dass wir es mit Rassismus zu tun haben.
IslamiQ: Kann sich also ein Fall wie in Hanau in Deutschland wiederholen?
Attia: Das ist nicht auszuschließen. Natürlich hoffen alle Menschen, die nicht bereit sind, für ihre Ideologien Morde zu begehen, dass Hanau, Halle, Solingen und Rostock der Vergangenheit angehören. Deswegen ist es wichtig, jedes demokratische Instrument, das geeignet sein könnte, Rassismen in seinen verschiedenen Formen und Ausmaßen zurückzudrängen, daraufhin zu überprüfen, in welcher Weise es Wirkung zeigen kann.
IslamiQ: In Ihrer Arbeit unterteilen Sie Rassismus in zwei Aspekte. 1. Rassismus konstruiert Menschengruppen (Othering) und 2. Rassismus legitimiert Privilegien (Dominanz). Können Sie das näher erläutern?
Attia: Da muss ich etwas ausholen: Rassismus ist ein gesellschaftliches Machtverhältnis. In jeder Gesellschaft ringen verschiedene Kräfte um Deutungs- und Handlungsmacht, um sich Gehör zu verschaffen und begrenzte Ressourcen zu verteilen, also das Zusammenleben zu organisieren. Totalitäre Gesellschaften haben kein Problem mit sozialer Ungleichheit und einem autoritären Führungsstil. Sie schrecken weder davor zurück, andere auszubeuten noch zu unterdrücken und zum Schweigen zu bringen, im Gegenteil, sie beruhen auf diesen Dingen. Das Gegenstück dazu sind Gesellschaften, die ein Höchstmaß an Gleichberechtigung und Gleichstellung anstreben, die Minderheitenrechte berücksichtigen und die sich so organisieren, dass Macht nicht zentralisiert und in Herrschaftsformen institutionalisiert wird, die einigen auf Dauer mehr zugestehen als anderen und manche an den Rand drängen oder ganz ausschließen.
Demokratische Gesellschaften streben also soziale Gleichheit an. Sie gründen aber auf historisch gewachsenem Unrecht, das bis heute nachwirkt sowie neuen Formen von Ungerechtigkeit und Ausbeutung. Dazu gehört etwa die soziale, kulturelle und ökonomische Zerstörung anderer Lebensweisen sowie die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und natürlicher Ressourcen. Dazu gehört aber auch der Glaube an die eigene Fortschrittlichkeit und Höherwertigkeit, die vermeintlich dazu berechtigt, andere weiterhin zu bevormunden und ihnen im Namen von Gerechtigkeit Unrecht anzutun.
Der Widerspruch zwischen dem demokratischen Anspruch und dem Unwillen, vergangenes Unrecht so gut es geht wiedergutzumachen sowie neues Unrecht zu unterlassen, findet durch Rassismus eine Rechtfertigung. Es erscheint dann als gerechtfertigt, dass einige mehr zu sagen haben, ihre Lebensweise besser ist und sie das Recht haben, bevorzugt zu werden. Es erscheint sogar als geboten, anderen vorzuschreiben, wie sie leben sollen und wie Dinge zu tun sind, sie zu erziehen und zu sanktionieren, zu ihrem eigenen Besten sozusagen. Wir kennen diese Rechtfertigungen auf der Mikroebene, zwischen einzelnen Personen also, gut, und wissen alle, dass es einen Unterschied macht, ob jemand, der oder die so denkt, mehr oder weniger Macht hat, sich durchzusetzen.
Im größeren Maßstab, wenn sich Gruppen formieren, die sich über andere stellen und ihnen Unrecht und Gewalt antun, brauchen diese Gruppen eine Begründung dafür, warum sie überhaupt als Gruppe anzusehen sind und als solche operieren, was sie also verbindet und zusammenhält, warum sie sich nicht gegenseitig das antun, was sie anderen antun. Rassismus ist eine dieser Rechtfertigungen. Die eigene Gruppe wird konstituiert, indem sie von anderen abgegrenzt wird. Deswegen sprechen wir in der Rassismusforschung auch davon, dass Rassismus Rassen hervorbringt und nicht umgekehrt. Erst im Zuge von Rassismus werden die ganz unterschiedlichen Möglichkeiten, sich auf der Welt zu bewegen und zurechtzufinden, entlang von tatsächlichen oder fiktiven Unterschieden biologischer, kultureller und religiöser Art homogenisiert (alle gleich), essentialisiert (weil ihre Biologie, Kultur, Religion so ist), dichotomisiert (ganz anders als wir) und hierarchisiert (rückschrittlicher als wir). Und obwohl es sich dabei um einen Konstruktionsprozess handelt, sind die Folgen real.
Denn der Glaube an Rassen entsteht ja aus dem Willen, soziale Ungleichheit, Gewalt, Ausbeutung zu rechtfertigen. Das heißt, die Lebensbedingungen sind unterschiedlich und werden nun zusätzlich durch den Glauben daran, dass all das gerechtfertigt ist, bestätigt und institutionalisiert. Wenn man dann noch in Rechnung stellt, dass es sich bei den verschiedenen Rassismen um Jahrhunderte lang sich manifestierende Formationen handelt, dann kann man sich gut vorstellen, wie selbstverständlich manches erscheint und wie nachhaltig die Auswirkungen der verschiedenen Rassismen sind, die wir heute ausgleichen und deren Neuerscheinungen wir bekämpfen und vorbeugen müssen.
IslamiQ: Laut dem Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung werden 13% der deutschen Bevölkerung als „islamfeindlich“ eingestuft. Wie hat sich die Stimmung der deutschen Gesellschaft gegenüber Muslimen verändert?
Attia: Ich bin mir nicht sicher, ob quantitative Daten tatsächlich das geeignete Mittel sind, um die Funktionsweise und das Ausmaß von Rassismus zu verstehen. Denn sie operieren ja mit verkürzten und plakativen Fragen, die Personen mit ja, nein und vielleicht beantworten sollen. Wir können aber Rassismus nur verstehen, wenn wir seine Normalität und seine Institutionalisierung berücksichtigen. Das heißt, Menschen können in einer quantitativen Befragung angeben, dass sie nichts gegen Muslime haben, halten aber das Neutralitätsgesetz für gerechtfertigt und blenden aus, dass es Musliminnen intersektional diskriminiert.
Insofern kann ich zu den sich ändernden Zahlen nichts sagen, die Fragen beruhen ja letztlich auf Hypothesen der Forschungsgruppen, die nicht hinreichend auf Rassismustheorien zurückgreifen können, um ihre Hypothesen theoriegeleitet zu entwickeln, weil wir in Deutschland kaum Rassismusforschung haben. Wir brauchen unbedingt qualitative Forschung, um die Funktionsweise und die Folgen zu verstehen, um dann zählen zu können, wie oft welches Phänomen vorkommt.
IslamiQ: Seit 2017 werden islamfeindliche Straftaten gesondert erfasst. Die Zahlen zeigen: Deutschland hat ein Problem mit Islamfeindlichkeit. Warum geht man trotz der Offensichtlichkeit immer noch so zögerlich mit dem Problem um? Besteht eine gezielte und gewollte Ignoranz?
Nach meiner Einschätzung liegen die Zahlen viel zu niedrig und umfassen nur die Spitze des Eisbergs. Es besteht wenig Wissen, worum es geht und ab welcher Grenze etwas als rassistische, in diesem Fall als islam- oder muslimfeindliche Straftat zu klassifizieren ist. Es gibt auch kaum geschultes Personal, das über Rassismus, zumal antimuslimischen, qualifiziert vorgehen kann, das erkennt, ermittelt, sanktioniert, präventiv aufklärt und fortbildet, berichtet usw. in einer Weise, die dem auch nur annähernd gerecht werden kann. Wir stehen ganz am Anfang.
IslamiQ: Wenn Muslime öffentlich über Ausgrenzung und Diskriminierung sprechen, wird ihnen oft vorgeworfen, sich in eine Opferrolle zu begeben. Wie bewerten Sie das?
Attia: Ich forsche ja nun schon sehr lange zu Rassismus, habe auch in der Praxis dazu gearbeitet, übrigens auch im Kontext von anderen Diskriminierungsformen und kann aus meiner Erfahrung sagen, dass Opfer es eher schwer haben, sich ihre Machtlosigkeit und Verletzlichkeit einzugestehen oder diese gar öffentlich zu machen, als diese zu übertreiben.
IslamiQ: Das Thema Islamfeindlichkeit wird Deutschland noch lange beschäftigen. Wie kann dieses strukturelle Problem gelöst werden? Gibt es überhaupt eine Lösung?
Attia: Wir müssen ganz viele Weg gehen, jede und jeder an dem gesellschaftlichen Orten, in dem sie ohnehin agieren und sich auskennen, zu dem sie Zugang haben. Gesetze und Regelungen sind notwendig, auch weil sie Normen verdeutlichen, aber auch Curricula auf Ausblendungen, Missrepräsentationen, Falschinformationen und rassistische Topoi hin zu überarbeiten ist überfällig, die Berichterstattung, die kulturelle Bearbeitung und die öffentliche Sichtbarkeit sind Bereiche, die dazu beitragen können, Rassismus abzubauen, nachbarschaftliche Gespräche und community-übergreifende Solidarität sind auch nicht zu unterschätzen usw.
Von politischer Seite wäre es wichtig, muslimisches Leben in Deutschland anzuerkennen, in seiner Differenz und Vielfalt, zum Beispiel indem ihnen wie anderen religiösen oder weltanschaulichen Gruppen auch das Recht und die finanziellen Mittel eingeräumt werden, sich sozial und gesellschaftlich zu engagieren. Viele muslimische Personen und Verbände tun das ja schon längst, werden aber häufig bestenfalls geduldet, als dass ihre Arbeit gewürdigt und gefördert wird. Ihr Engagement wird zu oft nicht daran gemessen, was sie zur Gesellschaft beitragen, sondern was dadurch verhindert werden kann. Es erscheint dann vieles als Zugeständnis, um Schlimmeres zu verhüten anstatt anzuerkennen, dass es keiner weiteren Begründung bedarf, wenn Gesellschaftsmitglieder die gleichen Rechte erhalten wie alle anderen auch.
Das Interview führte Muhammed Suiçmez.