REZENSION

„Anders als politisch kann dieses Buch gar nicht diskutiert werden“

Mouhanad Khorchide stellt in seinem neuen Buch „Gottes falsche Anwälte“ einen nach seinem Verständnis „aufgeklärten Islam“ vor. Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaft und Arabistik, übt scharfe Kritik.

20
09
2020
Buch Rezension Bauer
Islamwissenschaftler Thomas Bauer © facebook/Thomas Bauer

Wer reformieren will, muss auch manches einreißen, wer aber einreißt, muss auch wieder aufbauen. Etwas dieser Art hätte man, ausgehend von seinen bisherigen Schriften, auch von Mouhanad Khorchides neuem Buch erwartet. Doch schon der ungewöhnlich aggressive Titel lässt wenig Aufbau erhoffen, und tatsächlich wütet auf diesen 236 Textseiten die Abrissbirne sehr gründlich, ohne dass aus den Ruinen Neues erstünde.

Der erste Teil ist zunächst nicht etwa eine Kritik an der einen oder anderen Fehlentwicklung in der islamischen Geschichte, sondern deren Totalvernichtung. Schon bald nach dem Tod des Propheten fiel nämlich, meint K., der Islam zur Gänze machtversessenen Schurken in die Hände, die Muhammads Botschaft der „Befreiung der Menschen zu selbstbewussten Subjekten“ in ein Instrument verwandelten, die Menschen zu gehorsamen Objekten zu machen. Vom Ende des 7. Jh.s an soll der Islam dann fast 1400 Jahre ein Unterdrückungsinstrument geblieben sein, sonst nichts. Ein erster großer Fehler sei schon die frühe Expansion gewesen, weil sie den Islam mit dem persischen und dem oströmischen Reich in verderbenbringenden Kontakt brachte. Solches zu behaupten, ignoriert nicht nur die Tatsache, dass diese beiden Reiche und ihre Religionen längst vor dem Islam auf der arabischen Halbinsel höchst präsent waren, sondern auch, dass der Islam eine kurzlebige Sekte geblieben wäre, wäre er nur defensiv geblieben und nur auf die „Befreiung des Subjekts“ bedacht gewesen (was er ebensowenig war wie alle anderen vormodernen Religionen und Philosophien auch). Hätten die Muslime nicht ihre Rolle zwischen den Großmächten ihrer Zeit gesucht und gefunden, gäbe es den Islam schlichtweg nicht mehr.

Eine zuvor veröffentlichte Rezension von Ali Mete finden Sie hier: Die Sache mit dem Islam

Willkürliche Fakten und eigenwillige Interpretation

Um die Geschichte der folgenden 1300 Jahre möglichst düster erscheinen zu lassen, werden nicht nur Fakten willkürlich herausgegriffen, sondern, weitestgehend ohne Rückgriff auf historische und islamwissenschaftliche Fachliteratur, auch höchst eigenwillig interpretiert. Dazu nur wenige Beispiele: Die Thronnamen der Abbasidenkalifen (zwischen die auch schon einmal ein Fatimide hineinrutscht), also Namen wie z. B. al-Mutawakkil ʿalā llāh „Der auf Gott vertraut“, sollen, anders als vom Vf. behauptet, keineswegs suggerieren, dass des Kalifen Wort unfehlbar und dem Wort Gottes gleichzusetzen ist, sondern Devotion bezeugen und versichern, dass der Kalif sein Amt nicht im Eigeninteresse führen, sondern Gottes Gesetz folgen will. Tatsächlich waren viele Abbasiden kultivierte, gottesfürchtige, oft sogar asketische Männer, die ihr Bestes gaben, aber nicht einmal Gesetze erlassen konnten, geschweige denn die Möglichkeit hatten, den „bedingungslosen Gehorsam“ all ihrer Untertanen zu erzwingen, selbst wenn sie gewollt hätten. Übrigens blieb das Kalifat auch unter den Abbasiden ein (wenn auch dynastisch gebundenes) Wahlamt, und kaum einem Kalifen ist es gelungen, seinen Wunschnachfolger zu installieren. Auch haben die Abbasiden nie ihre ursprüngliche Farbe Schwarz durch das Grün der Sassaniden ersetzt (so S. 55), sondern bis an ihr Ende 1517 das abbasidische Schwarz beibehalten. Das auf die Abbasiden folgende halbe Jt. findet dann bei K. erst einmal gar nicht statt, obwohl gerade für das Verhältnis zwischen Politik und Religion in den islamischen Großreichen, die sich nach 1500 etabliert hatten, eine umfangreiche Sekundärliteratur vorliegt.

„Aberwitziger Umgang mit Geschichte“

K.s Abrechnung mit der Geschichte ist total. Während selbst die radikalsten Reformatoren noch den einen oder anderen Kirchenvater gelten ließen und muslimische Reformer in der rationalistischen Theologie der Muʿtaziliten oder in philosophieaffinen Denkern Vorbilder sahen, von denen man später leider abgekommen sei, bleibt bei K. niemand bestehen. So ist ausgerechnet al- Ǧāḥiẓ, der große und bezaubernde Denker und Literat des 9. Jh.s, sonst everybody’s darling, der erste, der K.s Geschichtsbashing zum Opfer fällt. Auch der 1030 verstorbene, allgemein hochgeschätzte Ethiker Miskawayh (der so ein einflussreicher Klassiker auch nicht gewesen sein kann, wie K. behauptet: Brockelmanns Standardwerk listet gerade einmal sechs Handschriften auf) fällt aus einem einzigen Grund der Verachtung anheim: Beide waren Perser, und Persien scheint nichts anderes gewesen zu sein als das Ursprungsland von Despotismus und Sklavenmoral. Wie in salafistischen Diskursen auch, spielen die kulturellen Leistungen islamischer Gesellschaften, die – man denke nur an das Mogulreich Indiens – der persischen Tradition so viel verdanken, keine Rolle. Ob wohl auch Dichter wie Rūmī und Ḥāfeẓ nichts als manipulierte Objekte eines politischen Islams waren?

Sonst sind es eigentlich weniger die Perser, die für alles Schlechte verantwortlich gemacht werden, sondern die Türken, die aber hier bis S. 123 warten müssen, bis sie an die Reihe kommen. Die vielen „Gräueltaten“, die die Osmanen den Arabern angeblich antaten, heißt es da, hätten nämlich zur Herausbildung des arabischen Nationalismus geführt. Als Quelle wird ein gewisser Muḥammad al- Ḥanafī angeführt, den allerdings niemand unter diesem Namen kennt. Es handelt sich aber um keinen anderen als um Ibn Iyās, der die osmanische Eroberung Syriens und Ägyptens des Jahres 1517 in seinem bekannten Geschichtswerk beschreibt und um 1524 gestorben ist. Die dort geschilderten Taten sollen dann ganze 350 Jahre später zum arabischen Nationalismus geführt haben? Ein solch aberwitziger Umgang mit Geschichte ist allerdings symptomatisch für das ganze Buch.

„Nicht der Salafist ist gefährlich, sondern der muslimische Kinderarzt“

In seiner Darstellung der Geschichte verschont der Vf. niemanden. Kein einziger Herrscher, Theologe oder Literat erscheint in positivem Licht: Überall nur Schufte und Schurken, niemand, auf den man sich heute berufen könnte. Doch in der Gegenwart scheint es nicht viel besser auszusehen, sind doch die allermeisten Muslime durch 1400 Jahre Gängelung manipuliert und in einem, wie Adorno sagen würde, Verblendungszusammenhang gefangen. Deshalb ist der Islam, „wie er sich heute den meisten Muslimen wie Nichtmuslimen präsentiert […], eine manipulierte Version dieser Religion“ (7). Dieses Beharren auf einer einzigen Wahrheit – der eigenen – und die Verneinung der Geschichte sind Merkmale des Fundamentalismus, in denen sich K. mit Wahhabiten und Salafisten einig ist. Deshalb gelten ihm auch nicht diese als die gefährlichsten Muslime, sondern die Vertreter des „politischen Islams“: „Allerdings sind wir jetzt mit einer viel gefährlicheren Ideologie konfrontiert: der des politischen Islams. Sie ist deshalb gefährlicher, weil sie versucht, die Gesellschaft subtil zu unterwandern. Bekennt sich der Salafist zu seiner salafistischen Ideologie […], zeigt sich der Anhänger des politischen Islams als gut integriert, ist meist gut ausgebildet, modebewusst, trägt, wenn er ein Mann ist, nicht selten Anzug, spricht von Integration […]. Er distanziert sich von Salafismus und Extremismus, beteiligt sich sogar aktiv an Aktionen und Projekten gegen den Extremismus und zeigt nicht selten Zivilcourage.“ (99) Mit anderen Worten: Nicht der Salafist mit dem Zauselbart ist gefährlich, sondern der muslimische Kinderarzt im Anzug, der für den Integrationsrat kandidiert. Was soll mit einem solchen Pauschalverdacht bezweckt werden, der leicht in Verschwörungstheorien münden kann? Und tut er dies nicht schon hier, wenn auch bei K. unmittelbar darauf die Warnung folgt, dass der politische Islam ja die Weltherrschaft anstrebe (101)?

Solche wissenschaftlicher Argumentation letztlich nicht mehr zugänglichen Behauptungen lassen keinen Raum mehr für Differenzierungen. Doch trifft es schlechterdings nicht zu, dass es „im Islam“ per se keine „Trennung von Politik und Islam“ gegeben habe – das Verhältnis war, wie der Münster’sche Exzellenzcluster „Religion und Politik“ seit vielen Jahren aufzuzeigen versucht, ein sehr komplexes. Studien professioneller Historiker und Islamwissenschaftler, die K. fast gänzlich entbehrlich zu sein scheinen, hätten ihn eines Besseren belehren können. Ebensowenig ist es richtig, dass es einen politischen Islam als einheitliches Phänomen gibt. Im Islam kann, wie in jeder anderen Religion auch, politisches Engagement sehr unterschiedliche Formen annehmen. Der politische Katholizismus etwa hat vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis hin zur frühen Bundesrepublik Großes für die Demokratie Deutschlands und die Herausbildung des Sozialstaats geleistet. Vom Austrofaschismus rechts bis zur Befreiungstheologie links kann „politischer Katholizismus“ allerdings vieles sein, manches gut, manches schlecht, und das wird sich mit dem Islam kaum anders verhalten. Aber für solche Ambiguitäten hat K. nichts übrig.

Alternativkonzept zum „politischen Islam“?

Wie sieht nun sein Alternativkonzept aus? Es soll dies kein „politischer“, sondern ein „ethischer und spiritueller“ Islam sein. Im Buch war von einem solchen bisher noch nicht viel die Rede. Die wichtigste spirituelle Ausprägung des Islams wurde in einem Nebensatz abgetan: „Außerhalb der islamischen Mystik gelang es den Muslimen kaum, eine Theologie zu entfalten, die die Gott- Menschen-Beziehung als Freiheits- und Liebesbeziehung verstand.“ (76) Doch warum von der Mystik absehen? Sie ist keineswegs, wie gelegentlich angenommen, eine Richtung des Islams, sondern in allen Richtungen ein untrennbarer Bestandteil, ebenso wie Dogmatik und Recht, und zwar, wo nicht salafistischer Wahn wütet, bis heute. Tatsächlich hat die Mystik den Islam stärker geprägt als etwa das nachreformatorische Christentum. Viele Christen haben ihrerseits islamische Spiritualität in Gestalt des Sufismus intensiv rezipiert, und gerade die katholische Rezeption islamischer Mystik von Louis Massignon bis Richard Gramlich liefert wichtige Bausteine interreligiöser Theologie und Spiritualität. K. kann damit aber nichts anfangen. Für ihn besteht das, was er „Spiritualität“ nennt, schlicht darin, das „autonome Selbst“ zu entfalten. Es ist zwar hochgradig unplausibel, dass Muhammad (der „die Stoßrichtung vorgegeben hat“ [228]) das lehren wollte, und 1400 Jahre lang hat das auch niemand behauptet. K. aber deutet nun die erste Sure des Korans, eigentlich eine Art islamisches Gloria, zu einem Siebenpunkte-Programm der Selbstfindung um (154–173): „Der Koran beschreibt sieben Dimensionen der Selbstfindung als Angebot an jeden, der sich befreien und sich endlich als selbstbestimmtes Subjekt wahrnehmen will.“ (154) Das geht natürlich nicht ohne heftige Falschübersetzungen (befremdlicherweise findet sich auf S. 189 die richtige Übersetzung), aber anders lässt sich die „Kernbotschaft Muhammeds“ (135) nicht als eine Art Motivationstraining verstehen. Und so prasselt auf den Leser das ganze Vokabular der Ratgeberliteratur herab, gewissermaßen nach dem Motto „Durch den Islam zum Erfolg“: Wir sollen „achtsame Menschen“ sein und überall „nach dem Positiven“ suchen (159), denn es geht um „Räume für positive Erfahrungen“ (163). „Daher gehört zum Glauben, sich mit dem Positiven in seinem eigenen Leben und im Universum zu verbinden.“ (220) Es werden „Energien entfaltet“ und „Potentiale in uns“ aktiviert (165). „Und diese Energie steht jedem zur Verfügung, unabhängig davon, ob er an Gott glaubt oder nicht.“ (166) Merke: „Wer über eine starke Willenskraft verfügt und sich auf langfristige Ziele konzentriert, hat bessere Chancen, ein erfolgreiches und zufriedenes Leben zu führen.“ (169) Deshalb müssen wir auch unseren präfrontalen Cortex „trainieren und möglichst auf Hochtouren bringen, denn er ist der Wächter über unsere Handlungen und Entscheidungen“. Da hilft v. a.: „Die Kraft des positiven Denkens“, das uns „von allen negativen Emotionen“ befreit (171).

„Aufgeklärter Islam ohne religiöse Zumutungen“

So verbindet sich ein New Age-Islam, angelehnt an die Esoterik des ausgehenden 20. Jh.s, mit dem für das frühe 21. Jh. so typischen Konzept der „Achtsamkeit“, bei dem ja nicht die Rücksichtnahme auf andere gemeint ist, sondern das „achtsame“ Hineinhorchen in sich selbst. Deshalb kann K. auch mit der Mystik, der Prophetenverehrung (die einige der schönsten arabischen Gedichte hervorgebracht hat) oder dem Gebet wenig anfangen. Bei all diesen Formen der Spiritualität geht es schließlich darum, aus sich herauszuhorchen, auf etwas Anderes hinzuhören, ja, im Falle der Mystik (der islamischen wie der christlichen) gar bis hin zur Auslöschung des Ich. K.s Managerspiritualität besteht dagegen im Hineinhorchen in das vermeintlich wahre Ich, in die Stärkung des Ich und die „Befreiung des autonomen Subjekts“. Die ethische Dimension, die immer wieder erwähnt wird, besteht schließlich auch nicht in solchen Konzepten, wie sie Miskawayh entwickelt hat, sondern schlicht darin, anderen zur Entfaltung ihres Subjekts zu verhelfen: Selbstfindungstraining als Nächstenliebe.

Und das soll alles gewesen sein? Keine Geschichte, keine Mystik, kein Recht, keine Politik, keine Philosophie, keine Theologie, ja eigentlich überhaupt keine Kultur, nur subjektstärkende Selbstverwirklichung? Braucht man dafür überhaupt Religion? K. gibt selbst die Antwort: „Daher halte ich nichts von der verbreiteten Unterscheidung zwischen Gläubigen und Ungläubigen, Theisten, Atheisten und Agnostikern. Das sind irreführende und überholte Kategorien.“ (224) Kein Wunder, dass K. zu der wohl eher seltenen Spezies von Theologen gehört, denen es peinlich ist, dass die von ihnen zu lehrende Religion so viele gläubige Anhänger hat. Das „sorgt für Irritationen und bringt den Islam als Religion in Verruf“ (10). Auffällig ist, dass er auch nie vom liberalen Islam spricht, jener Richtung, der man ihn oft selbst zugerechnet hat. Doch während sich die Vertreter jenes liberalen Islams konstruktiv und kontrovers mit den kanonischen Texten des Islams, seiner Geschichte und seinen Denkern auseinandersetzen, ist davon bei K. kaum mehr etwas übrig. Deshalb spricht er auch nur von einem „aufgeklärten“ Islam, der von religiösen Zumutungen weitgehend gereinigt ist.

Das wird ihm viel Zustimmung verschaffen, von welchen Seiten auch immer. Über den Islam als Religion, seine Geschichte und Gegenwart, seine Theologie und Spiritualität, erfährt man darin nichts. Kaum denkbar auch, dass hiervon Impulse für innerislamische Diskussionen oder interreligiöse Gespräche ausgehen könnten. Anders als politisch kann und wird dieses Buch, das sich gerade gegen den politischen Islam richtet, gar nicht diskutiert werden.

Erstveröffentlichung in der Theologischen Revue. 116. Jahrgang, September 2020. Prof. Dr. Thomas Bauer. Zwischentitel durch Redaktion hinzugefügt. Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0

Leserkommentare

Johannes Disch sagt:
@Tarik (21.09.2020, 12:36, 12:37, 13:20) Ulrich Rudolphs Replik auf Bassam Tibi ist keineswegs brilliant, sondern geht am Thema vorbei. Was aber nicht verwunderlich ist für die deutsche Islamwissenschaft, die zwischen Islamophobie (Carl-Heinz Becker, der Begründer der deutschen Islamwissenschaft) und der aktuellen Islamophilie (Thomas Bauer, Frank Griffel, etc.) pendelt, und sich einen "Homo Islamicus" bastelt, den es in der Realität nicht gibt. Ebenso wenig wie es eine Säkularisierung im Islam gab. Auch das bastelt sich Thomas Bauer zusammen. Tibi liegt nämlich keineswegs falsch mit seinem Narrativ von der "unterdrückerischen Orthodoxie." Das Tor des "Idschtihad"-- der freien Urteilsbildung-- war ab dem Jahr 1200 für die nächsten 800 Jahre dicht. An dieser Tatsache haben auch die Arbeiten von Bauer und Griffel nichts geändert. Besonders bei Frank Griffel ("Den Islam denken") wird der deutsche Selbsthass deutlich: "Der Islam kannte keine Reformation und keine Aufklärung. Dabei hatt der Islam beides gar nicht nötig. Sein Unglück war der Westen." Und Thomas Bauer sekundiert:, dass "...der Westen im radikalen Islamismus der Fratze seiner eigenen Ideologisierung der Welt in die Augen blickt." (Thomas Bauer in seinem Kuschel-Islam-Buch: "Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam.") Das ist in der Tat eine andere Geschichte des Islam als seine Realgeschichte. Das ist der "Homo Islamicus", den sich die islamophile aktuelle deutsche Islamwissenschaft zurecht bastelt. Klar: Nicht im Islam, nicht in der islamischen Welt isst etwas schief gelaufen. Der Westen ist schuld (Griffel) und der Islamismus ist nur ein Spiegelbild westlicher Ideologie (Bauer) Deutscher Selbsthass und Hass auf den Westen per excellence. Von den tatsächlichen politisch-soziologischen Ursachen des zeitgenössischen Islamismus/Neo-Djihadismus sind Griffel, Bauer & Konsorten meilenweit entfernt. Es kann sich gerne jeder selbst ein Bild machen, welcher Standpunkt ihn mehr überzeugt, der von Tibi oder der von Rudolph/Bauer/Griffel: -- Bassam Tibi. "Die Deutschen und der Islam: Sie pendeln zwischen Verteufelung und Verherrlichung" (NZZ, 18.01.2018) -- Ulrich Rudolph: "Zerrbilder der Islamwissenschaft: Eine Widerrede zu Bassam Tibi" (NZZ, 25.01.2018) Beide Artikel sind leicht im Netz zu finden. Es gebietet die Fairness, nicht nur auf die Widerrede hinzuweisen, sondern auch auf Tibis Artikel.
22.09.20
11:38
Salim Spohr sagt:
Mouhamad Khorchides neues Buch „Gottes falsche Anwälte“ — ein Verrat am Islam? Eine Anmerkung zu den Rezensionen des Buches durch Ali Mete und Thomas Bauer In ihren, wie ich finde, sehr hilfreichen Rezensionen des neuen Buches von Mouhamad Khorchide, „Gottes falsche Anwälte“, üben Ali Mete und Thomas Bauer doch gleichermaßen Kritik an der Grundthese des Autors, der Islam sei schon kurze Zeit nach dem Tode des Propheten ﷺ von einer Botschaft der „Befreiung des Menschen zu selbstbewußten Subjekten“ nämlich in ein Instrument verwandelt worden, die Menschen zu gehorsamen Objekten zu machen. Und beide Rezensenten kritisieren in schöner Weise die Umdeutung des Zwecks der Religion des Islam in ein Programm der Selbstfindung: „Der Koran beschreibt sieben Dimensionen der Selbstfindung als Angebot an jeden, der sich befreien und sich endlich als selbstbestimmtes Subjekt wahrnehmen will.“ (Khorchide, S. 154 (nach Bauer)). Diese Passage erinnert mich an die Zeit der 68-er und die Unbedarftheit gruppendynamisch orientierter Suche nach dem Übersinnlichen und jenen Turnhallen-Angeboten „vormittags Yoga mit Sabine und nachmittags Tantra mit Michael (bitte eine Wolldecke mitbringen!)“. Hierzu paßt auch die laissez-faire-artige Verharmlosung der Höllenstrafen zu bloßen Metaphern. Daß der Autor sich dabei zu Unrecht auf Imam al-Ghazali beruft, welcher am Ende seines „Tahâfut al-Falâsifa“ diese Ansicht in Wahrheit sogar „als Unglauben“ brandmarkt, wie Ali Mete sachkundig nachweist, ist nurmehr ein weiteres Zeichen jenes Mangels an Sorgfalt, der im Felde der Religionswissenschaft gar nicht erlaubt sein kann. Daß der Autor im Entwurf einer neuen Spiritualität die Mystik aber außen vor läßt, moniert Thomas Bauer in einer treffenden Richtigstellung: Diese sei nämlich „keineswegs . . . eine Richtung des Islams, sondern in allen Richtungen ein untrennbarer Bestandteil, ebenso wie Dogmatik und Recht, und zwar, wo nicht salafistischer Wahn wütet, bis heute“. Angesicht einer wohl übermächtigen Inanspruchnahme solcher Items wie „Selbstbestimmung“, „Selbstfindung“ „selbstbewußter Subjekte“ erscheint der Hinweis darauf erlaubt, wenn nicht gar als geboten, daß das „Selbst“, arabisch „nafs“ geheißen, unter Muslimen als Vertreter Shaiṭans in uns gilt. Die existenzphilosophische Umdeutung der Religion des Islams durch den Autor in ein Unternehmen der Selbstfindung durch Befreiung von Fremdbestimmung scheint in einem gravierenden Unverständnis dessen ihren Grund zu haben, daß der Muslim sich eo epso als Diener seines Herrn versteht und nur verstehen kann und gerade darin seine Würde, seine Schönheit, seine Kraft und auch eine neue Art von Freiheit erfährt, wie es im Titel einer Sammlung von Ansprachen Sheikh Nazim Efendis, „Islam. Freiheit der Dienenden“ anklingt. Dem Herrn der Welten gegenüber aber erscheint es mit Blick allein auf die Anzahl Seiner 99 „Schönen Namen“ als klare Blasphemie, Ihn zu einer Art Schmuse-Gott zu verkürzen, der nur lieb und nett wäre. Nein. Angesichts so vieler Fehler und Ungereimtheiten frage ich mich, was denn das Motiv des Mouhamad Khorchide für den Entwurf seiner Wellness-Spiritualität hätte gewesen sein können. War es vielleicht so etwas wie das Streben nach öffentlichem Beifall? Ich hoffe nicht, denn der wäre in diesem Felde, wie Immanuel Kant einmal gesagt hatte, nur wie das „Zuklatschen der Menge, darüber der Philosoph errötet, der populäre Witzling aber triumphiert und trotzig thut“. Obwohl ich das neue Buch Mouhamad Khorchides selbst gar nicht besitze, es mir nur mittels genannter Rezensionen und einiger Leserbriefe bekannt wurde, lockt es mich doch nicht, noch mehr über es zu erfahren oder es gar zu erwerben. Auch wenn bestimmte Kreise am Tenor des Buches Gefallen finden möchten, so glaube ich auch nicht, daß es sich gut verkauft. Das scheint neben anderem schon von einer extrem unglücklichen Covergestaltung verhütet zu werden, der in ihrer Farbgestaltung einer roten Schrift des Haupttitels, „Allahs falsche Anwälte“, auf schwarzem Grund etwas nachhaltig Häßliches, wenn nicht gar Shaiṭānisches anhaftet. Da frage ich, was es für Gründe dafür gegeben haben mag, daß ein, wie ich dachte, muslimisch orientierter Autor seinen Titel beim christlichen Herder Verlag in Freiburg erscheinen läßt. Und was ist mit dem gehässig anmutenden Untertitel „Verrat am Islam“, stammt der vom Autor selbst oder war das die Idee eines übereifrigen Lektors? Dieser hätte damit aber, ohne es selbst vielleicht zu bemerken, möglicherweise eine treffende Beschreibung dessen gegeben, was es mit dem ganzen Buche überhaupt vielleicht auf sich haben könnte, ein Verrat nämlich am Islam zu sein.
22.09.20
14:33
Balken im Auge sagt:
Thomas Bauer Kritik hat Substanz und in Fachkreisen sind Khorchides Schwächen weitgehend bekannt. Wenn New-Age Jünger Herrn Bauer hier ad hominem angehen und nur noch Konkkurenzeifer unterstellen können, geht das auf den Kulut zurück, den Khorchide und andere um sich aufbauen. Es ist eigentlich ziemlich egal was sie schreiben, wichtiger ist als was schreiben und wogegen. Irgendwann platzen diese Blasen, das ist immer schon nur eine Frage der Zeit gewesen. Bauer geht hier seiner Zeit wieder mal etwas voraus.
22.09.20
15:39
Tarik sagt:
Zu Salim Spohrs treffender Ergänzung gibt es nicht viel hinzuzufügen. Abschließend an Johannes Disch: Es ist häufig so dass man von anderen Meinungen am meisten lernt. Insofern stört mich an Bassam Tibis Meinung überhaupt nichts. Und darum geht es auch gar nicht. Geschichte ist eine Wissenschaft für sich. Ich werfe es den Orientalisten des 19. und 20. Jahrhunderts gar nicht vor, die – ebenfalls widerlegte These – dass „ab dem Jahr 1200 das Tor des Idschtihad geschlossen gewesen“ sei. Was Thomas Bauer seinerzeit veröffentlichte, war bereits akademischer Mainstream, zumindest international. Europa übersetzte das, was man aus Andalusien mitbekam und irgendwann in der Rennaissance war das, was man bis dahin aus der arabisch-persischen Welt bekam, übersetzt. Man interessierte sich allerdings nicht mehr dafür, was in der Islamischen Welt an Gelehrsamkeit weiter geschah. Es sind mittlerweile ganze Kompendien veröffentlicht, die aufzeigen, dass sehr wohl weiter philosophiert wurde. Und das Prinzip des „Taqlid“ hieß mitnichten, dass keine freie Urteilsbildung mehr erlaubt war. Das war sie sehr wohl, aber angesichts des angesammelten Wissens und des ausgeklügelten Systems, das sich über Jahrhunderte generationsübergreifend sammelte, konnte nicht jeder Hinz und Kunz daherkommen, und eine Fatwa erstellen. Ein „Mutschahid“, also jemand, der eigene Urteile erstellt, musste ein für heutige Verhältnisse schwindelerregendes Wissensniveau haben. Lesen Sie Abdal Hakims Murad Essay „Understanding the four Madhdhabs“ oder Wael Hallaqs Buch „Was the gate of Itdschdihad ever closed?“ (spoileralarm: No). Schauen Sie sich meinetwegen einen youtube-Vortag des preisgekrönten Philosophiehistorikers Peter Adamson an über den „Taqlid“. Sehr zu empfehlen ist sein international sehr erfolgreicher Podcast, zu ergoogeln) (Kapitel zu Islamischer Philosophie bsp.) - sofern die mehrere Bänder umfassenden aktuellen Kompendien wie bsp. Von Cambridge herausgegeben, die den derzeitigen Wissens- und Erkenntnisstand zur Geschichte der Islamischen Theologie sehr gut aufzeigen. Insofern ist dieser Satz hier: "Das Tor des "Idschtihad"-- der freien Urteilsbildung-- war ab dem Jahr 1200 für die nächsten 800 Jahre dicht. An dieser Tatsache haben auch die Arbeiten von Bauer und Griffel nichts geändert." letztlich eine Meinung, die man sehr wohl haben kann. Mehr aber auch nicht. Und der derzeitige internationale Forschungsstand hat dies eindrucksvoll widerlegt. Verständlich. Vor 50 Jahren gab es bsp. Noch kein Verfahren, wie man alte Manuskripte, die in alten Bibliotheken vor sich hinstauben, digitalisiert und so altes Wissen Studierenden und Forschern zugänglich macht. Ich verstehe, dass Bassam Tibi sich darüber erbost, das zeigt auch sein ziemlich polemischer Ton. Nur haben Emotionen in der Gelehrsamkeit nichts verloren.
22.09.20
21:31
Johannes Disch sagt:
@Tarik (21.09.2020, 18:35) Es ist zwar richtig, dass die Unterteilung der Welt in ein "Dar Al Harb" ("Haus des Krieges") und ein "Dar Al Islam" ("Haus des Friedens"-- und Frieden ist nach dieser Doktrin erst erreicht, wenn die ganze Menschheit sich zum Islam bekannt hat--) ein postkoranischer Konsens ist. Aber unter den meisten tonangebenden islamischen Ideologen ist er nach wie vor gültig. Auch unter sogenannten "Reformern" oder "liberalen Muslimen." Sie nennen es inzwischen nur anders. Es ist einfach ein Austausch von Etiketten. Alter Wein in neuen Schläuchen. Eben Etikettenschwindel. Der Islamist Tariq Ramadan-- der von manchen Gutgläubigen hier im Westen fälschlicherweise unter der Rubrik "Reformer" geführt wird-- nennt es "Dar Al Schahada" ("Haus des Bekenntnisses"). Andere verwenden den Begriff "Al Taghallub", was "Dominanz" (des Islam) bedeutet. Das alles ist mit den Werten der liberalen Demokratie nicht vereinbar. Seinen Überlegenheitsanspruch und seinen absoluten Wahrheitsanspruch muss der Islam aufgeben. Alle Religionen sind als gleichwertig zu betrachten. Sie sind gleich wahr bzw. gleich falsch. Ebenso muss es problemlos möglich sein, den islamischen Glauben azulegen, ohne der Apostasie (Lossagung vom islamischen Glauben) bezichtigt und zum Kafir (Ungläubigen) erklärt zu werden und deshalb um sein Leben fürchten zu müssen. Und es gibt noch mehr, was Muslime ad acta legen müssen, beispielsweise die Verbindung von "Hidschra" (Flucht) und "Dawa" (die Pflicht zur Missionierung zum Islam). Das ist eine koranische Kerndoktrin. Und heute bringen Muslime durch Migration diese Doktrin vermehrt nach Europa. Zu ändern hat der Islam ebenfalls sein Menschenbild, will er mit den Werten des Westens kompatibel sein. Das theologisch zentrierte Menschenbild-- wonach der Gläubige in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Gott steht-- ist abzulösen durch eein anthroprozentrisches Menschenbild, wo das autonome Subjekt, das autonome Individuum im Mittelpunkt steht. Man sieht: Eine Menge Reformbedarf im Islam, will er tatsächlich in Europa ankommen. Ach, da ich gerade das autonome Subjekt erwähnte: Der islamische Mystiker Al-Halladsch erzählte von einem Gespräch mit Gott. -- "Ich habe ihn gefragt: Wer bist Du? Er sagte: Ich bin Du." Gott wird hier also vermenschlicht. Der Sufi Al-Halladsch wurde dafür im Jahre 920 in Bagdad hingerichtet. So viel zum angeblich so großen Einfluss des Sufismus und der Bauer´schen "Ambiguitätstoleranz" im Islam....
23.09.20
10:21
Johannes Disch sagt:
Wie schrieb Vera von Praunheim hier am 20.09. treffend? Ein Autor, der-- wie Bauer-- Ambiguität predigt, müsse selbst welche aushalten. Genau. Nachdem sich Thomas Bauer so ausführlich mit den Fehlern bei Khorchides Buch ausgelassen hat, kommen wir doch mal zu den (eklatanten) Fehlernin seinem eigenen (viel zu sehr) gepriesenen Buch "Die Kultur der Ambiguität" (2011) Ambiguität mag es in der arabischen Dichtkunst gegeben haben, auf die sich Bauer fokussiert, nicht aber in der Realgeschichte des Islam. Es gab sie nicht--oder nur äußerst selten-- in der Realgeschichte des Islam. Das ist genau der Hauptvorwurf Tibis an die Adresse Bauers. Dass er diese notwendige Unterscheidung nicht vornimmt. Und der Status eines "Dhimmi"-- eines "Schutzbedürftigen"-- ist keineswegs ein gleichwertiger Status zu einem Muslim. Auch die Bezeichnung von Juden und Christen als "Schriftbesitzer" ist keineswegs als dankenswert zu betrachten. Auch das war eine Herabsetzung. Jedenfalls war es weit entfernt von einer Gleichstellung. Alles Dinge, die den Eindruck erwecken, Bauer betreibt Schönfärberei. Gar in Richtung Altherren-Chauvinismus driften die Passagen über Sexualität. Da wird das ausschweifende Sexualleben der Männer gefeiert-- "Wohlhabende konnten sich sogar Konkubinen leisten"-- und die Opfer werden unterschlagen. Konkubinen wurden ausgebeutet und auf dem Sklavenmarkt verkauft. Das erinnert doch alles sehr an die Verklärung des Islam in der Romantik. An schwülstige Haremsfantasien a la Goethe ("West-Östlicher Diwan"). Auch hier erhärtet sich der Vorwurf Tibis an Bauer: Statt Verteufelung das andere Extrem der deutschen Islamwissenschaft, nämlich Verklärung. Dazu die Dichotomie, die westliche Sexualmoral schwarz-weiß zu zeichnen. Also keine Spur der im Titel so gepriesenen "Ambiguität." -- "Musste nicht vor wenigen Jahren ein US-Präsident wegen einer Sex-Affäre zurücktreten?" ("Eine Kultur der Ambiguität", S. 300) (Gemeint ist Clintons Affäre mit Monica Lewinsky) Nein, verehrter Herr Bauer, das musste er nicht. Vollkommen absurd und geschichtsklitternd wird es, wenn Bauer Sayyid Qutb; --den Godfather des modernen Islamismus/Djihadismus,-- allen ernstes als "Märtyrer" einordnet! (S. 400) Bin Ladn hat in seinen Videobotschaften ständig aus den Schriften Qutbs zitiert. Qutbs "Wegzeichen" ist die Bibel der Islamisten/Terroristen, vergleichbar mit Marx "Kommunistischem Manifest" für Kommunisten. Den Mann, der ideologisch verantwortlich ist für Tausende von Toten, für zig Terroranschläge weltweit in den letzten 4 Jahrzehnten, als "Märtyrer" zu klassifizieren, das ist schon ein starkes Stück! Dagegen wirken die Fehler in Khorchides Buch wie vernachlässigenswerte Randerscheinungen. Ach ja, Israel-Bashing darf bei so einem Rundumschlag gegen den Westen natürlich auch nicht fehlen: Israel wird als Kolonialstaat diffamiert (S. 399). In Wahrheit ist Bauers Buch nicht weniger ideologisch als das vieler Schwarz/Weiß-Islam-Basher. Der Westen hat dem sexuell ach doch so freizügigen und ambiguitätstoleranten Islam durch seine rigide Sexualmoral und seinem Beharren auf Eindeutigkeit in religiösen Fragen und seinen Kolonialismus die Liberalität ausgetrieben. Von der christlich-westlichen Ambiguität scheint Bauer hingegen noch nie etwas gehört zu haben. -- "Aber die Ambiguitäten der übertragenen Wörter, von denen wir im Anschluß reden müssen, verlangen überdurchschnittliche Sorgfalt und Anstrengung." (Augustinus, "De Doctrina Christiana", 3. Buch).
23.09.20
13:24
Tarik sagt:
@ stratmann Sie verstehen den Begriff "defensiv" falsch bzw. zu eng. Hier ist nicht eine rein expansive Politik (nur) gemeint, sondern eine grundsätzlich offene Haltung. Eine, die sich nicht gegen andere Kulturen und Zivilisationen verschließt, sondern, dass bereit ist, nach Wissen zu streben "sei es auch in China". Es ist übrigens interessant, wie seinerzeit die muslimischen Chronisten ihre eigene Expansion zu rechtfertigen versuchten. So hieß es bsp., dass die von Westgoten unterdrückten Juden die Muslime um Hilfe gerufen hätte, und um "die Vergewaltigung von Florinda zu rächen". Dies ist natürlich ein Mythos, aber es zeigt auf, wie man selbst dies sah. Als eine Art Projekt, die gerechte Botschaft in die Welt hinauszutragen. Übrigens: Aus genau denselben Gründen betrieben die Kolonialmächte ihre eigene imperiale Politik. Sie überfielen ja nicht einfach den Vorderen Orient. Sondern sie begründeten dies damit, ihre als univesell deklarierten Werte (die alle paar Jahrzehnte "modifiziert" werden) in die Welt hinauszutragen. Der Begriff der "Aufklärung", der den historischen Prozess meint, ist ja irreführend. Nur im Deutschen spricht man von "Aufklärung" - sozusagen die Überwindung des "kindlichen" Glaubens an einen Gott, so wie man Kindern das mit den Bienchen und Blümchen erklärt. Aber in allen anderen Sprachen nennt man das "Erleuchtung" - was schon sehr viel religiöser klingt, denn es meinte den Glauben an Fortschritt und den Kampf gegen das "Dunkle", namentlich die Kirche. Und dies galt es in die Welt hinauszutragen.
24.09.20
9:51
Tarik sagt:
@ Johannes Disch Thomas Bauers Arbeiten haben Sie offenkundig überfordert. Weil er - übrigens als einer von vielen gegenwärtigen Forschungsarbeiten - ihr Bild, dass sie sich über die Zeit zusammengelesen haben, zum Einsturz bringt. Sehen Sie, wenn ich mich über etwas informieren will, dann befasse ich mich mit den Grundlagen. Wenn ich - um ein Beispiel zu nennen - den Liberalismus kritisiere, dann tue ich das nicht, weil ich linksmarxistische Essays lese oder mich auf Karl Marx berufe. Sondern gerade WEIL ich John Locke, Adam Smith, David Ricardo, Max Weber etc studiert habe. Weil ich wissen will, was sind eigentlich die Kernanliegen? Warum glauben sie das? Was wollen Sie sagen? Man muss, bis zu einem gewissen Grad, die Welt und die Zeit aus ihren Augen betrachten. Nur so kommen sie zumindest soweit es möglich ist, in Richtung Objektivität. Bassam Tibi musste ein polemisches Essay verfassen, dass schon geradezu postfaktisch ist, damit Sie sich wieder ihrer eigenen Gewissheiten bewusst sind: "DER Islam muss", "der Islam soll" und so weiter. Ideologie und Polemik ist ganz nett im Feuilleton (das eh keiner liest), hat aber in der Akademie nichts verloren. Man erkennt dies, dass Sie im letzten Jahr noch Bauer gelobt haben, aber - Tibi sei dank - ist dieser plötzlich ideologisch. Sie sind leider nicht fähig, aus ihrem eigenen Denkschneckenhaus herauszukommen, was sicherlich schade für Sie persönlich ist, aber wer weiß. Vielleicht registrieren Sie sich ja irgendwann auf academia.edu und verbringen ihre Zeit weniger in Diskussionsforen - die Sie offensichtlich gegenüber Muslimen per se verbittert haben - oder durchforsten den Wald vor lauter akademischen Bäumen, die die Ambiguitätsthesen nur bestätigen. Und "Ambiguitätstoleranz" heißt mitnichten eine Gleichstellung von anderen Minderheiten. Natürlich waren die Muslime gegenüber anderen Religionsgruppen bevorzugt. Während in Europa nicht mal ein Existenzrecht für Minderheiten existierte, über lange Zeit hinweg. Selbst protestantische Unitarier, die verfolgt wurden, weil sie die Dreifaltigkeit ablehnten, fanden Unterschlupf im Osmanischen Reich. Und was die "geschlossenen Tore des Idschtihad" - die nie geschlossen waren, angeht. Im Zuge der Tanzimat-Reformen schafften die Osmanen offiziell sowohl die Todesstrafe für Apostasie ab, als auch den Dhimmi-Status für Nichtmuslime. Und sie begründeten das mit der hanafitischen Rechtsschule. Das Problem heute ist, dass es im Gegensatz zu früher keinen muslimischen Kernstaat mehr gibt. Stattdessen streiten drei Länder - Saudi Arabien, Türkei und Iran - miteinander um die Dominanz. Es ist kein Zufall, dass der Westen gerade Saudi Arabien unterstützt, nicht seit gestern, sondern seit einem guten Jahrhundert! Das Beispiel des kompletten Fehlverständnis anhand des Sufismus zeigt dies deutlich. Der Sufismus ist nichts anderes als die Islamische Psychologie. Obwohl sie im Koran latent und implizit vorhanden ist, wurde sie erst während der frühen Abbasidenzeit (750 – 950) in der islamischen Kultur systematisiert. Angesichts der Bedeutung, die der Koran dem Erhalt eines „gesunden Herzens“ beimisst, ist es nicht verwunderlich, dass der Einfluss der islamischen Psychologie massiv und allgegenwärtig gewesen ist. In den prägenden ersten vier Jahrhunderten des Islam, der Zeit, als die großen Werke von Tafsir, Hadith, Grammatik usw. verfasst wurden, widmeten sich die Ulema auch diesem Problem des qalb as-salim. Dies zeigte sich erstmals, als viele der frühen Asketen wie ibn Uyaynah (gest. 814), Sufyān ath-Thaurī (gest. 778) oder ibn al-Mubārak (gest. 794) nach dem Vorbild der Tabi'un (der zweiten Generation der Muslime) ihre Aufmerksamkeit explizit auf die Reinheit des Herzens gerichtet hatten. Die von ihnen empfohlenen Methoden lauteten häufiges Fasten und Nachtgebete, sich regelmäßig zurückzuziehen und ein Engagement als Murābata: dem freiwilligen Dienst als Wachposten in den Grenzbefestigungen des Reiches. Diese Art der religiösen Ausrichtung war zu dieser Zeit nichts Systematisches. Es war eher eine Art offene Rubrik, die all diejenigen mit einschloss, die die Erlösung durch die prophetischen Tugenden der Entsagung, der Aufrichtigkeit und der tiefen Hingabe an die Offenbarung suchten. Diese Männer und Frauen wurden verschiedentlich als az-Zuhhad (Asketen), Bakka'un (die Weinenden) oder 'Ubbad (die unermüdlich Betenden) bezeichnet. Ab dem dritten Jahrhundert des Islams (9. Jh. n. Chr.) finden man jedoch Texte, die als Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensschule verstanden werden können. Der zunehmende Luxus und Materialismus der urbanen Gesellschaft der Abbasidenzeit veranlasste viele Muslime, sich für eine Rückkehr zur Einfachheit des prophetischen Zeitalters stark zu machen. Die Reinheit des Herzens, das Mitgefühl für andere und ein stetiges Gedenken an Gott waren die bestimmenden Merkmale dieser Entwicklung. Ein wichtiges Element war die sogenannte Muhasaba: die Selbstprüfung und -hinterfragung (z.B. zur Reinheit der Intention). Ebenfalls im Fokus stand die Riyadah, die Selbstdisziplin. Zu dieser Zeit waren auch die Grundzüge der koranischen Psychologie ausgearbeitet. Das menschliche Geschöpf, so erkannte man, setze sich aus vier Bestandteilen zusammen: dem Körper (Jism), dem Verstand ('Aql), dem Geist (Rūh) und dem Selbst (Nafs). Die ersten beiden müssen nicht näher erläutert werden. Weniger vertraut (zumindest für Leute mit moderner Bildung) sind die dritte und vierte Kategorie. Es ist schwierig, dies rational zu verstehen, da es Teil der göttlichen Eingebung ist, wie es im Koran heißt: „Und sie werden dich nach dem Rūh fragen. Sag: „Dieser Rūh kommt auf Geheiß meines Herrn; und euch ist sehr wenig Wissen gewährt worden.“1 Nach Ansicht der frühen islamischen Psychologen ist der Rūh eine nichtmaterielle Realität, die den gesamten menschlichen Körper durchdringt, aber auf das Herz (Qalb) ausgerichtet ist. Es stellt den Teil des Menschen dar, der nicht von dieser Welt ist und der ihn mit seinem Schöpfer verbindet und der es, wenn er das Glück hat, ihm ermöglicht, Gott im Jenseits zu sehen. Die Rede ist also vom „göttlichen Funken“ im Menschen. Wenn wir geboren werden, ist dieser Rūh unversehrt und rein. Während wir in die Ablenkungen der Welt eingeweiht werden, wird sie jedoch von dem „Rost“ (Ran) bedeckt, von dem der Koran spricht. Dieser Rost wird durch zwei Dinge gebildet: Sünde und Ablenkung. Wenn diese durch den Prozess der Selbstdisziplin verbannt werden, so dass der Gläubige sich ganz auf die unmittelbare Gegenwart und Realität Gottes konzentriert, löst sich der Rost auf und der Rūh ist wieder frei. Das Herz ist gesund; Erlösung und Nähe zu Gott werden erreicht. Das klingt einfach genug. Die frühen Muslime lehrten jedoch, dass solch wertvollen Dinge nur zu einem angemessenen Preis zu haben sind. Den inneren Stall im Herzen auszumisten ist eine große Herausforderung. Die äußere Übereinstimmung mit den Regeln der Religion ist zwar recht simpel, aber es ist nur der erste Schritt. Weitaus anspruchsvoller ist die als Mudschāhada bekannte Strategie: der tägliche Kampf gegen das innere Selbst, den Nafs. Dazu heißt es im Koran: Aber für den, der in Furcht vor seines Erhalters Gegenwart gestanden haben wird und sein Nafs von niedrigen Wünschen zurückhielt, wird das Paradies wahrhaft das Ziel sein.2 Daher das Sufi-Gebot: Schlachte dein Ego mit den Klingen der Mudschāhada.3 Sobald der Nafs beherrscht wird, ist das Herz rein, und die Tugenden entwickeln sich daraus leicht und natürlich. Da ihr Ziel nichts Geringeres als die Erlösung ist, wurde diese wichtige islamische Disziplin von den großen Gelehrten des klassischen Islam kontinuierlich erläutert. Während es heute viele Muslime gibt, die - entweder von Wahhabiten oder Orientalisten beeinflusst - glauben, dass der Sufismus im Islam stets eine eher marginale, exotische Randexistenz führte, ist die Realität jedoch, dass die überwältigende Mehrheit der klassischen Gelehrten aktiv im Sufismus involviert war. Die frühen schafiitischen Gelehrten aus Chorasan wie al-Hakīm an-Nīsābūrī (gest. 1014), Ibn Fūrak (gest. 1015), al-Quschairī (gest. 1072) oder al-Baihaqī (gest. 1066) waren allesamt Sufis, die Verbindungen zu der reichen akademischen Tradition des abbasidischen Islam schufen, die in der Leistung von al-Ghazālī (gest. 1111) ihren Höhepunkt fand. Ghazālī selbst - Autor von etwa dreihundert Schriften, darunter seiner Philosophiekritik, drei umfangreichen Lehrbüchern der shafiitischen Rechtsschule, zwei Werke über Logik und mehreren theologischen Abhandlungen - hinterließ auch die klassische Darlegung des orthodoxen Sufismus: das wirkungsmächtige, vierzig Bände umfassende „Iḥyā' 'ulūm al-dīn“ („Die Wiederbelebung der Religonswissenschaften im Islam“), über welches spätere Gelehrte sagten: „Würden alle islamischen Bücher verloren gehen mit Ausnahme der Iḥyā', so würde sie jene voll ersetzen.“ Auch unter den malikitischen Gelehrten fand der Sufismus Verbreitung, der durch Gelehrte wie As-Sawi (gest. 1825), ad-Dardir (gest. 1786), al-Laqani (gest. 1631) oder Qadi 'Abd al-Wahhab (gest. 1035) vertreten wurde. Der malikitische Jurist asch-Schaʿrānī (gest. 1565) bsp. definierte den Sufismus folgendermaßen: "Der Weg der Sufis ist auf dem Koran und der Sunna aufgebaut und basiert auf einem Leben gemäß der Moral der Propheten und der Geläuterten. Er darf nicht verurteilt werden, sofern es nicht gegen eine explizite Aussage des Korans, der Sunna oder der Idschma (Konsens) verstößt. Wenn er keiner dieser Quellen widerspricht, so verbleibt kein Grund, ihn zu verurteilen, außer der eigenen geringschätzigen Meinung gegenüber Anderen oder das, was sie tun, als Zurschaustellung zu deuten, was unrechtmäßig ist. Niemand leugnet den Status der Sufis, außer jemanden, der über sie unkundig ist." Bei dem Sufismus hanbalitischer Prägung muss man nicht lange suchen, um bei angesehenen Autoritäten in Gestalt von ʿAbdallāh al-Ansārī (gest. 1089), al-Dschīlānī (gest. 1166), Ibn al-Dschauzī (gest. 1201) oder Ibn Radschab (gest. 1393) zu landen. Ihr Beispiel stammt aus dem abbasidischen Kalifat - den sie mit "dem Islam" gleichsetzen (!). Die Abbasiden waren grundsätzlich strikt gegenüber jeder anderen Lehrmeinung. Ibn Hanbal wurde dafür gefoltert, dass er nicht an die "Erschaffenheit des Korans" glaubte, auch Abu Hanifa verstarb im Gefängnis. Abgesehen von solchen Einzelfällen, die gerade im Vergleich zur wirklichen Inquisition tatsächlich nru Einzelfälle bleiben: Eine Unterdrückung "des Sufismus" hat es nicht gegeben. Ganz im Gegenteil, es enstanden in der späteren Abbasidenzeit ganze Futuwwa-Orden - während in Andalusien der Tasawwuf eher von einzelnen Lehrern gelehrt wurde, jeder mit einer eigenen Schülerschaft. Und dann in der Regel eine "Reise in den Osten" unternahmen, was man mit einer Reise zu den Wurzeln und zum Zentrum des Wissens gleichsetzte. Wie bsp. Ibn Arabi von Andalusien über Mekka nach Damaskus kam. Und ein ar-Rumi, der da sagte "Ich suchte nach Gott, und fand nur mich selbst, ich suchte nach mir und fand nur Gott" wurde im Osmanischen Reich verehrt - so wie auch heute in der Türkei - wie kaum jemand sonst. Von Nordafrika, und den bis ins 20. Jahrhundert weit verbreiteten eigenen sufischen Orden und deren bedeutenden Einfluss ganz zu schweigen
24.09.20
10:17
Tarik sagt:
Es ist übrigens bezeichnend, dass Tibi bei seiner Polemik auf die Nebenthemen Dichtung und Sexualität konzentriert. Bauer zeigt anhand konkreter Beispiele die Ambiguität in allen Bereichen auf. Was er zum Thema Entstehung und Lesarten schreibt, entspricht dem aktuellen Forschungsstand - siehe das FU-Projekt „Corpus Coranicum“ unter Leitung von Angelika Neuwirth (Autorin von „der Lor‘an als Text der Spätantike“) - ebenso Bauers Beispiele bzgl a) der Mehrdeutigkeit im Recht und der b) der faktischen Unabhängigkeit der Jurisprudenz. Damit bewegt er sich auf dem Mainstream der akademischen Forschung. Die Ambiguität ist unbestritten. Ebenso überzeugend ist der Vergleich zwischen einem einst ambiguitätstoleranten islamischen Welt (nicht zu verwechseln mit „ Gleichheit für alle“) und der heutigen Intoleranz dort. Ich sehe hier eine oft zu beobachtende Kritikresiszenz bzgl. der eigenen europäischen Geschichte“, dabei ist dies keine Frage von Schuld und Sühne. Worin das Neue an seinem Ansatz ist, inwieweit die Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten auszuhalten, sich auf Toleranz im Allgemeinen auswirkt. In der modernen Psychologie ist das zur Zeit ein viel diskutiertes Thema. Er weitete dieses Thema vom Individuum auf Gesellschaften im Allgemeinen, und dies ist eine spannende und aktuelle Frage Jenseits des Themefeldes Islam.
24.09.20
14:03
Johannes Disch sagt:
@Tarik (24.09.2020, 10:17) -- "Thomas Bauers Arbeiten haben Sie offenkundig überfordert." (Tarik) Sie haben mich einfach nicht überzeugt.
25.09.20
18:09
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