Mouhanad Khorchide stellt in seinem neuen Buch „Gottes falsche Anwälte“ einen nach seinem Verständnis „aufgeklärten Islam“ vor. Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaft und Arabistik, übt scharfe Kritik.
Wer reformieren will, muss auch manches einreißen, wer aber einreißt, muss auch wieder aufbauen. Etwas dieser Art hätte man, ausgehend von seinen bisherigen Schriften, auch von Mouhanad Khorchides neuem Buch erwartet. Doch schon der ungewöhnlich aggressive Titel lässt wenig Aufbau erhoffen, und tatsächlich wütet auf diesen 236 Textseiten die Abrissbirne sehr gründlich, ohne dass aus den Ruinen Neues erstünde.
Der erste Teil ist zunächst nicht etwa eine Kritik an der einen oder anderen Fehlentwicklung in der islamischen Geschichte, sondern deren Totalvernichtung. Schon bald nach dem Tod des Propheten fiel nämlich, meint K., der Islam zur Gänze machtversessenen Schurken in die Hände, die Muhammads Botschaft der „Befreiung der Menschen zu selbstbewussten Subjekten“ in ein Instrument verwandelten, die Menschen zu gehorsamen Objekten zu machen. Vom Ende des 7. Jh.s an soll der Islam dann fast 1400 Jahre ein Unterdrückungsinstrument geblieben sein, sonst nichts. Ein erster großer Fehler sei schon die frühe Expansion gewesen, weil sie den Islam mit dem persischen und dem oströmischen Reich in verderbenbringenden Kontakt brachte. Solches zu behaupten, ignoriert nicht nur die Tatsache, dass diese beiden Reiche und ihre Religionen längst vor dem Islam auf der arabischen Halbinsel höchst präsent waren, sondern auch, dass der Islam eine kurzlebige Sekte geblieben wäre, wäre er nur defensiv geblieben und nur auf die „Befreiung des Subjekts“ bedacht gewesen (was er ebensowenig war wie alle anderen vormodernen Religionen und Philosophien auch). Hätten die Muslime nicht ihre Rolle zwischen den Großmächten ihrer Zeit gesucht und gefunden, gäbe es den Islam schlichtweg nicht mehr.
Um die Geschichte der folgenden 1300 Jahre möglichst düster erscheinen zu lassen, werden nicht nur Fakten willkürlich herausgegriffen, sondern, weitestgehend ohne Rückgriff auf historische und islamwissenschaftliche Fachliteratur, auch höchst eigenwillig interpretiert. Dazu nur wenige Beispiele: Die Thronnamen der Abbasidenkalifen (zwischen die auch schon einmal ein Fatimide hineinrutscht), also Namen wie z. B. al-Mutawakkil ʿalā llāh „Der auf Gott vertraut“, sollen, anders als vom Vf. behauptet, keineswegs suggerieren, dass des Kalifen Wort unfehlbar und dem Wort Gottes gleichzusetzen ist, sondern Devotion bezeugen und versichern, dass der Kalif sein Amt nicht im Eigeninteresse führen, sondern Gottes Gesetz folgen will. Tatsächlich waren viele Abbasiden kultivierte, gottesfürchtige, oft sogar asketische Männer, die ihr Bestes gaben, aber nicht einmal Gesetze erlassen konnten, geschweige denn die Möglichkeit hatten, den „bedingungslosen Gehorsam“ all ihrer Untertanen zu erzwingen, selbst wenn sie gewollt hätten. Übrigens blieb das Kalifat auch unter den Abbasiden ein (wenn auch dynastisch gebundenes) Wahlamt, und kaum einem Kalifen ist es gelungen, seinen Wunschnachfolger zu installieren. Auch haben die Abbasiden nie ihre ursprüngliche Farbe Schwarz durch das Grün der Sassaniden ersetzt (so S. 55), sondern bis an ihr Ende 1517 das abbasidische Schwarz beibehalten. Das auf die Abbasiden folgende halbe Jt. findet dann bei K. erst einmal gar nicht statt, obwohl gerade für das Verhältnis zwischen Politik und Religion in den islamischen Großreichen, die sich nach 1500 etabliert hatten, eine umfangreiche Sekundärliteratur vorliegt.
K.s Abrechnung mit der Geschichte ist total. Während selbst die radikalsten Reformatoren noch den einen oder anderen Kirchenvater gelten ließen und muslimische Reformer in der rationalistischen Theologie der Muʿtaziliten oder in philosophieaffinen Denkern Vorbilder sahen, von denen man später leider abgekommen sei, bleibt bei K. niemand bestehen. So ist ausgerechnet al- Ǧāḥiẓ, der große und bezaubernde Denker und Literat des 9. Jh.s, sonst everybody’s darling, der erste, der K.s Geschichtsbashing zum Opfer fällt. Auch der 1030 verstorbene, allgemein hochgeschätzte Ethiker Miskawayh (der so ein einflussreicher Klassiker auch nicht gewesen sein kann, wie K. behauptet: Brockelmanns Standardwerk listet gerade einmal sechs Handschriften auf) fällt aus einem einzigen Grund der Verachtung anheim: Beide waren Perser, und Persien scheint nichts anderes gewesen zu sein als das Ursprungsland von Despotismus und Sklavenmoral. Wie in salafistischen Diskursen auch, spielen die kulturellen Leistungen islamischer Gesellschaften, die – man denke nur an das Mogulreich Indiens – der persischen Tradition so viel verdanken, keine Rolle. Ob wohl auch Dichter wie Rūmī und Ḥāfeẓ nichts als manipulierte Objekte eines politischen Islams waren?
Sonst sind es eigentlich weniger die Perser, die für alles Schlechte verantwortlich gemacht werden, sondern die Türken, die aber hier bis S. 123 warten müssen, bis sie an die Reihe kommen. Die vielen „Gräueltaten“, die die Osmanen den Arabern angeblich antaten, heißt es da, hätten nämlich zur Herausbildung des arabischen Nationalismus geführt. Als Quelle wird ein gewisser Muḥammad al- Ḥanafī angeführt, den allerdings niemand unter diesem Namen kennt. Es handelt sich aber um keinen anderen als um Ibn Iyās, der die osmanische Eroberung Syriens und Ägyptens des Jahres 1517 in seinem bekannten Geschichtswerk beschreibt und um 1524 gestorben ist. Die dort geschilderten Taten sollen dann ganze 350 Jahre später zum arabischen Nationalismus geführt haben? Ein solch aberwitziger Umgang mit Geschichte ist allerdings symptomatisch für das ganze Buch.
In seiner Darstellung der Geschichte verschont der Vf. niemanden. Kein einziger Herrscher, Theologe oder Literat erscheint in positivem Licht: Überall nur Schufte und Schurken, niemand, auf den man sich heute berufen könnte. Doch in der Gegenwart scheint es nicht viel besser auszusehen, sind doch die allermeisten Muslime durch 1400 Jahre Gängelung manipuliert und in einem, wie Adorno sagen würde, Verblendungszusammenhang gefangen. Deshalb ist der Islam, „wie er sich heute den meisten Muslimen wie Nichtmuslimen präsentiert […], eine manipulierte Version dieser Religion“ (7). Dieses Beharren auf einer einzigen Wahrheit – der eigenen – und die Verneinung der Geschichte sind Merkmale des Fundamentalismus, in denen sich K. mit Wahhabiten und Salafisten einig ist. Deshalb gelten ihm auch nicht diese als die gefährlichsten Muslime, sondern die Vertreter des „politischen Islams“: „Allerdings sind wir jetzt mit einer viel gefährlicheren Ideologie konfrontiert: der des politischen Islams. Sie ist deshalb gefährlicher, weil sie versucht, die Gesellschaft subtil zu unterwandern. Bekennt sich der Salafist zu seiner salafistischen Ideologie […], zeigt sich der Anhänger des politischen Islams als gut integriert, ist meist gut ausgebildet, modebewusst, trägt, wenn er ein Mann ist, nicht selten Anzug, spricht von Integration […]. Er distanziert sich von Salafismus und Extremismus, beteiligt sich sogar aktiv an Aktionen und Projekten gegen den Extremismus und zeigt nicht selten Zivilcourage.“ (99) Mit anderen Worten: Nicht der Salafist mit dem Zauselbart ist gefährlich, sondern der muslimische Kinderarzt im Anzug, der für den Integrationsrat kandidiert. Was soll mit einem solchen Pauschalverdacht bezweckt werden, der leicht in Verschwörungstheorien münden kann? Und tut er dies nicht schon hier, wenn auch bei K. unmittelbar darauf die Warnung folgt, dass der politische Islam ja die Weltherrschaft anstrebe (101)?
Solche wissenschaftlicher Argumentation letztlich nicht mehr zugänglichen Behauptungen lassen keinen Raum mehr für Differenzierungen. Doch trifft es schlechterdings nicht zu, dass es „im Islam“ per se keine „Trennung von Politik und Islam“ gegeben habe – das Verhältnis war, wie der Münster’sche Exzellenzcluster „Religion und Politik“ seit vielen Jahren aufzuzeigen versucht, ein sehr komplexes. Studien professioneller Historiker und Islamwissenschaftler, die K. fast gänzlich entbehrlich zu sein scheinen, hätten ihn eines Besseren belehren können. Ebensowenig ist es richtig, dass es einen politischen Islam als einheitliches Phänomen gibt. Im Islam kann, wie in jeder anderen Religion auch, politisches Engagement sehr unterschiedliche Formen annehmen. Der politische Katholizismus etwa hat vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis hin zur frühen Bundesrepublik Großes für die Demokratie Deutschlands und die Herausbildung des Sozialstaats geleistet. Vom Austrofaschismus rechts bis zur Befreiungstheologie links kann „politischer Katholizismus“ allerdings vieles sein, manches gut, manches schlecht, und das wird sich mit dem Islam kaum anders verhalten. Aber für solche Ambiguitäten hat K. nichts übrig.
Wie sieht nun sein Alternativkonzept aus? Es soll dies kein „politischer“, sondern ein „ethischer und spiritueller“ Islam sein. Im Buch war von einem solchen bisher noch nicht viel die Rede. Die wichtigste spirituelle Ausprägung des Islams wurde in einem Nebensatz abgetan: „Außerhalb der islamischen Mystik gelang es den Muslimen kaum, eine Theologie zu entfalten, die die Gott- Menschen-Beziehung als Freiheits- und Liebesbeziehung verstand.“ (76) Doch warum von der Mystik absehen? Sie ist keineswegs, wie gelegentlich angenommen, eine Richtung des Islams, sondern in allen Richtungen ein untrennbarer Bestandteil, ebenso wie Dogmatik und Recht, und zwar, wo nicht salafistischer Wahn wütet, bis heute. Tatsächlich hat die Mystik den Islam stärker geprägt als etwa das nachreformatorische Christentum. Viele Christen haben ihrerseits islamische Spiritualität in Gestalt des Sufismus intensiv rezipiert, und gerade die katholische Rezeption islamischer Mystik von Louis Massignon bis Richard Gramlich liefert wichtige Bausteine interreligiöser Theologie und Spiritualität. K. kann damit aber nichts anfangen. Für ihn besteht das, was er „Spiritualität“ nennt, schlicht darin, das „autonome Selbst“ zu entfalten. Es ist zwar hochgradig unplausibel, dass Muhammad (der „die Stoßrichtung vorgegeben hat“ [228]) das lehren wollte, und 1400 Jahre lang hat das auch niemand behauptet. K. aber deutet nun die erste Sure des Korans, eigentlich eine Art islamisches Gloria, zu einem Siebenpunkte-Programm der Selbstfindung um (154–173): „Der Koran beschreibt sieben Dimensionen der Selbstfindung als Angebot an jeden, der sich befreien und sich endlich als selbstbestimmtes Subjekt wahrnehmen will.“ (154) Das geht natürlich nicht ohne heftige Falschübersetzungen (befremdlicherweise findet sich auf S. 189 die richtige Übersetzung), aber anders lässt sich die „Kernbotschaft Muhammeds“ (135) nicht als eine Art Motivationstraining verstehen. Und so prasselt auf den Leser das ganze Vokabular der Ratgeberliteratur herab, gewissermaßen nach dem Motto „Durch den Islam zum Erfolg“: Wir sollen „achtsame Menschen“ sein und überall „nach dem Positiven“ suchen (159), denn es geht um „Räume für positive Erfahrungen“ (163). „Daher gehört zum Glauben, sich mit dem Positiven in seinem eigenen Leben und im Universum zu verbinden.“ (220) Es werden „Energien entfaltet“ und „Potentiale in uns“ aktiviert (165). „Und diese Energie steht jedem zur Verfügung, unabhängig davon, ob er an Gott glaubt oder nicht.“ (166) Merke: „Wer über eine starke Willenskraft verfügt und sich auf langfristige Ziele konzentriert, hat bessere Chancen, ein erfolgreiches und zufriedenes Leben zu führen.“ (169) Deshalb müssen wir auch unseren präfrontalen Cortex „trainieren und möglichst auf Hochtouren bringen, denn er ist der Wächter über unsere Handlungen und Entscheidungen“. Da hilft v. a.: „Die Kraft des positiven Denkens“, das uns „von allen negativen Emotionen“ befreit (171).
So verbindet sich ein New Age-Islam, angelehnt an die Esoterik des ausgehenden 20. Jh.s, mit dem für das frühe 21. Jh. so typischen Konzept der „Achtsamkeit“, bei dem ja nicht die Rücksichtnahme auf andere gemeint ist, sondern das „achtsame“ Hineinhorchen in sich selbst. Deshalb kann K. auch mit der Mystik, der Prophetenverehrung (die einige der schönsten arabischen Gedichte hervorgebracht hat) oder dem Gebet wenig anfangen. Bei all diesen Formen der Spiritualität geht es schließlich darum, aus sich herauszuhorchen, auf etwas Anderes hinzuhören, ja, im Falle der Mystik (der islamischen wie der christlichen) gar bis hin zur Auslöschung des Ich. K.s Managerspiritualität besteht dagegen im Hineinhorchen in das vermeintlich wahre Ich, in die Stärkung des Ich und die „Befreiung des autonomen Subjekts“. Die ethische Dimension, die immer wieder erwähnt wird, besteht schließlich auch nicht in solchen Konzepten, wie sie Miskawayh entwickelt hat, sondern schlicht darin, anderen zur Entfaltung ihres Subjekts zu verhelfen: Selbstfindungstraining als Nächstenliebe.
Und das soll alles gewesen sein? Keine Geschichte, keine Mystik, kein Recht, keine Politik, keine Philosophie, keine Theologie, ja eigentlich überhaupt keine Kultur, nur subjektstärkende Selbstverwirklichung? Braucht man dafür überhaupt Religion? K. gibt selbst die Antwort: „Daher halte ich nichts von der verbreiteten Unterscheidung zwischen Gläubigen und Ungläubigen, Theisten, Atheisten und Agnostikern. Das sind irreführende und überholte Kategorien.“ (224) Kein Wunder, dass K. zu der wohl eher seltenen Spezies von Theologen gehört, denen es peinlich ist, dass die von ihnen zu lehrende Religion so viele gläubige Anhänger hat. Das „sorgt für Irritationen und bringt den Islam als Religion in Verruf“ (10). Auffällig ist, dass er auch nie vom liberalen Islam spricht, jener Richtung, der man ihn oft selbst zugerechnet hat. Doch während sich die Vertreter jenes liberalen Islams konstruktiv und kontrovers mit den kanonischen Texten des Islams, seiner Geschichte und seinen Denkern auseinandersetzen, ist davon bei K. kaum mehr etwas übrig. Deshalb spricht er auch nur von einem „aufgeklärten“ Islam, der von religiösen Zumutungen weitgehend gereinigt ist.
Das wird ihm viel Zustimmung verschaffen, von welchen Seiten auch immer. Über den Islam als Religion, seine Geschichte und Gegenwart, seine Theologie und Spiritualität, erfährt man darin nichts. Kaum denkbar auch, dass hiervon Impulse für innerislamische Diskussionen oder interreligiöse Gespräche ausgehen könnten. Anders als politisch kann und wird dieses Buch, das sich gerade gegen den politischen Islam richtet, gar nicht diskutiert werden.
Erstveröffentlichung in der Theologischen Revue. 116. Jahrgang, September 2020. Prof. Dr. Thomas Bauer. Zwischentitel durch Redaktion hinzugefügt. Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0