DEUTSCHLAND, DEINE UMMA!

„Der Mensch steht im Zentrum der Entwicklung“

In Deutschland leben mehr als fünf Millionen Muslime. Wie viele kennen Sie? Wir stellen querbeet Menschen vor, die eine Gemeinsamkeit teilen: Sie sind Teil der Umma. Heute Prof. Dr. Ayşegül Doğangün.

25
10
2020
Aysegül Dogangün
Aysegül Dogangün © Privat, bearbeitet by iQ.

Ayşegül Doğangün (37), geboren in Berlin, lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Duisburg. Sie studierte Informatik und Psychologie und ist Professorin für Menschzentrierte Technikentwicklung an der Hochschule Ruhr West. Dort leitet sie die interdisziplinäre Nachwuchsforschergruppe „Personal Analytics“ („PAnalytics“). Beschäftigt hat sich die Ingenieurin bisher vor allem mit Assistenzsystemen für Medizin und Pflege.

IslamiQ: Als Informatikerin haben Sie sich auf „menschzentrierte Technikentwicklung“ spezialisiert. Was beschäftigt Sie genau?

Prof. Dr. Ayşegül Doğangün: In allen Anwendungsszenarien in meinem aktuellen Forschungsfeld „Personal Analytics“ bildet die Sammlung, Auswertung und Bereitstellung relevanter Informationen aus großen Datenmengen eine wichtige Grundlage. Es ist der Mensch bzw. der Nutzer, der diese Daten produziert und durch ein technisches System Unterstützung erhält.

Entwickelte Algorithmen können noch so intelligent sein oder die technische Umsetzung zeitgemäß und ausgereift sein, kann oder will der Nutzer sie nicht nutzen, können sie keine Aussage zur Wirksamkeit ihrer Entwicklung machen. So muss der Mensch im Zentrum der Entwicklung stehen. Daraus ergab sich für mich die Notwendigkeit, mich mit Methoden zu beschäftigen, mit denen man dies adäquat realisieren kann. Kurzum, es ist die Anwendungsnähe, die es für meine Forschung unumgänglich macht, Technik mit und für Nutzer zu entwickeln und zu erforschen.

Meine aktuellen Projekte beschäftigen sich mit dem Thema Smart Home und das Fördern von Wohlbefinden in einem Smart Home. In einem weiteren Projekt, das demnächst starten wird, werden wir an sozialen Robotern und ihrem Einsatz in den Stadtverwaltungen der Metropole Ruhr forschen.

IslamiQ: Sie haben die Entwicklung einer Gesundheits-App speziell für 50+ geleitet. Was war das wesentliche Ziel dieser Forschung?

Doğangün: Diese „Gesundheits-App“ ist ein Teilprodukt des Forschungsgegenstandes meiner Nachwuchsforschergruppe Personal Analytics an der Universität Duisburg-Essen gewesen. Im Rahmen unserer Forschung haben wir uns mit Methoden im Kontext des Selbstmonitorings beschäftigt, die das Wohlbefinden des Nutzers steigern sollen. Dabei geht es um die Förderung von körperlicher Aktivität, der die Erfassung von Alltagsroutinen des Nutzers zugrunde liegt.

IslamiQ: Wie lässt sich so etwas technisch umsetzen? 

Doğangün: Die Lösung dieser Probleme liegt darin, die Nutzer ständig einzubeziehen – angefangen bei der Entwicklung bis hin zur Nutzung, also eine menschzentrierte Entwicklung vorzunehmen.

IslamiQ: Wie ist die Resonanz auf Ihre Arbeit?

Doğangün: Das Thema Gesundheit ist für jede Personengruppe relevant. Wir haben vorwiegend positive Rückmeldungen und konstruktive Hinweise von Interessenten oder Forschungshelfern erhalten.

Mir persönlich war es wichtig, auch unterschiedliche kulturelle Gegebenheiten zu berücksichtigen. Deshalb habe ich versucht, Forschungshelfer u. a. aus meinem persönlichen Netzwerk zu gewinnen, die diverse kulturelle oder religiöse Anforderungen haben könnten. Jedoch sind den Aufrufen immer viel zu wenige gefolgt, sodass sich hier leider keine wirklich brauchbaren Hinweise ergeben haben.

IslamiQ: Welche Hobbies haben Sie, wie gestalten Sie ihre Freizeit am liebsten?

Doğangün: Bei drei kleinen Kindern und einem Vollzeitberuf bleibt leider wenig Zeit für individuelle Freizeitbeschäftigungen. So ist „Freizeit“ für uns meist „Familienzeit“. Und das ist gut so.

IslamiQ: Lieblingsbuch? Lieblingsfilm?

Doğangün: Bücher und Filme sind eher Verbrauchsgut für mich, dem ich wenige bis gar keine Emotionen beimesse. Ich habe zuletzt das Buch „Yedi Güzel Kadın“ geschenkt bekommen und lese es zurzeit.

IslamiQ: Was bedeutet Familie für Sie?

Doğangün: Familie hat einen sehr hohen Stellenwert. Sie ist für mich das wichtigste Gut. An meinem Werdegang sehen Sie, dass diese Haltung für mich keineswegs bedeutet, dass ich nicht strebsam bin und auch berufliche Ziele habe, die ich erreicht habe und noch erreichen möchte. Daraus lässt sich schließen, dass, wertend betrachtet, Familie an erster Stelle kommt, sie aber andere Dinge, die ebenfalls zu einem erfüllten Leben gehören, nicht hindern muss – im Gegenteil, insbesondere Ehepartner können hier sogar gegenseitig Multiplikatoren sein.

IslamiQ: Der schönste Moment in Ihrem Berufsleben?

Doğangün: Um ehrlich zu sein, habe ich länger darüber nachdenken müssen. So etwas wie einen „schönsten Moment“ kann ich leider nicht benennen. Es gab einige Meilensteine wie den Abschluss meines Studiums und meine Dissertation, die Auszeichnung und Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung oder die Benennung zur Professorin. Für all das bin ich dankbar.

IslamiQ: Wie würden Ihre Freunde Sie beschreiben?

Doğangün: Ich denke stur, strebsam, hilfsbereit.

IslamiQ: Ihr Lebensmotto?

Doğangün: Diese Frage möchte ich als Muslimin basierend auf meiner Lieblingssure aus dem Koran beantworten: Sure Scharh, Verse 1-8. Daraus ergibt sich für mich folgendes Lebensmotto in drei Punkten:

  1. Mein Glaube stärkt mir den Rücken.
  2. Nach schweren Zeiten kommen gute.
  3. Das Ende einer Sache ist der Beginn einer neuen.

IslamiQ: Können Sie sich an eine Situation erinnern, in der Sie erstmals mit der Identitätsfrage konfrontiert waren?

Doğangün: Wir sind Deutsche mit Migrationshintergrund muslimischen Glaubens. Da gibt es für mich keine offene Frage. Wahrscheinlich zähle ich aber auch zu den Glücklichen, die kaum damit konfrontiert wurden.

IslamiQ: Was ist Ihr größtes Ziel in diesem Leben und was tun Sie um dieses Ziel zu erreichen? 

Doğangün: Mein größtes Ziel ist es, meine Kinder zu gewissenhaften, zufriedenen Menschen zu erziehen. Sie sollen in der Lage sind, ihren eigenen Lebensweg zu gehen, ohne das Wesentliche aus den Augen zu verlieren oder gar zu vernachlässigen.

IslamiQ: Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Für sich selbst, für Ihre Familie, für alle Muslime in Deutschland.

Doğangün: Stagnation ist wohl etwas, das ich in unterschiedlichen Lebensbereichen vermeiden möchte. Im Prinzip ist es auch das, was ich immer wieder aufs Neue lebe und meinen Kindern mitgeben möchte: Wenn ihr eine Sache beendet, die insbesondere für die Gesellschaft, die Familie oder aber für die Selbstverwirklichung nützlich war, dann schaut, was ihr als nächstes machen könnt.

Außerdem wünsche ich meinen Kindern und allen Muslimen, dass die Verwirklichung ihrer Vorhaben nicht aufgrund ihrer Identität verwehrt wird. Denn auch wenn mich glücklicherweise nichts beispielsweise von meinem Karriereweg abhalten konnte, weiß ich, dass Diskriminierungen – leider – Realität sind.

IslamiQ: Was muss passieren, damit Muslime hier als selbstverständlicher Teil Deutschlands angesehen werden?

Doğangün: Ich denke, ein wichtiger Schritt wäre, dass jeder genau diese Aussage mit einer Selbstverständlichkeit trifft und aufnimmt: Wir sind alle Deutsche mit Migrationshintergrund muslimischen Glaubens, und das ist gut so.

Leserkommentare

Vera Praunheim sagt:
Ein guter Satz, eine gute Überschrift: "Der Mensch steht im Zentrum der Entwicklung." Und es heißt nicht: "Der Islam steht im Zentrum der Entwicklung." Auch nicht: "Der Koran steht im Zentrum der Entwicklung." Und natürlich auch nicht: "Der Prophet steht im Zentrum der Entwicklung." Zu am Ende des Gesprächs erwähnten Diskriminierungen von Muslimen aufgrund ihrer Identität fällt mir ein richtungsweisendes Bekenntnis und Statement der Bayerischen Staatsregierung ein. Der Integrationsbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung sagte einmal klärend: "Wir integrieren keine Religionen, keine Nationen, wir integrieren Menschen." Diesen Leitspruch kann man auch auf vielen Baumwolltaschen lesen, die beim 'Tag der offenen Tür' im Bayerischen Landtag an interessierte Besucher verschenkt wurden. Auch auf der entsprechenden Facebook-Seite konnte man lesen, wie dieser Leitspruch Zeichen setzt und zum Nachdenken anregt. Und nicht nur das Koranbuch kann zu einem guten Lebensmotto inspirieren. Es gibt noch sehr viele andere religiöse Bücher und Schriften auf der Welt, die selbstverständlich ähnliche Anregungen und Impulse für ein Lebensmotto vermitteln können. Und das ist wirklich gut so.
25.10.20
16:43
Dilaver Çelik sagt:
Muslime sind längst in sämtlichen Berufsbereichen präsent. Das Beispiel wie diese Dame zeigt zugleich einmal mehr, wie falsch es ist, Muslime auf ihre Religion oder Glaubenspraxis zu reduzieren, da Identität weit mehr ist als das. Wer versteht, der versteht.
25.10.20
17:00
charley sagt:
"Der Mensch steht im Zentrum der Entwicklung"... wäre doch fein, wenn es denn so wäre. Nach wie vor frage ich nach dem Menschenbild des Islam, das - bitteschön - größer sein möge als dass der Mensch eine Allahmarionette sein möge/möchte/soll. Das ist dann nämlich die Aufgabe der Identität, die - das ergibt sich aus dem Begriff selbst - nur in sich begründet sein kann. Was der Mensch für sich ist ohne (!) mehr oder weniger heftig mit "Allah" (oder sonst wem) verbunden zu sein, wäre doch einmal zu sagen! Denn dann käme man auf etwas, was schon seinen Wert in sich hat und diesen nicht erst "von Allah" (oder sonst wem) bekommt. Was käme dann heraus: Dass der Mensch frei ist, auch frei zur Selbstbestimmung und in der Erkenntnis dieser Selbstbestimmung erlangte er das, was in den Religionen traditionell die Erleuchtung genannt wird. Zu welcher Gottheit er sich dann bekennt bzw. (besser!: ... in sich) erkennt... nun es wird vermutlich der Geist der Freiheit und der Liebe sein, wenn er das als seine eigentliche Natur erkennt, erkennen kann... Und ist dieser "Allah" nun ein "Geist der Freiheit und der Liebe"? Das habe ich noch von keinem Muslim aufgezeigt bekommen (können). Denn Islam bedeutet eben "Unterwerfung",... "Selbst-Unterwerfung"? "Fremd-Unterwerfung" (durch Islamisten oder Allah... das ist fast gleich)? Solange Muslime im nett-bürgerlichen Bereich bleiben, sind solche Fragen nicht relevant. Aber da immer wieder Muslime nicht im "nett-bürgerlichen Bereich" bleiben, sind dem Fanatismus Tor und Tür geöffnet, da der "vom Islam Gerittene" dann ja alle Verantwortung an Allah abgibt und je mehr er das tut (bzw. sich wähnt, im Auftrag Allahs zu handeln), um so unverantwortlicher, radikaler, gefährlicher wird er, denn für die Allahmarionette liegt ja alle Verantwortung beim Marionettenführer Allah! Ayşegül Doğangün spricht angenehm gehalten, aber einen Inhalt für die Überschrift gibt sie leider nicht vor. Im Zentrum des Islam sehe ich als "Entwicklungsziel" die Allahmarionette. Keinen Souverän, der eines Tages seinem Schöpfer gegenüber tritt und von diesem als "verlorener Sohn" anerkannt wird (wesensgleich, vllt. wie der Tropfen und das Meer.... nein, der Islam sagt klar, "Allah" hat keinen Sohn... es gibt keine Verwandschaft zwischen Mensch und Gott) , ja (man vergleiche das Gleichnis vom "verlorenen Sohn"!) hoch wertgeschätzt wird, weil er die Freiheit als Qualität mitbringt, die der daheim gebliebene Sohn nie erworben / erlitten hat. Aber der "verlorene Sohn" ist ein Souverän! Keine Allahmarionette! Der Islam sieht in der Geschichte keinen eigenständigen Wert außer, dass da eine Entwicklung der Gottesentfernung und evtl. Gotteswiederannäherung zu beschreiben ist... Einen eigenen Wert kennt der Islam nicht, nur die Aufarbeitung eines an sich wertlosen Irrtums. Dass dieser Irrtum notwendig und gut (!) war, weil nur so die Freiheit begründet werden kann, weiß der Islam nicht. Traurige Religion! Die Geschichte ist "der Mensch", das Werden "des Menschen". "Im Zentrum der Entwicklung steht der Mensch"? Nein, für einen Moslem kann das bestenfalls die (Wieder-)Herstellung einer Allahmarionette sein.
27.10.20
18:47