Die Debatte um das Kopftuch findet hauptsächlich in der Mehrheitsgesellschaft statt. Und oft an der Realität der Musliminnen vorbei. Wer hat die Deutungshoheit über das Kopftuch? Ein Kommentar.
Da wo ich lebe, spielt es kaum eine Rolle, ob ich ein Kopftuch trage oder nicht. Dieses kleine oder größere Stück Stoff wird als Bekenntnis zum muslimischen Glauben wahrgenommen und als individuelle Entscheidung angesehen. Denn unter Muslimen in Deutschland ist es gelebte Realität, dass Frauen sich für oder gegen das Kopftuch entscheiden. Das Kopftuch gehört zum Stadtbild, so wie es zum Stadtbild gehört, dass Frauen ihre Haare zeigen. Die Debatte und vor allem die Problematik um das Kopftuch finden heute hauptsächlich in der Mehrheitsgesellschaft statt, welche die Symbolik des Kopftuchs selbst definiert hat. Nicht Muslime selbst.
Unterdrückung, Verfassungsfeindlichkeit, Bildungsferne oder Gewaltbereitschaft usw. sind Assoziationen mit dem Kopftuch, die nicht den Lebensrealitäten der meisten muslimischen Frauen in Deutschland entsprechen. Vielmehr sind es fremdbestimmte Zuschreibungen, eine medial konstruierte Symbolik, die nicht widerspiegelt, was wir Frauen mit dem Kopftuch selbst verbinden und auch nicht, was wir darstellen und verkörpern. Trotzdem prägen diese Assoziationen das deutschlandweite Narrativ über das Kopftuch und lösen eine Empörung aus, weil viele Menschen sich nicht bewusst sind, dass es eine maßgebliche Diskrepanz zwischen diesen Fremdzuschreibungen und dem Selbstverständnis von Frauen mit Kopftuch gibt.
Durch die sozialen Medien offenbart sich, dass da, wo muslimische Frauen für sich selbst sprechen und sich selbst darstellen können, ein ganz anderes Bild entsteht. Ein Bild, welches den Fremderzählungen der klassischen Medienformate vehement widerspricht. Bei einem Realitätscheck würde man schnell feststellen, dass Frauen mit Kopftuch so unterschiedlich sind wie die Tücher, die sie tragen. Frauen mit Kopftuch üben verschiedene Berufe aus, haben unterschiedliche Lebenskonzepte und Werte.
Auch die Beweggründe, ein Kopftuch zu tragen, sind so unterschiedlich, wie die Frauen selbst. Sie reichen von der eigenen Spiritualität bis hin zum gesellschaftlichen Statement. Oft sind die Gründe fluide. Natürlich sind es mitunter auch gesellschaftliche Norm und Selbstverständlichkeiten innerhalb einiger traditionell muslimischer Familien, die Frauen unter Druck setzen, das Tuch zu tragen. Darüber darf natürlich gesprochen werden. Manchmal wird dabei gar nicht hinterfragt, ob es eine Alternative dazu geben könnte. Genauso wenig wie es für andere Familien außer Frage steht, dass man die Haare eben zeigt.
Über die Frömmigkeit einer Frau sagt das Kopftuch nicht immer etwas aus. So wie eine Frau mit Kopftuch wenig mit Glauben und Religion zu tun haben kann, wundern sich viele oft, wenn eine Frau ohne Kopftuch als Muslimin beschreibt und ein positives Verständnis vom Kopftuch hat. Sie gilt eigentlich als die emanzipierte Version der muslimischen Frau, die das Kopftuch ablehnt.
Tatsächlich fühlen sich viele Frauen unter Druck gesetzt, das Tuch nicht zu tragen. Oft aus beruflichen Gründen. Aus Angst, keinen Job zu finden oder den jetzigen zu verlieren. Aber auch die Angst vor den Blicken und Anfeindungen der Umgebung, die medialen Debatten veranlassen viele Frauen dazu, das Kopftuch lieber nicht zu tragen. Auch wenn sie es sich innerlich sehr wünschen würden.
Der gesamte Diskurs des Kopftuchs wird an dieser Stelle ad absurdum geführt und verdeutlicht, worum es in der Debatte um das Kopftuch in Wahrheit geht: Die Fremdbestimmung des weiblichen Körpers. So steht nicht das Kopftuch symbolisch für die Unterdrückung der Frau im Islam, vielmehr ist die Debatte um das Kopftuch bezeichnend für den Versuch der Bevormundung des weiblichen Körpers und der Befugnis darüber. Als Frau entscheide ich aber darüber, welche Körperteile ich bedecke und wie viel ich anderen von meinem Körper Preis gebe. Das gibt mir Macht. Ich glaube, dass das viele stört.
Als Frau habe ich wenig Macht darüber, wie ich im öffentlichen Raum und auch im öffentlichen Diskurs wahrgenommen werde. Auch wenn es nicht der Realität entspricht. Frauen mit Kopftuch wird ein Mangel an Neutralität vorgeworfen. Dies impliziert, dass Frauen mit Kopftuch per se politisch sein müssten und den gängigen, ebenso fremdbestimmten Narrativen über den Islam entsprechen würden. Darunter zählen Gewaltbereitschaft, Homophobie oder Hass gegen Andersgläubige. Das sind harte Unterstellungen, die dieses vermeintliche Neutralitätsverbot impliziert.
Es wird unterstellt, dass wir Lügen erzählen würden, wenn wir sagen, dass wir uns freiwillig für das Kopftuch entscheiden. Es wird angenommen, dass wir es für unseren Partner tragen, wenn wir keine muslimische Familie haben, die uns „zwingt“. Doch das sind nicht nur dreiste Unterstellungen, sondern es verrät auch viel über das Frauenbild derjenigen, die es unterstellen: Man spricht uns die Mündigkeit ab. In Wahrheit ist das jedoch nur der klägliche Versuch einer weiteren Fremdzuschreibung, der sich aus der Erklärungsnot speist. Diese entsteht, wenn wir den üblichen Narrativen widersprechen. Es ist der klägliche Versuch, sich die Deutungshoheit zurückzuholen, wenn man sie verloren hat. Auf unsere Kosten.
Ich mag nicht die Macht darüber haben, wie ich von außen definiert werde. Aber ich habe die Macht darüber, wie ich mich selbst definiere, wer ich sein möchte und wer ich bin. Ich habe die Macht darüber, zu entscheiden, ob ich mich durch Fremdzuschreibungen in meinem Alltag einschränken lasse, Räume meide und mich unsichtbar mache. Ich entscheide, ob ich mich von Vorurteilen bestimmen lasse oder ihnen trotze. Der Versuch, die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass ich nicht so bin, wie sie sagen, wird scheitern, solange die Deutungshoheit bei ihnen bleibt.
Ich kann aber aufhören, mich den Narrativen zu fügen, die über mich herrschen. Ich kann aufhören, mich zu verstecken, mich dafür zu schämen, wie ich wahrgenommen werde. Ich kann aufhören, mich dadurch zu definieren, wie ich glaube von anderen definiert zu werden und aufhören, andere zu definieren. Genau das verkörpere ich in meinem täglichen Leben. Es kann mir egal sein, was die anderen denken, und dann kann ich mich selbstbewusst im öffentlichen Raum bewegen. Ich kann meinen Platz in dieser Gesellschaft ganz selbstverständlich einfordern. Weil ich ein Recht darauf habe. Natürlich muss ich mich beweisen, aber ich muss mich in erster Linie vor mir selbst beweisen! Ich kann aufhören, mein Auftreten und meinen Umgang mit Menschen von einem Stück Stoff bestimmen lassen. Ich kann ihnen die Deutungshoheit nehmen, indem ich selbst bestimme, wie ich definiert und vor allem auch behandelt werden will. Ich kann bestimmen, wer ich bin und wie ich wahrgenommen werden will. Zumindest in meinem Kopf kann ich das. Aber da fängt Veränderung ja an. Denn ich setze den Rahmen und ich setze die Grenzen. Und da bleibt für das Kopftuch kein Raum! Es ist kein Patentrezept gegen Angriffe, aber Selbstsicherheit und Stärke strahlen aus und schüchtern ein.
Wir sind nicht das Problem, das müssen wir uns bewusst machen. Wir sind nicht das Problem, sondern eine Gesellschaft, die das Ertragen von Unterscheiden noch nicht erlernt hat und noch nicht begriffen hat, dass ihr Weltbild nicht die das einzige ist.