KOMMENTAR

Das Kopftuch – Wer bestimmt, wer ich bin?

Die Debatte um das Kopftuch findet hauptsächlich in der Mehrheitsgesellschaft statt. Und oft an der Realität der Musliminnen vorbei. Wer hat die Deutungshoheit über das Kopftuch? Ein Kommentar.

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2020
Kopftuchverbot
Symbolbild: Muslimin mit Kopftuch © Shutterstock, bearbeitet by iQ.

Da wo ich lebe, spielt es kaum eine Rolle, ob ich ein Kopftuch trage oder nicht. Dieses kleine oder größere Stück Stoff wird als Bekenntnis zum muslimischen Glauben wahrgenommen und als individuelle Entscheidung angesehen. Denn unter Muslimen in Deutschland ist es gelebte Realität, dass Frauen sich für oder gegen das Kopftuch entscheiden. Das Kopftuch gehört zum Stadtbild, so wie es zum Stadtbild gehört, dass Frauen ihre Haare zeigen. Die Debatte und vor allem die Problematik um das Kopftuch finden heute hauptsächlich in der Mehrheitsgesellschaft statt, welche die Symbolik des Kopftuchs selbst definiert hat. Nicht Muslime selbst.

Das mediale Narrativ und die Realität

Unterdrückung, Verfassungsfeindlichkeit, Bildungsferne oder Gewaltbereitschaft usw. sind Assoziationen mit dem Kopftuch, die nicht den Lebensrealitäten der meisten muslimischen Frauen in Deutschland entsprechen. Vielmehr sind es fremdbestimmte Zuschreibungen, eine medial konstruierte Symbolik, die nicht widerspiegelt, was wir Frauen mit dem Kopftuch selbst verbinden und auch nicht, was wir darstellen und verkörpern. Trotzdem prägen diese Assoziationen das deutschlandweite Narrativ über das Kopftuch und lösen eine Empörung aus, weil viele Menschen sich nicht bewusst sind, dass es eine maßgebliche Diskrepanz zwischen diesen Fremdzuschreibungen und dem Selbstverständnis von Frauen mit Kopftuch gibt.

Durch die sozialen Medien offenbart sich, dass da, wo muslimische Frauen für sich selbst sprechen und sich selbst darstellen können, ein ganz anderes Bild entsteht. Ein Bild, welches den Fremderzählungen der klassischen Medienformate vehement widerspricht. Bei einem Realitätscheck würde man schnell feststellen, dass Frauen mit Kopftuch so unterschiedlich sind wie die Tücher, die sie tragen. Frauen mit Kopftuch üben verschiedene Berufe aus, haben unterschiedliche Lebenskonzepte und Werte.

Auch die Beweggründe, ein Kopftuch zu tragen, sind so unterschiedlich, wie die Frauen selbst. Sie reichen von der eigenen Spiritualität bis hin zum gesellschaftlichen Statement. Oft sind die Gründe fluide. Natürlich sind es mitunter auch gesellschaftliche Norm und Selbstverständlichkeiten innerhalb einiger traditionell muslimischer Familien, die Frauen unter Druck setzen, das Tuch zu tragen. Darüber darf natürlich gesprochen werden. Manchmal wird dabei gar nicht hinterfragt, ob es eine Alternative dazu geben könnte. Genauso wenig wie es für andere Familien außer Frage steht, dass man die Haare eben zeigt.

Zwischen Zwang und Freiheit

Über die Frömmigkeit einer Frau sagt das Kopftuch nicht immer etwas aus. So wie eine Frau mit Kopftuch wenig mit Glauben und Religion zu tun haben kann, wundern sich viele oft, wenn eine Frau ohne Kopftuch als Muslimin beschreibt und ein positives Verständnis vom Kopftuch hat. Sie gilt eigentlich als die emanzipierte Version der muslimischen Frau, die das Kopftuch ablehnt.

Tatsächlich fühlen sich viele Frauen unter Druck gesetzt, das Tuch nicht zu tragen. Oft aus beruflichen Gründen. Aus Angst, keinen Job zu finden oder den jetzigen zu verlieren. Aber auch die Angst vor den Blicken und Anfeindungen der Umgebung, die medialen Debatten veranlassen viele Frauen dazu, das Kopftuch lieber nicht zu tragen. Auch wenn sie es sich innerlich sehr wünschen würden.

Der gesamte Diskurs des Kopftuchs wird an dieser Stelle ad absurdum geführt und verdeutlicht, worum es in der Debatte um das Kopftuch in Wahrheit geht: Die Fremdbestimmung des weiblichen Körpers. So steht nicht das Kopftuch symbolisch für die Unterdrückung der Frau im Islam, vielmehr ist die Debatte um das Kopftuch bezeichnend für den Versuch der Bevormundung des weiblichen Körpers und der Befugnis darüber. Als Frau entscheide ich aber darüber, welche Körperteile ich bedecke und wie viel ich anderen von meinem Körper Preis gebe. Das gibt mir Macht. Ich glaube, dass das viele stört.

 Heftige Anschuldigungen

Als Frau habe ich wenig Macht darüber, wie ich im öffentlichen Raum und auch im öffentlichen Diskurs wahrgenommen werde. Auch wenn es nicht der Realität entspricht. Frauen mit Kopftuch wird ein Mangel an Neutralität vorgeworfen. Dies impliziert, dass Frauen mit Kopftuch per se politisch sein müssten und den gängigen, ebenso fremdbestimmten Narrativen über den Islam entsprechen würden. Darunter zählen Gewaltbereitschaft, Homophobie oder Hass gegen Andersgläubige. Das sind harte Unterstellungen, die dieses vermeintliche Neutralitätsverbot impliziert.

Es wird unterstellt, dass wir Lügen erzählen würden, wenn wir sagen, dass wir uns freiwillig für das Kopftuch entscheiden. Es wird angenommen, dass wir es für unseren Partner tragen, wenn wir keine muslimische Familie haben, die uns „zwingt“. Doch das sind nicht nur dreiste Unterstellungen, sondern es verrät auch viel über das Frauenbild derjenigen, die es unterstellen: Man spricht uns die Mündigkeit ab. In Wahrheit ist das jedoch nur der klägliche Versuch einer weiteren Fremdzuschreibung, der sich aus der Erklärungsnot speist. Diese entsteht, wenn wir den üblichen Narrativen widersprechen. Es ist der klägliche Versuch, sich die Deutungshoheit zurückzuholen, wenn man sie verloren hat. Auf unsere Kosten.

Kopftuch – Selbstbestimmung statt Fremdzuschreibung

Ich mag nicht die Macht darüber haben, wie ich von außen definiert werde. Aber ich habe die Macht darüber, wie ich mich selbst definiere, wer ich sein möchte und wer ich bin. Ich habe die Macht darüber, zu entscheiden, ob ich mich durch Fremdzuschreibungen in meinem Alltag einschränken lasse, Räume meide und mich unsichtbar mache. Ich entscheide, ob ich mich von Vorurteilen bestimmen lasse oder ihnen trotze. Der Versuch, die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass ich nicht so bin, wie sie sagen, wird scheitern, solange die Deutungshoheit bei ihnen bleibt.

Ich kann aber aufhören, mich den Narrativen zu fügen, die über mich herrschen. Ich kann aufhören, mich zu verstecken, mich dafür zu schämen, wie ich wahrgenommen werde. Ich kann aufhören, mich dadurch zu definieren, wie ich glaube von anderen definiert zu werden und aufhören, andere zu definieren. Genau das verkörpere ich in meinem täglichen Leben. Es kann mir egal sein, was die anderen denken, und dann kann ich mich selbstbewusst im öffentlichen Raum bewegen. Ich kann meinen Platz in dieser Gesellschaft ganz selbstverständlich einfordern. Weil ich ein Recht darauf habe. Natürlich muss ich mich beweisen, aber ich muss mich in erster Linie vor mir selbst beweisen! Ich kann aufhören, mein Auftreten und meinen Umgang mit Menschen von einem Stück Stoff bestimmen lassen. Ich kann ihnen die Deutungshoheit nehmen, indem ich selbst bestimme, wie ich definiert und vor allem auch behandelt werden will. Ich kann bestimmen, wer ich bin und wie ich wahrgenommen werden will. Zumindest in meinem Kopf kann ich das. Aber da fängt Veränderung ja an. Denn ich setze den Rahmen und ich setze die Grenzen. Und da bleibt für das Kopftuch kein Raum! Es ist kein Patentrezept gegen Angriffe, aber Selbstsicherheit und Stärke strahlen aus und schüchtern ein.

Wir sind nicht das Problem, das müssen wir uns bewusst machen. Wir sind nicht das Problem, sondern eine Gesellschaft, die das Ertragen von Unterscheiden noch nicht erlernt hat und noch nicht begriffen hat, dass ihr Weltbild nicht die das einzige ist.

Leserkommentare

grege sagt:
Fremdbestimmung und Fremdzuschreibung geht von solchen Muslimen aus, die Frauen ohne Kopftuch als Huren betrachten oder auspeitschen wie z.B. im Iran und diversen anderen muslimischen Staaten per Gesetzesverordnung. Der nicht endende Zustrom von muslimischen Einwanderern offenbart, dass Fremdzustimmung und -zuschreibung hier in diesem nichtmuslimischen Land noch sehr erträglich sind.
30.11.20
18:18
IslamFrei sagt:
An Herrn Johannes Disch. Es freut mich, sehr geehrter Herr Disch, wie Sie anscheinend vom Paulus zu Saulus konvertiert sind. Noch vor einem halben Jahr hätten Sie kurz, trocken, und Islamfreundlich, wie Sie damals waren, kommentiert: Muslim Frauen dürfen Kopftuch tragen, Laut GG dürfen sie das. Vielleicht hat die moderne Mord- und Terror- Welle einiger fanatische Muslims zu Ihren Realitätssinn beigetragen? Bestem Gruss, IslamFrei
01.12.20
0:32
Johannes Disch sagt:
@IslamFrei (01.12.2020, 0:32) Meine damaligen Aussagen und meine aktuelle Meinung stehen nicht im Widerspruch, Nach wie vor gilt: Das GG erlaubt das Tragen des Kopftuchs--- mit gewissen Ausnahmen, die wir hier schon häufiger erörtert haben. Im Artikel geht es aber um angebliche "Fremdzuschreibungen", was das Kopftuch betrifft. Und das ist in der Tat eine Finte. Sicher haben meisten muslimischen Frauen, die ein Kopftuch tragen, mit dem islamistischen Terror nix am Hut. Und es mag auch durchaus welche darunter geben, die eine liberale Einstellung haben. Es ändert aber nichts daran, dass dieses Utensil für ein reaktionäres Frauenbild steht. "grege" hat das ganze in seinem Beitrag vom 20.11.2020, 18:18 prima auf den Punkt gebracht. Greetings J. Disch
01.12.20
14:57
Tarik sagt:
Zunächst einmal waren es in der islamischen Welt radikal-säkulare Kräfte, die per Gesetz den Frauen das Tragen des Kopftuchs verboten, wie bsp. in Tunesien, Türkei oder Persien (jener Reza Khan, der eine ähnliche Schiene fuhr wie Atatürk). Nun ist Europa nicht mehr jener größtenteils faschistische Kontinent, als der er sich damals noch präsentierte und ihn Autokraten wie Atatürk oder Reza Khan als Vorbild nehmen konnten. Diese radikal-säkularen Zwangsmaßnahmen und die damit einhergehende Unterdrückung, Marginalisierung und Vertreibung des Religiösen aus dem öffentlichen Raum ist das, was der heutigen Reaktion von Fundamentalisten zuvorkam. Payback is a bitch heißt es bekanntlich, die Leidtragenden sind die jeweilige Bevölkerung - denn aus dieser Kombination westlicher totalitärer Ideen ergab sich ein islamisch getünchter aber gänzlich unislamischer Staat ohne historischen Vorläufer. Der islamische Fundamentalismus ist eine Extrem auf der Skala - der nicht minder totalitäre Säkularismus im Vorderen Orient das andere. Ersteres war und ist allerdings eine Reaktion auf Letzteres. Dabei hätte man aus der Geschichte durchaus lernen können. Statt den "politischen Islam" zu verteufeln, sondern ihn zu integrieren - auch aus dem Kommunismus im 19. Jahrhunderts ergaben sich einerseits Anarchisten, Kommunisten und reform- und dialogbereite Sozialdemokraten. Aber dies erlaubt sich die EU - die jene radikalsäkularen Regimes als "Stabilitätsfaktor" unterstützt - nicht, denn das Feindbild "Islam" taugt durchaus beim eigenen Reformprojekt eines zunehmend illiberalen Liberalismus - der inzwischen auch in multinationalen Konzernen Einzug erhalten hat. Beispiel: James Damore, einem Ingenieur, der von Google entlassen wurde, weil er ein Memo über wissenschaftliche Beweise für geschlechtsspezifische Verhaltensunterschiede in Umlauf gebracht hatte. Damore erhielt Drohungen, aber auch anonyme Unterstützungsbekundungen von Wissenschaftskollegen, die sich scheuten, ihre Ansichten öffentlich zu äußern. (Daily Telegraph, 8. August 2017.). Die Anzahl solcher und ähnlicher Beispiele aus Politik, Wirtschaft und Kultur sind mittlerweile Legion. Angesichts solcher Entwicklungen ist es klar, dass das Kopftuch für die Jünger und Apostels des liberalen Fortschrittsglauben eine lästige Störung ist.
03.12.20
18:00
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