Europa durchlebt stürmische Zeiten. Das gilt insbesondere für Muslime. Damit die Gesellschaft als Ganzes unbeschadet bleibt, bedarf es Ruhe und Austausch. Ein Beitrag von Hakan Aydın.
Der Islam ist in Deutschland bereits angekommen, vor allem durch seine muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Jedoch gibt es immer noch ausgrenzende und herabwürdige gesellschaftliche Diskurse in Bezug auf Islam und Muslime. Es gehört mittlerweile zum Alltag, dass Begriffe wie „Islamismus“, „islamistischer Anschlag/Terror“, „politischer Islam“, „Islamist“ oder „Dschihadismus“ undifferenziert verbreitet werden. Durch negative Konnotationen werden negative Bilder in den Köpfen der Menschen geschaffen und gestärkt. Das hilft niemanden. Vielmehr schadet es dem Zusammenleben in Deutschland.
Von Muslimen wird bei jeder Gräueltat erwartet, dass sie sich davon distanzieren. Diese Erwartungshaltung gegenüber Muslimen rückt gerade diese in die Nähe der Täter. Sie werden kollektiv als Verdächtige gesehen. Kein Wunder, dass Muslime es leid sind, sich nach jedem Terroranschlag rechtfertigen zu müssen. Sie fühlen sich durch die Gesellschaft stigmatisiert. Sie sind empört darüber, dass ihre Bemühungen für gesellschaftliche Teilhabe und das friedliche Zusammenleben in großem Stil ausgeblendet werden.
Wenn in Medien über Terroranschläge wie zuletzt in Nizza und Wien berichtet wird, finden wir in den Kommentaren größtenteils eine Sprache voller Hass, Rassismus und Stigmatisierung zu finden. Eine sachliche oder differenzierte Herangehensweise ist kaum vorhanden. Terrorakten, die leider Gottes auch mit dem Etikett „Islam“ versehen werden, folgen Angst und Unsicherheit in der Gesellschaft gegenüber muslimischen Mitbürgern. Wenn es jedoch z. B. einen rechtsterroristischen Anschlag gibt, wird in diesen Fällen eben nicht ein ganzes Kollektiv verdächtigt und beschuldigt. Die Tat verantwortet die Einzelperson.
Die gegenwärtigen Entwicklungen in und außerhalb Deutschlands haben politische, geschichtliche und kulturelle Hintergründe. Die geschichtlichen Hintergründe sind nicht veränderbar, aus ihnen kann nur gelernt werden. Die politischen Gründe sind jedoch aktuell und beeinflussen das Zusammenleben in Deutschland.
In diesem Kontext wird oft die Beziehung der Menschen mit Migrationsgeschichte zu ihren Herkunftsländern problematisiert. Die deutsche Politik stellt die Loyalität dieser Menschen zur Bundesrepublik Deutschland in Frage. Aber auch die Herkunftsländer melden sich zu Wort. So werden Muslime und Migranten von beiden Seiten unter Druck gesetzt, sich für die Loyalität gegenüber einem Staat zu entscheiden. Auch das schadet dem Zusammenleben in Deutschland.
Die politischen Akteure auf beiden Seiten haben anscheinend nicht das Ziel, das Zusammenleben zu stärken und zu fördern, sondern stellen die eigenen Interessen in den Vordergrund. Das wird sich auch in Zukunft vermutlich nicht vermeiden oder ändern. Mein Appell an die Menschen mit Migrationshintergrund ist deshalb, sich soweit wie möglich der politischen Scheinfrage der Loyalität zu entziehen.
Ein weiteres Problem ist, dass die muslimische Bevölkerung es leider auch nicht geschafft hat, ihre Interessen angemessen auf politischer Ebene einzubringen. Ihnen fehlen authentische Fürsprecher mit Basisanbindung.
Angesichts der skizzierten Lage ist es wichtig, dass es zu keiner Polarisierung der Gesellschaft kommt. Den zivilgesellschaftlichen muslimischen Akteuren kommt deshalb die wichtige Aufgabe zu, die Identität als Muslime in Deutschland zu fördern, damit sie Akteure der Migrantenselbstorganisationen die Befähigung haben, sich selbstbestimmt und selbstbewusst zu Wort zu melden.
Die kulturelle bzw. religiöse Vielfalt wird von Teilen der Politik und Medien nicht als eine Bereicherung, sondern als Problem dargestellt. Menschen werden beispielsweise aufgrund ihrer Kleidung, insbesondere dem Kopftuch der Musliminnen, oder, um ein aktuelleres Beispiel zu nennen, ihrer Meinung zu den Muhammad-Karikaturen ausgegrenzt.
Viele aktuell diskutierte Themen scheinen auf den ersten Blick religiöse Gründe zu haben, sind aber oft eher kulturell geprägt. Als Beispiel hierfür lässt sich die Diskussion in Bezug auf den Propheten Muhammad (s) und seine engen Gefährten unter sunnitischen und schiitischen Muslimen anführen. Diese teils heftigen Diskussionen haben in der Geschichte auch zu kriegerischen Auseinandersetzungen geführt. Vor diesem Hintergrund hat sich eine kulturell gewachsene Rücksicht etabliert, wenn es um den Propheten und seine Gefährten geht.
Damit auch „heikle“ Themen wie das Kopftuch oder die Kritik an den Prophetenkarikaturen diskutiert und behandelt werden können, brauchen wir eine deeskalierte, friedliche Atmosphäre, in der alle willkommen und offen sind. Dass dies bisher kaum der Fall war und es sogar zu Gewaltanwendung kam, was natürlich strikt abzulehnen ist, liegt im Grunde daran, dass es an Austausch und Begegnung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen mangelt.
Der Islam steht in seinem Wesen für das friedliche, kooperative Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen. Der Ansatz, der hier von einem Miteinander verschiedener Religionen wie auch von religiösen und säkularen Überzeugungen fruchtbar gemacht werden kann, lässt sich am Beispiel des Propheten Joseph festmachen. Joseph (a), ein in allen drei abrahamitischen Religionen anerkannter Prophet – ist ein Beispiel für die Überzeugung, dass ein friedliches Zusammenleben möglich ist.
Obwohl seit Beginn der Einwanderung der Gastarbeiter und mit ihnen des Islams 58 Jahre vergangen sind, finden Islam und Muslime immer noch wenig Anerkennung. Muslimischen Mitbürgern wird erschwert, ihren wohlverdienten Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Das mediale Bild des Islams ist kein positives, und ohne dies zu ändern werden wir nicht zur Ruhe kommen. In diesem Änderungsprozess muss die Gesellschaft, insbesondere auch Muslime, Verantwortung übernehmen.