In Kürze beginnt die Corona-Impfung. Es gibt Befürworter und Gegner – und viele Zweifler. Wie sind die Corona-Maßnahmen, Impfungen und deren Verteilung aus islamisch-ethischer Perspektive zu bewerten? Ein Interview mit Jun.-Prof. Dr. Muna Tatari, Mitglied des Deutschen Ethikrates.
IslamiQ: Frau Tatari. Sie sind als muslimische Theologin Mitglied des Ethikrats. Mit welchen Fragen beschäftigt sich der Ethikrat?
Jun-Prof. Dr. Muna Tatari: Der Deutsche Ethikrat bearbeitet ethische, gesellschaftliche, naturwissenschaftliche, medizinische und rechtliche Fragen. Thema sind auch die voraussichtlichen Folgen für Individuum und Gesellschaft. Diese ergeben sich im Zusammenhang mit der Forschung und den Entwicklungen insbesondere auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften und ihrer Anwendung auf den Menschen.
Derzeit beschäftigt sich der Ethikrat besonders intensiv mit den ethischen Herausforderungen, die sich aus dem Umgang mit der Corona-Pandemie ergeben.
IslamiQ: Werden in den Stellungnahmen auch islamische Normen und Werte beachtet?
Tatari: Jüdische, christliche und muslimische Vertreterinnen und Vertreter tragen im Ethikrat dazu bei, die gesellschaftliche plurale Perspektivenlandschaft abzubilden. Ob ich als muslimische Stimme eine besondere Perspektive einbringe, weiß ich gar nicht so genau. Ich möchte nicht glauben, dass meine Vernunft anders tickte als die Vernunft von Menschen anderen Glaubens oder anderer Weltanschauung.
Sicher prägen aber bestimmte islamische theologischen Entwürfe meine Perspektive auf die Dinge mit. Leitend ist für mich u. a. die theologische Überzeugung über Gottes Engagiert-Sein in den Angelegenheiten der Menschen. Wenn Gott alle Menschen meint, dann brauchen besonders jene Menschen unsere Aufmerksamkeit, die im Schatten der Großen und Starken stehen. Denn vor allem diesen ist es erschwert, um was es in Religionen, auch im Islam, geht: die freie Entfaltung des Menschen, seines Potenzials und seiner Persönlichkeit in Verantwortung vor sich und seinen Mitmenschen in einer Art und Weise, die eine freie Entscheidung für Gott ermöglicht.
Für eine gesellschaftliche ethische Orientierung, die auf die Impulse aus den Religionen nicht verzichten möchte, gilt: Ihre Gehalte müssten – mit Habermas gesprochen – in eine säkulare Sprache übersetzt werden. Dann sind sie auch aus einer nichtreligiösen Perspektive nachvollziehbar und überprüfbar und können einen Debattenbeitrag leisten.
IslamiQ: Können Sie ein Beispiel hierfür geben?
Tatari: Veranschaulichend könnte man den heutigen Begriff der vulnerablen Gruppen nehmen, die es aufgrund der Herausforderungen durch Corona besonders zu schützen gilt: alte Menschen, Menschen in Pflegeinrichtungen und Menschen mit Vorerkrankungen. Diese Gruppenbeschreibung kann an den koranischen Begriff der „Mustadafûn fil Ard“, also die Schwachen auf der Erde und die an den Rand Gedrängten, rückgebunden und in die heutige Zeit weitergedacht werden.
Interessant ist, dass im koranischen Begriff zudem die folgende, nicht gleich offensichtliche theologische ethische Herausforderung eingebunden ist. Demnach wird der Mensch nie ganz auf seine Schwäche reduziert. Vielmehr geht es darum, im Sinne eines Empowerments, solche Umstände zu schaffen, die die vielleicht versteckten Stärken und Kompetenzen eines jeden Menschen zum Ausdruck kommen lassen, als unverzichtbarer Teil der Würde eines jeden Menschen.
IslamiQ: Während der Corona-Pandemie wurde häufiger über ethische Fragen wie z. B. die Einhaltung der Corona-Maßnahmen diskutiert. Hier steht die persönliche Freiheit gegen eine kollektive Verantwortlichkeit. Wie könnte eine islamische ethische Position dazu aussehen?
Tatari: Grundlegend erscheint mir hier die Überzeugung aus der islamischen Tradition, wonach der Mensch sowohl als eigenständiges Individuum verstanden wird, als auch gleichzeitig nicht anders gedacht werden kann, als in ein Beziehungssystem (Dîn) hineingenommen. Dieses System ist von wechselseitigen Rechten und Pflichten geprägt. Innerislamisch gibt es nun unterschiedliche Ansätze, diese beiden Pole zu gewichten. Die zentrale Frage hierbei ist, ob es um mich und meine individuelle Beziehung zu Gott geht oder vor allem um meine Hinwendung zum anderen gemäß dem Satz: Der Dienst an Gott zeigt sich im Dienst am Menschen.
Sicher wäre es keine Lösung, beide Ansätze gegeneinander auszuspielen, sondern entsprechend den Herausforderungen konkreter Situationen immer neu abzuwägen. Diese Art der Lösungsfindung, Rechtsgüter gegeneinander abzuwiegen und nach Möglichkeit miteinander zu versöhnen, ist eine traditionelle Kernkompetenz der islamischen Rechts- und Normenlehre. Diese Methode der fallbezogenen Abwägungen unter zur Hilfenahme bestimmter Kriterien und Normen können wir heute gut gebrauchen.
IslamiQ: Ein erster Corona-Impfstoff wurde entwickelt und ist nun zugelassen. Er wird zunächst nur in einer bestimmten Größenordnung produzierbar und deshalb zuerst nur bestimmten Personengruppen zugänglich sein. Wer sollte aus einer islamischen Position heraus zuerst geimpft werden?
Tatari: Es gilt, als erstes diejenigen zu schützen, die in besonderem Maße schutzbedürftig sind und diejenigen, die diesen Schutz gewährleisten. Dann können stufenweise die weiteren Bevölkerungsgruppen einbezogen werden. Islamisch leitet sich dies aus einer bestimmten Lesart koranischer Texte ab, auf die ich bereits hingewiesen habe, sowie aus der Vernunft und der Empathie. Insofern konnte ich der gemeinsamen Empfehlung zur Priorisierung der Impfungen von der Ständigen Impfkommission, der Leopoldina und des Ethikrates in vollem Umfang zustimmen.
IslamiQ: In einem Positionspapier des Ethikrats steht, dass wenn ein Impfstoff gegen COVID-19 eingesetzt werden soll, „das Vertrauen der Öffentlichkeit in seine Sicherheit und Wirksamkeit gewonnen, gesteigert und aufrechterhalten werden“. Warum ist es wichtig, das Vertrauen der Gesellschaft zu gewinnen?
Tatari: Es ist wichtig, weil wir in einem demokratisch verfassten Land leben, das eine Impfung nicht einfach über die Köpfe der Menschen hinweg anordnen kann. Wie auch schon bei den Maßnahmen, die seit März dazu beitragen sollten, die Ausbreitung des Virus einzudämmen, ist die Regierung auf den guten Willen seiner Bürger angewiesen. Vertrauen in die Maßnahmen und Schutzangebote, zu Letzterem zählen eben auch die Impfungen, entstehen durch seröse wissenschaftliche Tätigkeit, die nachprüfbar ist und durch eine transparente (Informations-)Politik.
IslamiQ: Viele Menschen denken sich: „Wie sicher kann ein Impfstoff sein, der innerhalb eines Jahres entwickelt wurde?“ Ist es islamisch vertretbar, sich nicht gegen das Corona-Virus impfen zu lassen?
Tatari: Die Zulassungskriterien der Europäischen Arzneimittel-Agentur sind für keine der derzeit zur Diskussion stehenden Impfstoffe irgendwie geändert worden. Die üblichen Prüfungsverfahren konnten vielmehr mit Hilfe digitaler Techniken und einem großen finanziellen Aufwand zeitsparend eingehalten werden. Aus einer Mitteilung von BionTech geht z. B. hervor, dass in Phase 3 an über 40.000 Probanden die Wirksamkeit und Verträglichkeit ihres Impfstoffes getestet wurde.
Wer dem neuartigen RNA-Impfstoffen misstrauen sollte, kann auf eine ganze Reihe konventionellen Impfstoffe, die auch bald zur Verfügung stehen werden, warten. Auf diese Schutzmöglichkeiten kategorisch zu verzichten, halte ich aus der Perspektive einer Verantwortungsethik für problematisch.
IslamiQ: Viele argumentieren mit den nicht abschätzbaren Langzeitfolgen.
Tatari: Die aufgrund der besonderen Situation in der Tat nicht vorhandenen Langzeitbeobachtungen sind ein derzeit nicht lösbares Problem. Allerdings würde das Aufkommen schwerwiegender Spätnebenwirkungen, die über das Maß an üblichen beobachteten Begleiterscheinungen hinausgehen, die Impfbereitschaft in der Bevölkerung signifikant senken.
Die Eindämmung des Coronavirus ist eher ein Marathon und kein Sprint. Daher halte ich es für unwahrscheinlich, dass die Politik das Risiko eingehen würde, einen nichtverantwortbaren Impfstoff an die Bevölkerung auszugeben. Die zu erwartenden sozialen und wirtschaftlichen Folgeschäden eines solchen hypothetischen Vorgehens wären absehbar.
IslamiQ: In Krisenzeiten nehmen seelische Belastungen zu. Ein Impfstoff kann vielleicht den Körper heilen, aber nicht die Seele. Was empfehlen Sie als muslimische Theologin?
Tatari: Das ist keine einfache Frage, denn entgegen des Slogans, dass Corona uns alle gleichmacht und gleichermaßen trifft, habe wir ja feststellen müssen, dass Menschen ganz unterschiedlich hart betroffen sind. Sie verfügen über unterschiedlich starke Ressourcen, mit den Einschränkungen, den gesundheitlichen Belastungen sowie den existentiellen Sorgen und Verlusten umzugehen.
Ziehe ich nun angesichts dieser vielfältigen Herausforderungen den Glauben an Gott aus dem Hut wie ein Zauberer sein Kaninchen? Nun, ganz so einfach erscheint es mir nicht. Glaube umhüllt mich nicht wie ein magischer Schutzpanzer, an dem alles Negative und Bedrohliche abprallt. Und es wäre auch nicht so, dass Menschen, die glauben, keine Angst verspüren würden.
IslamiQ: Kann Glaube trotzdem einen Unterschied machen?
Tatari: Für mich in der Tat. Denn Gott hat zugesagt, sowohl in der Schöpfung da zu sein und uns zu begleiten als auch losgelöst von ihr. Gott ermöglicht es mir, nicht nur aufmerksam im Strudel der Geschehnisse zu sein, sondern sie auch losgelöst aus einem Abstand heraus zu betrachten. Diese Betrachtung wird, wenn ich Gott an meiner Seite weiß, nicht einfach nur kühl und berechnend sein, sondern geprägt sein durch die Liebe, das Mitgefühl und die Barmherzigkeit Gottes sowie durch den Wunsch Gottes für das Wohl aller.
Aus diesem Abstand heraus kann ich immer neu den Versuch machen, zu sehen und auszutarieren, wie ich inmitten dieser Zeiten gerade bin und vielleicht sein möchte und wie ich mich gerne verhalten würde. Dann finde ich, was mir und anderen hilft, Kraft und Zuversicht gibt.
Das Interview führte Ali Mete.