Der rassistische Anschlag mit neun Toten in Hanau hat Hessen tief erschüttert. Die Hinterbliebenen warten weiter auf lückenlose Aufklärung und entschlossenes Handeln gegen Rechts.
Hinter Hanau liegt ein traumatisches Jahr. Gut zehn Monate ist es her, dass ein 43-jähriger Rechtsextremist in der Stadt neun Menschen erschoss, bevor er mutmaßlich seine Mutter und schließlich sich selbst tötete. Die rassistisch motivierte Tat löste bundesweit Entsetzen aus. Angehörige, Überlebende und Augenzeugen tragen bis heute schwer an den Folgen. Gefühle von Verlust und Trauer, aber auch Wut und Angst prägen ihren Alltag. Viele lässt die Frage nicht los, warum die Behörden nicht früher gegen den Täter eingeschritten sind. Und sie werfen der Politik vor, bis heute nicht entschieden genug gegen Rechtsextremismus einzutreten.
So geht es auch Kemal Koçak, der mit mehreren der Opfer befreundet war. Der Kiosk seines Sohnes und die angeschlossene „Arena Bar“ im Hanauer Stadtteil Kesselstadt wurden am 19. Februar zum Tatort, an dem Menschen aus seinem engsten Umfeld starben. Für ihn ist unverständlich, dass der Attentäter vor der Tat Pamphlete und Videos mit Verschwörungstheorien und rassistischen Ansichten im Internet veröffentlichen konnte und nicht gestoppt wurde. Koçak ist überzeugt: „Dieses Attentat war vorauszusehen.“
Noch immer fehle eine lückenlose Aufklärung. Dazu gehört aus Koçaks Sicht auch, dass die Behörden Versäumnisse eingestehen sollten. Dass eingeräumt werde, es seien Dinge übersehen, nicht ernst genug genommen oder nicht richtig kontrolliert worden, wie er sagt. Schon das würde helfen, denn damit lasse sich eher leben als mit den vielen offenen Fragen, die ihn und andere Hinterbliebene umtreiben. Etwa die, warum der offensichtlich unter Wahnvorstellungen leidende Täter Waffen besitzen durfte. „Wir sind immer noch im Dunkeln. Niemand kann uns zusichern, dass morgen sowas nicht wieder passiert“, sagt Koçak.
Kurz nach dem Anschlag am 19. Februar war der 46-Jährige bei der Trauerfeier ans Mikrofon getreten und hatte in einer bewegenden Rede die Politik zum Handeln gegen Rassismus, Hass und Gewalt in Deutschland aufgerufen. Doch getan habe sich seither nichts, sagt Koçak. Rassismus und Rechtsextremismus nähmen weiter eine gefährliche Entwicklung. Das erschwere die Verarbeitung des Erlebten. „Ich habe das Vertrauen in Deutschland verloren“, sagt er.
Hanau ist seine Heimat – doch nach dem Attentat fühlte er sich hier nicht mehr sicher und litt monatelang unter Angstattacken. Den Kiosk musste die Familie aufgeben, derzeit lebt er von Hartz IV. Mit Hilfe von Traumatherapie, psychologischer Begleitung und Unterstützung durch die Beratungsstelle „Response“ für Betroffene von rechter und rassistischer Gewalt sucht Koçak nun mühsam seinen Weg zurück ins Leben. „Diese Tat hat uns Hanauer und besonders die Menschen mit Migrationshintergrund komplett zerstört. Wie soll man damit umgehen? Die Wunde ist noch immer offen.“
Macit Bozkurt weiß, wie es Koçak und anderen Betroffenen geht. Der Hanauer Imam hält engen Kontakt zu ihnen und begleitet sie als Seelsorger. „Die Taten und Schmerzen sind sehr frisch. Die Familien treffen sich mehrmals die Woche und versuchen, das zu überwinden“, sagt Bozkurt. Auch Jugendliche, die als Augenzeugen den Anschlag erlebt hätten oder mit den Opfern befreundet gewesen seien, stünden weiter stark unter dem Eindruck der Ereignisse des 19. Februars. Mehrere der Getöteten seien regelmäßig zum Beten in die Hanauer Moschee gekommen, hätten an Seminaren und anderen Veranstaltungen teilgenommen – und seien durch die Tat herausgerissen worden aus dieser Gemeinschaft.
Es sei wichtig, die Trauer zu etwas Positivem zu entwickeln, sagt Bozkurt. So sei man seit dem Anschlag in regem Austausch mit der Stadtverwaltung und anderen Religionsgemeinschaften, etwa über einen Runden Tisch der Religionen. Hinzukommen müsse aber eine lückenlose Aufklärung des Anschlags, um verlorenes Vertrauen der Betroffenen zurückzugewinnen. „Es ist nicht die erste Tat hier in Deutschland“, sagt er mit Blick auf die NSU-Morde, auf das rechtsextremistische Attentat in Halle im Oktober vergangenen Jahres oder den Brandanschlag in Solingen mit fünf Toten im Jahr 1993.
„Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und eine Herausforderung, vor der wir stehen, gegen die etwas getan werden muss und die nicht einfach heruntergeredet werden darf“, mahnt der Imam. Von den Trauernden in Hanau dürfe zugleich niemand erwarten, dass sie das Geschehene rasch überwinden und zur Normalität übergehen. „Es wird einige Jahre dauern, bis das verarbeitet wird“, sagt Bozkurt.
Auch Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) erhofft sich von den Ermittlungen Antworten auf Fragen wie die, ob der Täter möglicherweise Teil eines rassistischen Netzwerkes gewesen ist. „Diese Frage ist für mich erkennbar bis heute nicht klar beantwortet, aber die muss beantwortet werden“, sagt der Rathauschef. Aus dem für Hanau „härtesten Jahr seit Kriegsende“ will er trotz allem auch Zuversicht für 2021 mitnehmen. Gerade im Umgang mit dem 19. Februar seien Werte wie Zusammenhalt, Solidarität, Nächstenliebe, Respekt und Achtsamkeit in der Stadtgesellschaft besonders zutage getreten und gelebt worden, sagt Kaminsky.
Die wichtige und notwendige Auseinandersetzung mit dem Phänomen Rechtsextremismus soll in Hanau zudem weitergehen – über das künftige Zentrum für Demokratie und Vielfalt einerseits, aber auch über das Gedenken zum Jahrestag des Anschlags. Daran sollen sich vielfältige Akteure beteiligen – darunter Politiker ebenso wie Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften, Schulen und Unternehmen. „Wir haben uns als Gesamtgesellschaft diesen Themen zu stellen, und das wollen wir auch in Hanau tun an diesem Tag“, sagt Kaminsky.
Erst vor kurzem war ein Gutachten bekannt geworden, wonach der Attentäter von Hanau psychisch krank war. Er habe an einer paranoiden Schizophrenie gelitten – gepaart mit einer rechtsradikalen Ideologie. Wann die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft abgeschlossen sind, ist indes noch nicht absehbar. (dpa, iQ)