Wir geben einen Überblick über die – aus unserer Sicht – wichtigsten Ereignisse und Berichte aus dem Jahr 2020. IslamiQ wünscht einen guten Start ins neue Jahr und hofft auf ein ruhigeres Jahr 2021.
Der rassistische Anschlag in Hanau, die Corona-Krise, Rassismus bei der Polizei, 25 Jahre Srebrenica, die Urteile zum Christchurch-Anschlag und zum Kopftuchverbot in Berlin und die Anschläge in Paris und Nizza waren wichtige Themen in Politik und Medien im Jahr 2020.
Der 19.12.2020 wird als schwarzer Tag in die Geschichte Deutschlands eingehen. An jenem Abend wurden Ferhat Ünver, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kalojan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Fatih Saraçoğlu in Hanau von einem rechtsextremistischen Attentäter erschossen.
Die Polizei findet den Attentäter später tot in der Wohnung seiner Eltern in der Nähe des letzten Tatortes, auch seine eigene Mutter hat er getötet. Was sich genau in den wenigen Minuten des rassistisch motivierten Anschlags abspielte, ist auch Monate später noch nicht klar. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, der Abschlussbericht des Generalbundesanwalts lässt auf sich warten. Die Stadt Hanau und die Menschen dort werden noch lange mit den Geschehnissen vom 19. Februar zu kämpfen haben. Die Initiative 19. Februar kämpft darum, dass die Opfer nicht vergessen werden und die Trauer ihren angemessenen Platz findet.
Im Frühjahr wurde auch Deutschland vom Corona-Virus heimgesucht. Das Virus hat sowohl das alltägliche Leben, als auch das religiöse Leben in Deutschland lahmgelegt. Zum ersten Mal in der Geschichte des muslimischen Lebens in Deutschland wurden die Moscheen wochenlang geschlossen und die Gemeinschaftsgebete ausgesetzt – und das ausgerechnet zum Monat Ramadan, der seit Ewigkeiten als Gemeinschaft begangen wird. Es sollte der erste einsame Ramadan in den eigene vier Wänden werden. Diesen Zustand haben wir zum Anlass genommen und die Hashtagaktion #missmymosque ins Leben gerufen. Ziel der Aktion war es, die Bedeutung der Moschee in Zeiten der Corona-Krise hervorzuheben. Hierzu haben mehr als tausend Personen ihre persönlichen Erlebnisse, Eindrücke oder positiven Erinnerungen aus der Moschee geteilt.
Nach zwei Monaten Zwangspause haben die Moscheen dank eines 16-Punkte-Plans des Koordinationsrat der Muslime wieder ihre Türen geöffnet. Jedoch konnten Muslime nicht mehr Schulter an Schulter beten, sondern nur mit 1,5 m Abstand und Maske. Doch hatte die Corona-Pandemie auch ihre guten Seiten, da er den gesellschaftlichen und nachbarschaftlichen Zusammenhalt gestärkt hat. Vielen junge Menschen, darunter auch Muslime, haben den Einkauf für ihre Nachbarn, die zur Risikogruppe gehörten, erledigt, ihnen Masken genäht oder ihnen Iftar-to-go-Speisen vorbereitet. Auch der Tag der offenen Moschee hat – mit Einschränkungen – stattgefunden. Motto war: „Glaube in außergewöhnlichen Zeiten“.
Am 11. Juli 2020 hat sich der Völkermord in Srebrenica zum 25. Mal gejährt. Am 11. Juli 1995 wurde Srebrenica zum Schauplatz der grausamsten Tat in Europa nach dem zweiten Weltkrieg. Während des Bürgerkrieges (1992-1995) in Bosnien und Herzegowina marschierten serbische Truppen im Juli 1995 in die Stadt ein. Die stationierten UN-Blauhelm-Soldaten konnten die Bevölkerung vor den Serben nicht schützen. Mehr als 8.000 muslimische Bosniaken wurden an diesem Tag zusammengetrieben und getötet.
Im IslamiQ-Interview haben wir mit den Augenzeugen und Überlebenden Hasan Nuhanović und Muhamed Duraković, Organisator des alljährlichen Friedensmarsch „Marš Mira“, über die Folgen von Srebrenica, die aktuelle Lage im Land und dem Kampf für Gerechtigkeit gesprochen.
Am 27.08.2020 wurde der Attentäter von Christchurch zu einer lebenslangen Haft verurteilt. Ein solches Strafmaß ist bisher einzigartig in Neuseeland. Der Rechtsextremist hatte im März 2019 zwei Moscheen in Neuseeland angegriffen und 51 Menschen getötet. 50 weitere wurden teilweise lebensgefährlich verletzt. Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern hat die lebenslange Haftstrafe für den Attentäter von Christchurch begrüßt. „Ich hoffe, heute ist der letzte Tag, an dem wir Anlass haben, den Namen des dahinter stehenden Terroristen zu hören oder auszusprechen“, teilte die 40-Jährige am Donnerstag kurz nach der Verkündung des Urteils mit. „Er verdient völlige Stille auf Lebenszeit.“
Mit dem Urteilsspruch ist damit eineinhalb Jahre nach den Anschlägen eines der dunkelsten Kapitel in der jüngeren Geschichte des Pazifikstaates abgeschlossen – zumindest juristisch gesehen. Denn viele Betroffene werden das Massaker nie vergessen.
Das im Berliner Neutralitätsgesetz verankerte pauschale Kopftuchverbot für Lehrerinnen verstößt nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts gegen die Verfassung. Das Gericht wies am 27. August 2020 die Revision des Landes Berlin gegen ein Urteil des Landesarbeitsgerichts zurück. Dieses hatte einer muslimischen Lehrerin im November 2018 rund 5159 Euro Entschädigung zugesprochen, weil sie wegen ihres Kopftuches nicht in den Schuldienst eingestellt worden war. Nach Einschätzung der Erfurter Richter sei ein generelles, präventives Verbot zum Erhalt des Schulfriedens nicht rechtens, erläuterte die Sprecherin. Vielmehr müssten konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Schulfriedens vorliegen. Die bisherige Regelung verletze die Religionsfreiheit der Lehrerinnen.
„I can‘t breathe“. Das waren die letzten Worte von George Floyd, der bei einem gewaltsamen Polizeieinsatz in der US-Stadt Minneapolis gestorben ist. Sein Tod führte zu weltweiten Protesten über Polizeigewalt und Racial Profiling, auch in Deutschland. Bundesweit gerieten Polizisten wegen ihren Einsätzen und den auftauchenden rechtsextremen Chats in die Kritik. Im Netz machten Videos aus Krefeld, Düsseldorf und Hamburg die Runde. Die Ereignisse wurden mit dem Fall George Floyd in Amerika verglichen, so dass von vielen Seiten eine Studie zu Rassismus bei der Polizei verlangt wurde. Doch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat sich gegen eine Studie gestellt, die Rassismus nur in den Polizeibehörden in den Blick nimmt. Stattdessen sollte der stressige Alltag der Polizisten untersucht werden, um Handlungsempfehlungen zu formulieren.
Laut einer bundesweiten Studie von Bochumer Wissenschaftlern gibt es innerhalb der Polizei Hinweise auf Rassismus. Ein Polizeibeamter wurde gegenüber den Forschern ganz deutlich. Bei manchen Kollegen heiße es: „Heute gehen wir Türken jagen.“ Dann gingen sie bei Streifenfahrten gezielt auf die Suche. Für die Studie „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamte“ wurden seit 2018 insgesamt 3370 Menschen befragt und 63 Experteninterviews geführt. Die Studie kam zum Schluss, dass die wiederkehrenden Berichte über Rassismus und Rechtsextremismus innerhalb der Polizei die Notwendigkeit einer forschungsbasierten, kritisch reflektierenden Diskussion verdeutlichen.
In Frankreich und Österreich haben sich die Ereignisse im Jahre 2020 ebenfalls überschlagen. Anfang Oktober hatte Präsident Emmanuel Macron einen härteren Umgang mit Muslimen im Land angekündigt. Einen Tag nach seiner Rede stürmte die Polizei die Omar-Moschee in Paris. Weitere Moscheen wurden islamfeindlich angegriffen und Musliminnen verletzt.
Am 16. Oktober 2020 wurde der Geschichtslehrer Samuel Paty mitten auf der Straße enthauptet, weil er im Unterricht das Thema Meinungsfreiheit mit den umstrittenen Karikaturen von Charlie Hebdo über den Propheten Muhammad (s) thematisiert und gezeigt hatte. Die Ermordung von Paty entfachte eine Debatte über Kunst-und Meinungsfreiheit im Unterricht, auch in Deutschland. Ende Oktober tötete ein Attentäter bei einem Messerangriff in der Basilika Notre-Dame in Nizza drei Menschen. Vertreter der islamischen Religionsgemeinschaften in Europa bekundeten ihre Solidarität mit der französischen Nation. Angesichts dieser Spannungen hat die französische Regierung ein Gesetz beschlossen, um Moscheen schneller schließen zu können und sich im Kampf gegen den „radikalen und politischen Islam“ zu wappnen.
Auch in Wien haben Extremisten einen Terroranschlag verübt. Bei der Tat starben fünf Menschen, 23 weitere wurden teils schwer verletzt. Nach dem Anschlag in Wien hat die österreichische Regierung ein Anti-Terror-Paket beschlossen. Zu den Maßnahmen gehört der „politische Islam“ als eigene Straftat, ein Imam-Verzeichnis und die schnellere Schließung von Moscheen. Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) äußerte Kritik und Sorge bezüglich dem Maßnahmenpaket der Regierung. Derweil hatte die Kommission zum Wiener Anschlag ein Zwischenbericht zu den Versäumnissen und Fehler der Sicherheitsbehörden veröffentlicht.
Dieses Jahr haben wir die zweite Ausgabe unseren Printmagazin herausgebracht. Diesmal zum Thema “Halal nachhaltig leben”. Eine der alltäglichen Fragen der in Deutschland lebenden Muslime ist die nach Halal-Lebensmitteln. Diese umfassen nicht nur das islamkonforme Schlachten von Tieren, sondern alle Produkte des Alltags und darüberhinaus. Im Wesentlichen betrifft diese Frage nicht nur Muslime, sondern die gesamte Gesellschaft. Vor allem die komplexen industriellen Produktionsstandards, die oft weder halal noch ethisch sind, machen die Frage der Halal-Ernährung zu einem wichtigen Tagesordnungspunkt für Muslime. Aktuell arbeiten wir an der dritten Ausgabe unseres Printmagazins, diesmal zum Thema „(antimuslimischer) Rassismus in Deutschland“.
Aufgrund der Corona-Krise mussten auch wir im Jahr 2020 unsere IslamiQdiskutiert-Veranstaltungen verschieben und später auch digitalisieren. So haben wir in unserer vierten IslamiQdiskutiert-Veranstaltung den Bundestagsabgeordneten Helge Lindh (SPD) und den Hanauer Imam Macit Bozkurt zum Thema „Rassismus – von Solingen bis Hanau“ eingeladen. Die Veranstaltung sollte Raum schaffen und den steigenden Rassismus zu analysieren. Insbesondere ging es um die Fragen, warum Politik und Gesellschaft immer noch keine Lösung für dieses Problem gefunden haben.
Die Corona-Krise hat das muslimische (Gemeinde)Leben in Deutschland beeinflusst. Diese Entwicklungen barg Chancen und Herausforderungen für die zukünftigen Strukturen und Angebote der muslimischen Gemeinden wie auch das individuelle religiöse Leben.
In einer Serie von #IslamiQdiskutiert-Veranstaltungen haben wir die erkennbaren und möglichen Folgen der Corona-Pandemie in verschiedene Bereiche des individuellen und gemeinschaftlichen muslimischen Lebens, gemeinsam mit dem Islamrats-Vorsitzenden Burhan Kesici und der Bildungsberaterin Özlem Nas, dem Soziologen Dr. Kerim Edipoğlu und dem Imam Mücahid Eker, dem Psychologen Amin Loucif und Fudul-Geschäftsführerin Meryem Özmen-Yaylak, diskutiert.
Für das nächste Jahr haben wir noch einiges vor und freuen uns drauf, es euch vorzustellen. An dieser Stelle möchten wir auch einen großen Dank an unsere Autorenschaft und an unsere Leserinnen und Leser aussprechen und wünschen allen einen guten Start ins neue Jahr.