Leben und Tod

„Wir alle leiden unter der tödlichen Krankheit, die Leben heißt“

Mit dem Tod sind viele ethische, rechtliche und religiöse Fragen verbunden. Im IslamiQ-Interview sprechen wir mit Dr. Martin Mahmud Kellner über die Sicht des Islams auf Leben und Tod.

07
01
2021
Leben und Tod
Symbolbild: Leben und Tod © Shutterstock, bearbeitet by iQ.

IslamiQ: Mit dem Tod wird Finsternis, Traurigkeit und Schmerz assoziiert. Was verbinden Muslime mit dem Tod?

Dr. Martin Kellner: Der Tod bedeutet für den Muslim einen Übergang von einer Dimension des Lebens in die nächste. Die Geburt ist ein schmerzhafter, schwieriger, aber dennoch positiver Übergang von einer Lebensform (im Mutterbauch) hin zu einem größeren, weiteren Leben in dieser Welt. Danach stellt der Tod wiederum einen schwierigen, unter Umständen schmerzhaften, aber nicht in sich negativen Übergang in eine nächste Form des menschlichen Lebens dar, die man Barzâh nennt.

IslamiQ: Wie wird im Islam der menschliche Körper und das Leben definiert?

Dr. Kellner: Leben ist Bewegung, der Körper ist jenes Instrument, in dem die Seele für eine bestimmte Zeit lebt. Die Frage ist, was man mit diesem Körper tut, welche Befehle man ihm gibt. Diese Verantwortung dauert für jene Jahre oder Jahrzehnte an, die man als erwachsener denkender Mensch in dieser Welt ist. Wenn der Tod eintritt, trennt sich die Seele wieder vom Körper und diese Verantwortung ist zu Ende, gleichzeitig aber ist es auch so, dass es danach keine Chance mehr zur Korrektur gibt. Deshalb sollte man die Zeit hier gut nutzen und sich bewusst sein, dass die Lebenszeit wie eine Sanduhr abläuft und dass wir alle an einer tödlichen Krankheit leiden, die Leben heißt. Wir alle gehen auf den Tod zu.

IslamiQ: Sollte der Mensch „um jeden Preis“ am Leben erhalten werden?

Dr. Kellner: Nein, nur dann, wenn man Nutzen darin sieht, Leben aufrechtzuerhalten. Medizinische Behandlung unterliegt den fünf Kategorien des islamischen Rechts. In manchen Fällen ist medizinische Behandlung eine Pflicht für den Gläubigen, etwa dann wenn man weiß, dass man eine Krankheit behandeln kann, deren Nichtbehandlung lebensgefährlich ist, zum Beispiel eine akute Blinddarmentzündung. In manchen Fällen ist es erlaubt, sich behandeln zu lassen, aber auch genauso erlaubt, auf Behandlung zu verzichten, wie zum Beispiel eine Chemotherapie bei einer fortgeschrittenen Krebserkrankung. In manchen Fällen kann eine Behandlung sogar verboten sein, wie zum Beispiel die Transplantation einer gekauften Kinderniere.

IslamiQ: Bedarf es einer Hospizarbeit nach islamischem Verständnis?

Dr. Kellner: Ja, natürlich, das wäre wünschenswert, aber man müsste sehr genau überlegen, was ein Hospiz denn islamisch machen würde? Was bedeutet das Attribut „islamisch“? Heißt es, dass alle Patienten beispielsweise türkischen Ursprungs sind? Oder dass alle Muslime sind? Oder dass beim Essen islamische Speisevorschriften eingehalten werden? Oder dass gemeinsam gebetet wird?

IslamiQ: Wie beurteilen Sie das ehrenamtliche Engagement von Muslimen in der Sterbebegleitung und in der Hospizarbeit?

Dr. Kellner: Muslimische Patienten in einer palliativen Behandlungssituation werden wahrscheinlich Angebote von muslimischen Helfern leichter annehmen. Statistiken deuten darauf hin, dass Muslime in der Palliativbetreuung unterversorgt sind, vermutlich, weil das Sterben auch mit gewissen Tabus usw. behaftet ist und weil man gerade in dieser Lebensphase wahrscheinlich Angst davor hat, in seinen kulturellen und religiösen Bedürfnissen nicht ernst genommen zu werden.

Am Ende des Lebens geht die medizinische Versorgung meistens eher zurück und die seelische, soziale und spirituelle Dimension tritt vielleicht in den Vordergrund. Deshalb ist religiöse Kompetenz in dieser Zeit besonders wichtig. Außerdem herrscht bei nichtmuslimischen Pflegekräften sehr oft große Unsicherheit, wie man mit sterbenden muslimischen Patienten umgehen soll: Wie betreut man Angehörige, welche Rituale des Abschieds gibt es? Hier wäre es wünschenswert, dass es einerseits professionelle seelsorgerische Betreuung für die Patienten sowie interkulturell versierte Übersetzer gibt, die kulturelle Missverständnisse vermeiden könnten.

Zudem wird es immer wichtiger, muslimische Konzepte von Seelsorge zu entwickeln und auch daran zu denken, Institutionen zu schaffen, die auf diese Patientengruppe zugeschnitten sind. Des Weiteren ist auch denkbar, dass es künftig ehrenamtlich tätige Muslime gibt, die ihre religiöse Kompetenz dabei einsetzen, auch nichtmuslimische sterbende Menschen zu begleiten. Wir sollen auch nicht in ethnischen Kategorien denken, wenn wir über religiöse Werte sprechen. Letzten Endes bedeutet religiöse Orientierung auch Verantwortung für die Menschheit als solche.  

IslamiQ: Hat die fehlende Anerkennung und Institutionalisierung islamischer Religionsgemeinschaften negative Auswirkungen auf die muslimische Palliativ- und Hospizarbeit?

Dr. Kellner: Ganz sicher, weil die mangelnde öffentliche Repräsentanz dieser bedeutenden religiösen Minderheit ja auch mit einer gewissen Sprachlosigkeit und mit mangelnden Rechtsansprüchen einhergeht. Man sollte aber auch nicht irgendwelche Formen der Institutionalisierung und Anerkennung um jeden Preis anstreben. Eine sinnvolle muslimische Palliativversorgung wäre mit guter Gemeindearbeit aus eigener Kraft durchaus initial zu beginnen und dann gemeinsam mit wohlmeinenden zivilgesellschaftlichen Kräften aufzubauen. Wichtig ist, die klare Vision sowie die Ausdauer im Aufbau derartiger Strukturen, vieles geht aber auch ohne die großen Geldtöpfe, auf die oft viel zu lange untätig gewartet wird.

IslamiQ: Zum Thema „Bioethik“ wurde aus islamisch-theologischer Perspektive wenig geforscht. Woran liegt das?

Dr. Kellner: Das Thema Bioethik wurde und wird aus islamischer Perspektive gar nicht so wenig erforscht. Das Problem liegt eher darin, dass man sehr lange an eher spektakulären Themen wie Klonen und Stammzellenforschung interessiert war, sich aber zu wenig um eher alltägliche, aber wichtige ethische Fragen wie die nach ethisch und religiös legitimen Formen der Sterbebegleitung gekümmert hat.

IslamiQ: Denken Sie, dass die bestehende theologische Beschäftigung mit dem Thema ausreicht, um aktuelle ethische und rechtliche Fragen zum Sterbeprozess zu beantworten?

Dr. Kellner: Definitiv nicht. Wir finden einerseits die wohlbekannten Positionen der Ablehnung von direkter, aktiver Sterbehilfe und ähnlichen Eingriffen, über deren Verbot meines Wissens nach relativ deutlichem Konsens unter islamischen Rechtsgelehrten herrscht. Die Frage ist aber: Was macht man mit all den Grauzonen der medizinischen Praxis am Lebensende? Wir sagen beispielsweise, dass Schmerzmittel erlaubt sind. Was ist aber, wenn wir so viele Schmerzmittel verabreichen müssen, um dem Kranken Leid zu ersparen. Oder wenn wir wissen, dass damit auch die Atemfunktion eingeschränkt wird und wir durch die Schmerzbehandlung einen früheren Tod in Kauf nehmen. Wo genau ist hier die Grenze?

Oder: Was tut man, wenn die Ärzte Methoden wie palliative Sedierung als einzige Möglichkeit sehen, dem Patienten Leiden zu lindern, wir aber wissen, dass damit das Bewusstsein verloren geht? Gerade dieses schützenswerte Bewusstsein ist es, das dem Menschen ermöglicht, auch in der letzten Phase seines Lebens Allahs zu gedenken, was ja eigentlich ein Ziel des Sterbeprozesses ist. All das müsste von kompetenten Rechtsgelehrten diskutiert werden, welche ihrerseits wiederum die medizinischen Fakten, die oft sehr komplex sind, verstehen und deren Konsequenzen wirklich begreifen, zugleich aber tiefe Kenntnis der Grundlagen und Ziele islamischer Normen haben.

IslamiQ: Die medizinischen Interventionsmöglichkeiten haben sich stark entwickelt. Welche theologischen Fragen tauchen vor diesem Hintergrund auf, wenn es um die Grenze zwischen Leben und Tod geht?

Dr. Kellner: Es geht grob gesagt um die Frage, wie wir den Tod medizinisch feststellen: Hier tritt die Frage auf, ob der Hirntod mit dem biologischen Tod gleichgesetzt werden kann, und wenn ja, wie der Hirntod genau zu definieren ist. Obwohl es viele Verlautbarungen muslimischer Gremien gibt, dass der Hirntod akzeptiert wurde, ist dieses Thema immer noch umstritten, und zwar nicht nur in der islamischen Rechtslehre, sondern auch in der europäischen Bioethik. Die Antwort auf diese Frage hat ganz konkrete Auswirkungen auf die Zulässigkeit von Organspenden und auf Ebene der nicht medizinisch tätigen Muslime auf die Frage der Spendenbereitschaft. Jedenfalls ist zu sagen, dass die Diskussion über die Zulässigkeit des Hirntodkriteriums aus islamischer Sicht keineswegs abgeschlossen ist.

Dann geht es um die Frage des „richtigen Sterbens“, der Möglichkeit, den Tod zu beschleunigen oder hinauszuzögern – auch wenn die Grundlinien im islamischen Recht klar sind, müssen viele Fälle der Praxis noch diskutiert werden. Die nächste Frage ist die der Ethik im Umgang mit Verstorbenen – diese sind zwar nicht mehr so geschützt wie Lebende, aber dennoch ist ein menschlicher Leichnam mehr als nur biologisches Material. Daraus erwachsen Fragen der Zulässigkeit von postumen Organspenden, aber auch der Sektion von Leichen zu didaktischen Zwecken und ähnliches.

Abgesehen von diesen speziellen Themen gibt es aber auch die allgemeine Aufgabe, innerhalb der muslimischen Gemeinschaft das Thema Sterben und Tod, welches Menschen aus ihrer Natur heraus gerne verdrängen, wieder mehr bewusst zu machen und eine Kultur der konstruktiven, rationalen Auseinandersetzung mit dem natürlichen Wechsel von Leben und Tod zu fördern.

Das Interview führte Elif Zehra Kandemir.

 

Leserkommentare

Vera Praunheim sagt:
Hier wird auf die Bedeutung islamischer Rechtsgelehrter hingewiesen. Im Christentum sind christliche Rechtsgelehrte als solche eigentlich gar nicht bekannt. Christliche Normen sind ziemlich einfach zu verstehen und brauchen daher keine aufwendige Erklärung oder spitzfindige Deutung durch hoheitliche Religionsexperten. Wahre Religiosität macht sich auch nicht abhängig von Machtstrukturen und autoritären Kasten - sie findet einfach individuell, frei und autonom statt.
08.01.21
0:09
Dilaver Çelik sagt:
Mit anderen Worten: Wir alle sind zum Tode verurteilt und niemand von uns weiß, wer als nächster hingerichtet wird. Bis zum Tag unserer Hinrichtung wollen wir die uns noch verbliebene Zeit mit wichtigen Dingen verwerten. Am Ende werden wir alle vor dem Schöpfer stehen und, ob wir es wollen oder nicht und ob wir es glauben oder nicht, Rechenschaft ablegen. Ohne Ausnahme. Möge Gott uns helfen und beistehen.
09.01.21
15:42
René Senf sagt:
@Verna Praunheim: Vielleicht ist das Fehlen christlicher Rechtsgelehrter das Problem. Wie soll man ohne Expertise Ahnung von der Religion haben? Erst so kann man ja Religiosität erlangen. Bei den islamischen Rechtsgelehrten handelt es sich keineswegs um Machtstrukturen. Es sind Experten, die man bei Glaubensfragen zu Rate zieht, genauso wie ein Arzt der medizinisches Wissen hat und nach einer Untersuchung Auskunft über den physischen Zustand des Körpers geben kann. Nach Ihrer Definition gehöre ein Arzt also zu einer autoritären Kaste?!
28.10.21
12:52