Wenn ein Muslim in Deutschland Literatur in deutscher Sprache oder auf Arabisch schreibt, ist das dann deutsche oder islamische Literatur? Ein Gespräch mit dem Autor und Übersetzer Stefan Weidner über orientalische Literatur.
IslamiQ: Beginnen wir mit einem Blick in die Geschichte: Fast alle Länder der heutigen „islamischen Welt“ haben eine koloniale Vergangenheit. Wie haben sich Kolonialismus und Nationalismus auf die Literatur ausgewirkt?
Weidner: Man kann sagen, dass es die moderne Literatur, wie wir sie heute kennen, ohne diese beiden Faktoren nicht gäbe. Der Kolonialismus hat die europäische Literatur in die islamisch geprägte Welt getragen und dadurch massiv die Literaturen vor Ort verändert. Ferner hängen die moderne Literatur und der Nationalismus eng zusammen, in Europa ebenso wie im Nahen und Mittleren Osten. Die Literatur sollte nationale Erzählungen und Mythen schaffen, also zur Entstehung und Bildung der Nation beitragen.
Ein Beispiel dafür ist Hikmets „Epos vom Befreiungskrieg“ oder sind die pharaonischen Romane von Nagib Machfus aus den dreißiger Jahren. Beide haben zum Ziel, eine nationale Identität, nationale Mythen zu schaffen. Auch Gedichte spielten dabei eine große Rolle, etwa bei den Palästinensern. Wenn Mahmud Darwish aus Palästina schreibt „Wir haben ein Land aus Worten“ wird die Literatur sogar zum Ersatz für den unerreichbaren Nationalstaat.
Oder nehmen wir das Beispiel Türkei: Die Frage der Identität der Türkei zwischen säkularem Nationalismus und Religion, die Frage welche Moderne man will (und ob überhaupt eine), ist eines der wichtigsten Themen der türkischen Literatur. Sehr subtil zum Beispiel bei Pamuk, etwa in seinem Roman „Die rothaarige Frau“. Der Roman lässt sich als Allegorie über die Gespaltenheit der Türkei zwischen Erdogans osmanisch-islamischer Renaissance und säkularen und linken Ideologien lesen. Oder nehmen wir Tanpınars berühmtes „Uhrenstellinstitut“, ein tiefironischer Roman über die Absurditäten der modernen Bürokratie, des Effektivitätsdenkens und Ordnungswahns, der mit der Gründung der Türkischen Republik dort ebenso um sich griff wie in Europa, wo Kafka auf andere Weise dieselbe Problematik thematisierte.
Auch Kriege beeinflussen die orientalische Literatur. Einerseits spiegeln sie sich in ihr, andererseits machen sie den Literaten das Leben schwer. Gerade die Konflikte machen diese Literatur aber auch besonders spannend und für Leser in Europa interessant, die kaum noch über eigene Erfahrungen mit Kriegen und gewaltsamen Konflikten verfügen. In den orientalischen Literaturen steht mehr auf dem Spiel, geht es um mehr und um existenziellere Probleme als in der heutigen europäischen Literatur, die sozusagen unter Wohlstandskrankheiten leidet, sich zunehmend mit eingebildeten, sehr subjektiven Problemen und Themen herumschlägt und kaum noch an fundamentale menschliche Erfahrungen rührt.
IslamiQ: Literatur aus der sog. „islamischen Welt“ ist und muss nicht immer „islamisch“ sein. Davon wird aber, so scheint es, oft ausgegangen.
Weidner: Man glaubt, die Gesellschaften der islamischen Welt, seien, wie es der Ausdruck ja nahelegt, vor allem irgendwie islamisch, das heißt besonders von der Religion geprägt. Aber das ist eine schwerwiegende, klischeehafte Reduktion dieser Gesellschaften, die hochkomplex sind, wovon die moderne Literatur auch kündet und erzählt. Darin äußert sich ferner ein ganz falsches Bild des Islams, der seinerseits genauso wenig den gängigen Klischees entspricht und selbst hochkomplex und mit dem Leben der modernen Gesellschaften verschmolzen ist. Der Islam ist heute praktisch nirgendwo mehr vermodern, sondern eine spezifische Antwort auf die Moderne, ein prägender Teil von ihr.
IslamiQ: Stichwort Moderne. Wie steht es um die orientalische bzw. islamisch geprägte Literatur im heutigen Europa?
Weidner: Heutzutage steht es darum viel besser als vor einem Vierteljahrhundert, als kaum etwas übersetzt war und es nur wenige zugewanderte Autoren gab, jedenfalls nur wenige die prominent waren, zumindest in Deutschland. Heute können wir zum Beispiel weit über dreihundert aus dem Arabischen übersetzte Bücher – Romane, Gedichte, Essays – auf Deutsch lesen. Auch aus dem Türkischen ist in den letzten Jahren – endlich! – viel übersetzt worden. In „1001 Buch“ erwähne ich ca. 300 Titel – und das ist nur ein Bruchteil dessen, worüber ich hätte schreiben können.
IslamiQ: Wenn ein Muslim in Deutschland Literatur in deutscher Sprache oder auf Arabisch schreibt, ist das dann deutsche oder islamische Literatur?
Weidner: Islamische Literatur ist es ganz gewiss nicht – diesen Ausdruck würde ich nur für religiöse Literatur im eigentlichen Sinn verwenden. Literatur aus der islamischen Welt kann es natürlich auch nicht sein, weil sie ja dann in Europa geschrieben worden ist. Aber wenn ein Autor mit arabischen Wurzeln auf deutsch über die arabische Welt schreibt, ist das natürlich ebenso sehr deutsche wie arabische Literatur. Das gilt umso mehr, als es ja auch Autoren gibt, die in beiden Sprachen schreiben, publizieren, teilweise ihre eigenen Bücher übersetzen. Ein solcher Fall mit Bezug auf die Türkei ist zum Beispiel Zafer Şenocak. Ich finde gerade diese Übergänge und Grenzverwischungen spannend. Es wäre daher einseitig, diese Literatur nur in einem einzigen Sinn zu labeln. Anders gesagt: Deutsche und orientalische Literatur ist kein Widerspruch und kein Gegensatz, sondern beides kann auf ein und dasselbe Buch zutreffen.
IslamiQ: Welche Rolle spielt hierbei die arabische Sprache?
Weidner: Spuren des Arabischen finden sich mehr oder weniger stark in allen orientalischen Literaturen, unverkennbar zum Beispiel im Wortschatz. Das gilt selbst dann, wenn diese Sprachen nicht mehr die arabische Schrift benutzen, wie das Türkische. Wo man sie noch benutzt, ist die Verbindung schon im Schriftbild unübersehbar. Man könnte sogar so weit gehen, orientalische Literaturen als solche zu definieren, die von der arabischen Sprache geprägt sind. Die Prägung durch Koran und religiöses Schrifttum auf Arabisch kommt noch hinzu und ist vor allem für die alte Zeit und die klassischen Literaturen bedeutsam.
In den modernen finden wir deutlich weniger dieser religiösen Spuren. Schließlich ist das Arabische für die klassischen poetischen Formen aller orientalischen Literaturen prägend gewesen, besonders mit Bezug auf Reim und Metrum. Das Arabische spielt damit eine ähnliche Rolle für die orientalischen Literaturen wie das Lateinische für die europäischen – mit dem schönen Unterschied, dass das Arabische immer noch sehr lebendig ist. Schließlich finden wir überall in den orientalischen Literaturen Verweise auf alt-arabische Mythen, etwa auf die Liebesgeschichte von Madschnûn und Layla.
IslamiQ: Inwieweit haben Frauen als Literaten Einfluss auf die islamisch/orientalisch geprägte Literatur?
Weidner: Die Frauen sind in den orientalischen Literaturen zunehmend prominent vertreten. Eine der ersten war übrigens Halide Edip Adıvar aus der Türkei, deren Bücher schon in den zwanziger Jahren ins Deutsche übersetzt wurden. Der Anteil der schreibenden Frauen ist seither kontinuierlich in allen orientalischen Literaturen gewachsen. Diese Entwicklung ist uneingeschränkt als positiv zu werden. Wenn sie auch in Zukunft trotz aller Krisen weitergeht, dürfen wir dies aus als Zeichen werten, dass das Geschlechterverhältnis in der islamischen Welt sich insgesamt langsam, aber sicher in die Richtung entwickelt, die wir aus Europa kennen. Defizite werden, wie ja auch im Westen, auf absehbare Zeit bestehen bleiben. Aber wir werden, und das ist gut so, dann nicht mehr von einem fundamentalen Unterschied in den Geschlechterverhältnissen hier oder dort reden können. Damit würde dann auch einem feministisch argumentierenden Rassismus der Wind aus den Segeln genommen werden.
Das Interview führte Ali Mete.