Religiöse Kleidung ist in der nordrhein-westfälischen Justiz von nun an verboten. Für Musliminnen kommt das einem Kopftuchverbot gleich. Die Juristin Maryam Kamil Abdulsalam schreibt über die Auswirkungen und Widersprüchlichkeit dieses Verbots.
Am 03.03.2021 hat der Landtag in NRW ein Gesetz beschlossen, das einen (vermeintlichen) Ausgleich zwischen religiöser und weltanschaulicher Pluralität sowie der staatlichen Neutralität schaffen soll: Das Justizneutralitätsgesetz NRW untersagt allen Beschäftigten in der Landesjustiz das Tragen religiös, weltanschaulich und politisch konnotierter Symbole und Kleidungsstücke. Ähnliche Gesetze existieren bereits in Hessen, Bayern und Niedersachsen. NRW reiht sich hier nur ein.
Sowohl in Hessen als auch in Bayern entstanden diese Verbotsgesetze als Reaktion auf Rechtsreferendarinnen, die während ihres Referendariats ein Kopftuch tragen wollten und zur Durchsetzung ihrer Rechte den gerichtlichen Weg gegangen sind. Die hessische Klägerin Asmaa E. brachte ihren Fall sogar bis vor das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), das im letzten Jahr über die Zulässigkeit religiös konnotierter Kleidung im Justizdienst entschied. Das Gericht urteilte, dass ein Kopftuchverbot zum Schutze der staatlichen Neutralität in der besonderen Situation, in der sich Richterinnen und Staatsanwältinnen befinden, zwar gerechtfertigt sein könne, es allerdings verfassungsrechtlich nicht geboten sei. Demnach kann der Gesetzgeber ein solches Verbot erlassen oder eben auch nicht. Damit übergibt das BVerfG diese Frage der politischen Entscheidung der Landesregierungen.
Obwohl das nordrheinwestfälische Gesetz nach dem Vorbild der anderer Bundesländer formuliert ist, weist es einige Besonderheiten aus: Religiöse, weltanschauliche und politische Symbole und Kleidungsstücke sind nicht nur für Richter und Staatsanwälte verboten, sondern das Verbot gilt für alle Beschäftigten in der Justiz und geht damit weit über das hinaus, was das BVerfG bisher verfassungsrechtlich gebilligt hat.
Betroffen sind also genauso Rechtsreferendare, Angestellte in der JVA, Protokollanten im Gerichtssaal genauso wie die Urkundsbeamten in der Rechtspflege. Dies gilt gem. § 3 Justizneutralitätsgesetz sowohl während als auch außerhalb gerichtlicher Verhandlungen; es kommt schließlich auf den Kontakt mit Dritten an, in dem sie in hoheitlicher Tätigkeit wahrgenommen werden. Außerdem etabliert § 4 ein Verhüllungsverbot während dienstlicher Tätigkeiten, welches einer gewissen Ironie während Pandemiezeiten und einer allgemeinen Maskenpflicht nicht entbehrt.
Allgemein formuliert, trifft das Gesetz genau diejenigen, die es treffen soll: Muslimische Frauen, die ein Kopftuch tragen.
Allgemein formuliert, trifft das Gesetz genau diejenigen, die es treffen soll: Muslimische Frauen, die ein Kopftuch tragen. Die Annahme, dass sie gemeint sind, liegt nahe, weil die Konfliktfälle mit muslimischen Frauen im Referendariatsdienst zu diesen Gesetzen geführt haben. Theoretisch gilt das Verbot gleichermaßen auch für kippatragende jüdische Männer und männliche Sikhs mit Dastar, allerdings sind bisher keine Fälle dieser Gruppen bekannt, sodass formal zwar alle religiösen, weltanschaulichen und politischen Gruppen gleichbehandelt werden, aber muslimische Frauen faktisch von diesen Einschränkungen am häufigsten betroffen sein werden. Zumindest aktuell.
Jurastudentinnen, die ihr Erstes Staatsexamen erfolgreich abgeschlossen haben, müssen sich nun darauf einstellen, dass sie während ihrer Ausbildungszeit im Referendariat Einschränkungen gegenüberstehen: Die Ausbildung muss ihnen aufgrund des staatlichen Ausbildungsmonopols zwar gewährleistet werden, aber in ihren Stationen beim Gericht und der Staatsanwaltschaft, die alle Referendare gleichsam durchlaufen müssen, werden sie gewisse Tätigkeiten nicht ausführen dürfen. Nämlich all jene Tätigkeiten, in denen sie in hoheitlicher Funktion von Dritten wahrgenommen werden. Sie dürfen also wie sonst üblich nicht mit auf der Richterbank sitzen, sondern müssen hinten als äußerlich Unbeteiligte im Zuschauerraum sitzen. Die Gerichtsstation wird bei ihnen hauptsächlich aus Aktenarbeit bestehen.
Ganz ähnlich wird es bei der Staatsanwaltschaft aussehen: Während andere Referendare auch mal eine Sitzungsvertretung leiten und die Klage verlesen oder Zeugen vernehmen dürfen, ist dies muslimischen Referendarinnen mit Kopftuch verwehrt. Diese Tätigkeiten sind aber auch üblicherweise nicht die Kerntätigkeiten von Referendaren, sodass die Ausbildung vollständig durchlaufen werden kann. Theoretisch dürfen diese Einschränkungen auch keinen Einfluss auf die Benotung der Referendarinnen haben. Zumindest theoretisch.
Genauso wie die einzelnen hoheitlichen Tätigkeiten während der Ausbildungszeit, sind langfristig auch die Berufsbilder der Richterin und der Staatsanwältin für muslimische Frauen ausgeschlossen. Der Beruf der Rechtsanwältin bleibt allerdings weiterhin uneingeschränkt möglich, da Rechtsanwälte unabhängiges Organ der Rechtspflege sind und nicht Teil der Justiz. Ebenso nicht erfasst sind juristische Tätigkeiten in der Verwaltung.
Es ist ein unmissverständliches Signal an gebildete und erfolgreiche junge muslimische Frauen: So wie ihr seid, wollen wir euch in diesen Berufen nicht.
Von der Politik billigend in Kauf genommen sind Folgen dieses Gesetzes, die vermutlich in weiten Teilen auch unausgesprochen bleiben. Nämlich welche Konsequenzen dieses Verbot für die Betroffenen innerlich hat. Es ist nicht bloß ein vermeintlich neutrales Gesetz. Es ist die Erfahrung, über die Jahre des Studiums hinweg viel geleistet zu haben und am Ende trotzdem benachteiligt und ausgeschlossen zu werden. Es ist ein unmissverständliches Signal an gebildete und erfolgreiche junge muslimische Frauen: So wie ihr seid, wollen wir euch in diesen Berufen nicht. Oder etwas abstrakter formuliert: Wenn Hegemonie bedeutet, dass die eigenen Erfahrungen und Realitäten zur Norm erklärt werden, dann wird hier eine Neutralität zur Norm erklärt, die auf der Erfahrung und der Realität von weißen Menschen der Mehrheitsgesellschaft beruht. Muslimische Frauen werden von dieser Norm aktiv ausgeschlossen.
Diese Erfahrungen gehen nicht spurlos an den Betroffenen vorbei, sondern führen mindestens zu einem Vertrauensverlust in die Politik und zu einer Distanziertheit zur Gesamtgesellschaft. Eine Gesellschaft, die sich als plural, weltoffen und innovativ verstehen will, darf sich den Verlust dieser gut ausgebildeten und ehrgeizigen jungen Frauen nicht leisten.
Die Beschränkungen religiös begründeter Bekleidungsvorschriften im Justizdienst stellt einen Eingriff in das Grundrecht der Religionsausübungsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1-2 GG dar. Eingriffe in Grundrechte passieren allerdings tagtäglich und können durch entgegenstehende Interessen gerechtfertigt werden. Eine angemessene Rechtfertigung sieht der Gesetzgeber – gleichlaufend mit der Einschätzung des BVerfG – in dem Schutz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates, der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und der negativen Religionsfreiheit Dritter. Das ist noch nachvollziehbar, denn es gehört zu den Grundsätzen des Berufsbeamtentums nach Art. 33 Abs. 5 GG ein Amt in neutral-distanzierter Art und Weise auszuüben. Schwer nachvollziehbar wird es aber dann, wenn eine Beeinträchtigung der staatlichen Neutralität damit begründet wird, dass religiöse Bekundungen der Einzelperson in der Funktion der Richterin oder Staatsanwältin unmittelbar dem Staat zugerechnet werden. Vielmehr ist es so, dass der Staat hier schlicht die Religionsausübung seiner Angestellten und Beamtinnen zulässt, die auch als solche noch zur Grundrechtsausübung berechtigt sind. Ihnen ist nur eine gewisse Zurückhaltung auferlegt.
Das BVerfG erkennt in seiner Entscheidung im vergangenen Jahr auch an, dass erkennbare Religiosität noch kein Indiz für Unvoreingenommenheit ist. Allerdings kommt es – so das BVerfG – darauf nicht an, entscheidend sei die Wahrnehmung des objektiven Betrachters, der nicht unter dem mangelnden „Anschein der Neutralität“ das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Justiz einbüßen soll.
Die muslimische Protokollantin ist plötzlich ebenso für die staatliche Neutralität verantwortlich, wie der jüdische Wachtmeister am Eingang des Gerichtseingangs.
Das BVerfG beschloss 2020, dass ein Verbot für Richterinnen und Staatsanwältinnen gerechtfertigt sein kann, ebenso akzessorisch für Rechtsreferendarinnen in den entsprechenden Ausbildungsstationen. In einem Sondervotum wies der Richter Maidowski darauf hin, dass auch nochmals zwischen Richterinnen und Staatsanwältinnen auf der einen Seite und Referendarinnen auf der anderen Seite differenziert werden müsse.
Das nordrheinwestfälische Gesetz lässt diese Differenziertheit völlig außer Acht: Anstatt den Anwendungsbereich auf diese Gruppen zu beschränken, geht das Gesetz weit darüber hinaus und erfasst beinahe alle Personen, die in der Rechtspflege und Justiz tätig sind. Die muslimische Protokollantin ist plötzlich ebenso für die staatliche Neutralität verantwortlich, wie der jüdische Wachtmeister am Eingang des Gerichtseingangs. Ein sparsamer Umgang mit Grundrechtseinschränkungen ist hier genauso wenig zu erkennen wie ein sensibler Umgang mit Minderheiten.
Die neuen Regelungen verunsichern zahlreiche junge Musliminnen, weil häufig nicht ganz klar ist, welche konkreten Einschränkungen sie nun treffen. Daher sollte im konkreten Diskriminierungsfall Kontakt mit Beratungsstellen aufgenommen werden. Denn eine Kontaktaufnahme ist wichtig, da nicht nur jeder Fall anders gelagert ist und Interventionen im Einzelfall erfolgreich sein können, sondern auch um die Diskriminierung zu melden und damit sichtbar zu machen.