Die IGMG steht oft im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Wir sprechen mit dem Vorsitzenden Kemal Ergün über Imame und deren Ausbildung, die Geschichte und Dienste der IGMG, aber auch über den Nahost-Konflikt, Antisemitismus und das Verhältnis zur Türkei.
IslamiQ: Herr Ergün, was bewegt Sie derzeit?
Kemal Ergün: Mich bewegt der Zustand unserer Gesellschaft und deren Spaltung, die durch die Pandemie noch sichtbarer geworden ist. Besorgt bin ich auch über den wieder zunehmenden Rassismus und dass eine offen islamfeindliche und rechtsextreme Partei im Bundestag und in den Landtagen sitzt. Mich besorgt aber auch der Zustand der politischen Mitte. Von ihr wünsche ich mir statt der Adaptation von AfD-Inhalten mehr Engagement für den Zusammenhalt und den Schutz der Vielfalt unserer Gesellschaft. Damit zusammenhängend erwarte ich auch mehr Respekt und Anerkennung für unsere Mitwirkung als Religionsgemeinschaft.
Dieser Erwartung widerspricht beispielsweise das jüngst von Union und SPD mit den Stimmen der AfD verabschiedete Gesetz, das den Ländern und Verwaltungen die Möglichkeit eröffnet, auch Kopftuchverbote zu erlassen. Nur die Linkspartei hat im Bundestag dagegen gestimmt, die Grünen und die FDP haben sich enthalten. Leider hat auch der Bundesrat dem Vorhaben zugestimmt. Damit torpediert der Gesetzgeber unsere gemeinsamen Anstrengungen, die Pluralität unserer Gesellschaft auch im Staatsdienst abzubilden. Das stimmt mich nachdenklich. Dennoch bin ich zuversichtlich, dass etwaige Verbote, die insbesondere muslimischen Frauen die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben unmöglich machen, spätestens vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben werden. Es ist bemerkenswert, dass ein Gesetz mit dieser Tragweite für Millionen Musliminnen in Deutschland ohne Anhörung, ohne Debatte und Beteiligung der Betroffenen verabschiedet wurde. Wir verfolgen das Thema sehr aufmerksam und sind fest entschlossen, etwaige Betroffene bei Rechtsstreitigkeiten dabei zu unterstützen, ihre verfassungsrechtlich verbriefte Religionsfreiheit in Deutschland zu verteidigen.
Es etabliert sich ein Rassismus, der sich gegen Minderheiten richtet und den gesellschaftlichen Frieden gefährdet.
Ich muss aber auch sagen, dass sich meine Sorgen nicht nur auf Deutschland beschränken. Wir verfolgen ähnliche Tendenzen und Bestrebungen europaweit. Es etabliert sich ein Rassismus, der sich gegen Minderheiten richtet und den gesellschaftlichen Frieden gefährdet. Dieser Bedrohung unserer Vielfalt und unserer Demokratie müssen wir uns Hand in Hand mit der überwältigenden Mehrheit unserer Gesellschaft entgegenstellen und als Schicksalsgemeinschaft alle an einem Strang ziehen.
Auch die europäische Flüchtlingspolitik bewegt mich persönlich sehr. Aktuelle Bilder aus der spanischen Exklave Ceuta beispielsweise oder Bilder von Menschen, die auf der gefährlichen Überfahrt nach Europa im Mittelmeer ihr Leben verlieren, stimmen mich sehr nachdenklich. Es bricht mir das Herz, wenn ich Männer, Frauen und Kinder sehe, die auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben in seeuntüchtige Boote steigen und wir in Europa Mauern und Zäune hochziehen, unsere Türen zuhalten, sie aufs offene Meer zurückdrängen und gar ihren Tod billigend in Kauf nehmen. Das raubt mir den Schlaf. Hier müssen wir uns selbst den Spiegel vorhalten und vor allem unseren Einsatz für die Bekämpfung der Fluchtursachen erhöhen. Wir müssen jedoch auch mehr gegen die ungleiche Verteilung von Wohlstand und Reichtum tun, die mit der Pandemie noch offensichtlicher geworden ist.
Und natürlich bewegen mich die Entwicklungen in Palästina und Israel. Auch dieser Konflikt ist schwer zu ertragen.
IslamiQ: Können Sie das bitte weiter ausführen.
Zuletzt sind israelische Sicherheitskräfte im Ramadan, in der Kadr-Nacht, die für uns Muslime sehr bedeutend ist, bewaffnet in die Aksa-Moschee eingedrungen und haben dort Plastikgeschosse und Gasbomben auf Menschen abgefeuert. Dutzende Menschen wurden verletzt. Das waren sehr aufwühlende und schwer zu ertragende Bilder. Ebenso waren Aufnahmen der rechtswidrigen Zwangsräumung von Palästinensern aus ihren Wohnungen sehr verstörend. Die Welt muss diesen Menschen endlich eine Perspektive für ein menschenwürdiges Leben geben.
IslamiQ: Auf Demonstrationen wurden antisemitische Parolen gerufen, auf Synagogen Anschläge verübt. Besorgt Sie das auch?
Ergün: Selbstverständlich. Es gibt keine Entschuldigung für Angriffe auf Gotteshäuser, selbst in Zeiten wie diesen nicht. Unserem Glauben und unseren Überzeugungen zufolge stehen alle Gotteshäuser unter einem besonderen Schutz. Es gibt keinen Unterschied zwischen einem Angriff auf eine Synagoge, Kirche oder Moschee. Wer das tut, widerspricht dem Wort Gottes, unabhängig davon, von wem die Gewalt ausgeht, wen sie trifft und wo sie stattfindet.
Es gibt keinen Unterschied zwischen einem Angriff auf eine Synagoge, Kirche oder Moschee. Wer das tut, widerspricht dem Wort Gottes, unabhängig davon, von wem die Gewalt ausgeht, wen sie trifft und wo sie stattfindet.
Gerade wir als in Europa lebende Minderheit sind uns im Klaren, wie sehr es schmerzt, wenn Gebetsstätten angegriffen werden. Deshalb haben wir den jüdischen Gemeinden unsere Solidarität versichert. Nicht weniger Sorgen machen mir antisemitische Parolen, obwohl wir gerade hier in Deutschland wissen müssten, wohin Antisemitismus, Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit führen können. Darüber darf es keine zwei Meinungen geben.
Über das, was in Palästina und Israel passiert, kann man selbstverständlich unterschiedlicher Meinung sein. Darüber muss sachlich diskutiert werden, Unrecht muss benannt, Unmut kundgetan werden dürfen – auf beiden Seiten. Es gibt zahlreiche UN-Beschlüsse zum Konflikt, die zumeist leider nicht umgesetzt werden. Auch die unversöhnliche und völkerrechtswidrige Siedlungspolitik findet kein Ende. Es ist ein Konflikt, der die Weltgemeinschaft schon seit Jahrzehnten in Atem hält. Meinen Beobachtungen zufolge ist ein gewisses Doppelmaß – auch weil das Thema sehr emotionsgeladen ist – bei allen Beteiligten nicht von der Hand zu weisen. Das führt zu einer allgemeinen Verunsicherung, was aus meiner Sicht mit dazu beiträgt, dass keine aufrichtige, ehrliche und zielführende Diskussion stattfindet.
Zunächst einmal muss deutlich gemacht werden, dass die legitime Kritik an der israelischen Politik nicht pauschal als Antisemitismus abgestempelt werden darf.
Derweil erreichen uns immer weiter neue Nachrichtenbilder aus der Region und versetzen uns in tiefe Trauer. Es schmerzt sehr, wenn unschuldige Zivilisten bei den Bombardements getroffen, verletzt und sogar getötet werden – sowohl Palästinenser als auch Israelis. Es sind immer die unschuldigen Menschen, die bei diesen Auseinandersetzungen das Nachsehen haben, die Opfer sind.
IslamiQ: Politiker zeigen sich sehr besorgt über den Antisemitismus auf deutschen Straßen. Es wird von einem importierten Antisemitismus gesprochen.
Ergün: Zunächst einmal muss deutlich gemacht werden, dass die legitime Kritik an der israelischen Politik nicht pauschal als Antisemitismus abgestempelt werden darf. Auch halte ich es für sehr gewagt, wenn gerade in Deutschland von importiertem Antisemitismus gesprochen wird. Sicherlich gibt es unter den Hunderttausenden Eingewanderten auch solche, die aufgrund ihrer Sozialisation in ihren Herkunftsländern einen anderen Blickwinkel haben, die noch nicht gelernt haben zu differenzieren, wo legitime Kritik endet und Antisemitismus beginnt. Da sind wir alle gemeinsam aufgefordert, aktiv zu werden, aufzuklären, den Menschen zu erklären, welche verheerenden Folgen Antisemitismus bereits hatte und dass er mit unserem Glauben und Überzeugungen unvereinbar ist.
Dies ist allerdings keine Aufgabe, die exklusiv im Kontext von Muslimen steht. Antisemitisch motivierte Straftaten werden in Deutschland nach wie vor ganz überwiegend von Rechtsextremen begangen, Studien attestieren sogar der deutschen Mitte einen latenten Antisemitismus. Insofern stehen wir vor einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe.
Für uns stehen Angriffe auf Synagogen auf der gleichen Stufe wie Angriffe auf Moscheen. Es spielt keine Rolle, welcher Religion Täter und Opfer angehören. Dort, wo es um den Schutz von Menschen geht, um ihre Unversehrtheit geht, dort hört jede Debatte auf. Es liegt an uns allen, diese universellen Werte zu schützen, und sie fest zu verankern.
IslamiQ: Auf das Thema Antisemitismus kommen wir noch zurück, sprechen wir erst einmal über den vergangenen Ramadan: Wie haben Muslime den zweiten Ramadan in Folge unter Pandemiebedingungen begangen?
Ergün: Der Ramadan ist für Muslime ein ganz besonderer Monat, eine Zeit der inneren Einkehr, der Gemeinschaft und der Zusammenkunft. Er hat religiös und spirituell große Bedeutung rund um den Globus. Leider haben wir ihn aufgrund der Pandemie das zweite Jahr in Folge nur mit Einschränkungen erleben können. Das hat uns vor große Herausforderungen gestellt. Einerseits wollten wir, dass alle Muslime den Ramadan gebührend begehen können, andererseits mussten wir uns so organisieren, dass die weitere Verbreitung des Virus verhindert wird. Deshalb haben wir das nächtliche Tarâwîh-Gebet um ein Drittel verkürzt und nur unter Einschränkungen in den Moscheen verrichtet. Vielerorts mussten gemeinschaftliche Gebete abgesagt werden. Zudem haben wir auch in diesem Jahr auf die gewohnten Iftar-Essen mit Freunden und Nachbarn verzichtet. Die Menschen haben das abendliche Mahl nach dem täglichen Fasten nicht wie gewohnt in der Gemeinschaft, sondern nur im kleinsten Kreis zu Hause zu sich genommen. Das waren traurige Einschränkungen.
Es ist uns ein wichtiges Anliegen, die Menschen in der Pandemie nicht allein zu lassen, mit ihnen zu sein, ihnen beizustehen. Die Stärke einer Gemeinschaft zeigt sich gerade in schwierigen Zeiten.
Deshalb haben wir verstärkt auf Online-Angebote gesetzt. So hatten wir beispielsweise jeden Abend ein Online-Ramadan-Programm, das frei zugänglich war. Es ist uns ein wichtiges Anliegen, die Menschen in der Pandemie nicht allein zu lassen, mit ihnen zu sein, ihnen beizustehen. Die Stärke einer Gemeinschaft zeigt sich gerade in schwierigen Zeiten.
IslamiQ: Sie haben digitale Angebote angesprochen. Wird die Pandemie das religiöse Leben langfristig verändern?
Ergün: Sie hat bereits zahlreiche Umbrüche initiiert. Seit Beginn der Pandemie haben wir unsere digitalen Angebote massiv ausgebaut. Viele davon waren bereits geplant und wurden durch die Umstände beschleunigt. In den vergangenen zwölf Monaten sind aber auch viele neue Ideen und Angebote hinzugekommen.
Die bisherigen Erfahrungen sind durchweg positiv. Die Angebote werden von der ganz überwiegenden Mehrheit dankbar und gerne angenommen. Deshalb werden wir sie weiter ausbauen, auch über die Zeit der Pandemie hinaus. Sosehr das Online-Angebot auch aus der Not heraus entstanden ist, bietet es langfristig zahlreiche Vorteile. Für ältere Menschen etwa, die aus gesundheitlichen oder anderen Gründen zu Hause bleiben müssen, sind diese zusätzlichen Angebote sehr wichtig. Das ist uns noch einmal bewusst geworden.
Der Islam ist eine Religion der Gemeinschaft. So werden viele Gebete, beispielsweise das Freitagsgebet, in der Gemeinschaft verrichtet. Die Pflege von Freundschaften und guten nachbarschaftlichen Beziehungen sind feste Bestandteile des muslimischen Lebens. Das alles funktioniert am besten durch persönliche Kontakte. Auch der tägliche Moscheebesuch zwecks Gebet oder der Gemeinschaft wegen werden durch digitale Angebote nicht ersetzt werden können. Es ist auch ein wesentlicher Unterschied, ob man beispielsweise mit einem Imam, der eine herausragende Rolle in jeder Gemeinde innehat, ein persönliches Gespräch führt oder mit ihm nur fernmündlich redet. Insofern sind die digitalen Angebote Ergänzung zum gewohnten muslimischen Leben, ersetzen können und werden sie es nicht.
IslamiQ: Sie sprechen die Bedeutung von Imamen an. Was halten Sie davon, dass die Bundesregierung seit Jahren die Ausbildung von Imamen an deutschen Hochschulen fördert?
Ergün: Zunächst ist festzuhalten, dass wir unterscheiden müssen zwischen der theologischen Ausbildung, die an staatlichen islamisch-theologischen Universitätsfakultäten beziehungsweise Fachbereichen angeboten wird und der Ausbildung von Imamen. Es handelt sich hier eben nicht um Ausbildungsstätten für Imame. Fakt ist, dass wir den Prozess der Einrichtung von theologischen Fakultäten trotz unserer Kritik an den Beiratslösungen konstruktiv begleitet haben und dort, wo es aus religionsverfassungsrechtlicher Perspektive noch hinnehmbar war, auch unseren Platz in den Beiräten eingenommen haben. Wir haben darüber hinaus in Frankfurt und Osnabrück Studierendenwohnheime eingerichtet, um das Studium zielgerichtet zu begleiten. Denn so sehr der positive Ansatz hinsichtlich des Ausbaus des theologischen Angebotes für Muslime zu würdigen ist, bleibt doch die Ausbildung von Imamen den Religionsgemeinschaften vorbehalten. Dabei spricht natürlich nichts dagegen, in einigen Bereichen mit den Universitäten zusammenzuarbeiten.
Aus unserer Sicht muss sich der Staat in diesen Belangen auf die ihm verfassungsgemäß zugedachte Rolle beschränken und sich viel enger mit den islamischen Religionsgemeinschaften abstimmen. Wir müssen nämlich unterscheiden zwischen dem, was unser Religionsverfassungsrecht dem Staat an Rechten einräumt und dem, was er gerne alles regulieren würde. Die Imamausbildung ist Kernaufgabe der Religionsgemeinschaften.
An den staatlichen Hochschulen wird islamische Theologie gelehrt. Die Anforderungen an einen Imam gehen jedoch weit über theoretische Theologiekenntnisse hinaus. Hinzukommen muss die Vertiefung in einigen Bereichen der Theologie sowie die praktische Ausbildung, die nur in den Moscheegemeinden erfolgen kann. Dabei gibt es eine gängige Praxis in vielen christlich-theologischen Fakultäten, die hier übernommen werden kann: das Mentorat. Diese Einrichtung würde uns einerseits ermöglichen, den Studenten, die sich für die Tätigkeit des Imams interessieren, Beratungs- und Informationsangebote zu machen und andererseits bereits im Studium Fortbildungen anzubieten. Das ist, so wie die Studiengänge derzeit konzipiert und aufgebaut sind, leider nicht der Fall. Daher gibt es viel Nachholbedarf. Das staatliche Vorpreschen war und ist in diesem Sinne nicht von Vorteil. Man hätte den Prozess deutlich kooperativer gestalten können.
Unsere eigenen Bemühungen tragen auch schon Früchte. Mehrere Dutzend Imame aus unseren eigenen Ausbildungsstrukturen sind heute schon in verschiedenen IGMG-Gemeinden tätig und leisten gute Dienste für die Gemeinschaft.
In unseren eigenen Ausbildungsstrukturen sind Lehrplan und praktische Ausbildung schon von Beginn an aufeinander abgestimmt – auch zeitlich. Künftige Imame haben schon während der Lehre die Chance und Möglichkeit, in unseren Moscheegemeinden Praxiserfahrung zu sammeln. Sie lernen die Gemeindemitglieder kennen und bauen frühzeitig eine Beziehung auf. Denn ein Imam ist in seiner Gemeinde eine Autoritäts- und Identifikationsperson. Gemeinde und Imam müssen einander vertrauen, einander verstehen, auch im übertragenen Sinne „dieselbe Sprache sprechen“. Das ist sehr wichtig.
Unsere eigenen Bemühungen tragen auch schon Früchte. Mehrere Dutzend Imame aus unseren eigenen Ausbildungsstrukturen sind heute schon in verschiedenen IGMG-Gemeinden tätig und leisten gute Dienste für die Gemeinschaft.
IslamiQ: Wenn Sie Ihre eigenen Imame ausbilden, warum beschäftigen Ihre Gemeinden dann Imame von der türkischen Religionsbehörde Diyanet?
Ergün: Die IGMG blickt auf eine über 50-jährige Geschichte zurück. Die Gründung der ersten Gebetsräume und Moscheen war Ende der Sechzigerjahre. In den folgenden Jahren schloss man sich aus pragmatischen Gründen zunächst regional und später überregional zusammen, um religiöse Angebote gemeinschaftlich organisieren und anbieten zu können, die Pilgerfahrt beispielsweise oder eben auch die Einsetzung von Imamen. Die Herausforderungen dieser Zeit konnten mit vereinten Kräften besser bewältigt werden.
Wir reden von einer Zeit, in der die Gründergeneration noch „türkische Gastarbeiter“ waren. Das heißt, man organisierte sich zwar, vieles war aber nicht auf Dauer angelegt, sondern immer getragen vom Leitgedanken, nach getaner Arbeit wieder in die Türkei zurückzukehren. Ähnlich war es auch in den europäischen Nachbarländern – in den Niederlanden, in Österreich, in Frankreich oder in der Schweiz. Damals hatten weder die Gemeinden selbst, noch die Politik ein Interesse daran, in Europa sozialisierte Imame auszubilden. Die zeitlich befristete Anwerbung von Imamen aus der Türkei war damals das Naheliegendste – für alle Beteiligten.
In den Neunzigern wurde den türkeistämmigen Muslimen, die in unseren Gemeinden in der Mehrheit sind, zunehmend bewusst, dass sie sich in Deutschland und Europa heimisch fühlen. Sie lösten sich immer mehr vom Rückkehrgedanken in die Türkei. Damit wuchs auch der Bedarf in den Gemeinden an in Europa sozialisierten Imamen. Das haben wir erkannt, Jahrzehnte bevor das Thema die Politik erreichte. Seitdem arbeitet die IGMG daran, die Imamausbildung in Europa zu etablieren und dafür die erforderlichen Strukturen zu schaffen.
IslamiQ: Trotzdem beschäftigen Ihre Gemeinden Imame der türkischen Religionsbehörde Diyanet.
Ergün: Die eigentliche Frage ist doch, ob wir überhaupt eine Wahl hatten. Das mag jetzt überraschend klingen, aber genau genommen waren wir angesichts des steigenden Bedarfs unserer Gemeinden, den veränderten rechtlichen Rahmenbedingungen und dem überschaubaren Potenzial geradezu gezwungen, auch Imame der türkischen Religionsbehörde zu beschäftigen.
Der Reihe nach: Den Bedarf an Imamen hat die IGMG früher, mangels eigener Ausbildungsstrukturen, in geringem Maße durch die Beschäftigung in Deutschland ansässiger Absolventen theologischer Fakultäten der islamischen Welt und darüber hinaus aus der Türkei decken können. Um der Einflussnahme Dritter vorzubeugen, haben wir über Jahrzehnte hinweg aus der Türkei dann aber auch nur Imame angeworben, die in der Türkei bereits in Rente waren. Sie standen also nicht mehr im Dienst der Diyanet, mithin waren sie nicht mehr verbeamtet. Das war uns immer sehr wichtig. Diese Imame besaßen aufgrund ihres früheren Beamtenstatus‘ einen grünen Reisepass und konnten ohne große bürokratische Hürden nach Deutschland einreisen.
Ab etwa 2010 hat Deutschland die Einreiseregeln geändert. Fortan durften Inhaber von grünen Reisepässen maximal nur noch für einen Zeitraum von drei Monaten einreisen und mussten das Land dann wieder verlassen. Eine Wiedereinreise war erst wieder nach weiteren drei Monaten Auslandsaufenthalt möglich. Das hat die Anwerbung von Imamen in Rente praktisch unmöglich gemacht. Der Bedarf an Imamen wuchs aber gleichzeitig immer weiter.
In dieser Zeit haben wir unsere Anstrengungen um den Ausbau eigener Ausbildungsstrukturen intensiviert, um nicht länger angewiesen zu sein auf die Anwerbung aus dem Ausland. Zugleich wollten wir unsere eigene Expertise ausbauen, die Ausbildung der Imame an unseren Bedürfnissen ausrichten und auch unsere Unabhängigkeit stärken.
Gemeinden, die ihren Bedarf in Deutschland nicht decken können, sind also heute noch gezwungen, gezielt Diyanet-Imame anzuwerben. Die geltenden Regeln lassen leider kaum eine andere Möglichkeit zu.
Der Engpass an Imamen war zu dieser Zeit aber nun einmal eine Tatsache, der wir zeitnah gerecht werden mussten. Mit den Restriktionen zum grünen Reisepass blieb uns keine andere Wahl, als Imame wie ausländische Arbeitnehmer anzuwerben. Ihre Einreise erfolgt auch heute noch nach den Vorschriften der Beschäftigungsverordnung und des Aufenthaltsrechts – das frühere Ausländerrecht. Die Details sind kompliziert, vereinfacht lässt sich aber sagen: Imame aus der Türkei erhalten von den deutschen Auslandsvertretungen in der Praxis zumeist nur dann ein Einreisevisum, wenn sie ein Bestätigungsschreiben der Diyanet vorlegen. Ein Imam, der kein Diyanet-Imam ist, kann keine Bestätigung vorlegen und bekommt infolgedessen in der Praxis auch kaum ein Visum. Dieses Prozedere trägt sogar den Namen ‚Diyanet-Verfahren‘.
Gemeinden, die ihren Bedarf in Deutschland nicht decken können, sind also heute noch gezwungen, gezielt Diyanet-Imame anzuwerben. Die geltenden Regeln lassen leider kaum eine andere Möglichkeit zu.
IslamiQ: Sie müssen demnach Diyanet-Imame beschäftigen?
Ergün: Ja, solange wir unseren eigenen Bedarf nicht selbst decken können, blieb und bleibt uns keine andere Wahl, als Imame aus der Türkei anzuwerben. Und diese müssen Diyanet-Imame sein. Nach den Neuregelungen zum grünen Reisepass haben wir aus der Not heraus mit der Diyanet eine Vereinbarung getroffen. Obwohl die Diyanet uns das Angebot gemacht hat, für jeweils fünf Jahre voll finanzierte Imame zu entsenden, haben wir uns bewusst für ein anderes Modell entschieden. Dieses sieht vor, dass wir Imame der Diyanet nur für eine kurze Zeit von einem Jahr anwerben – mit der Option auf Verlängerung um maximal ein weiteres Jahr, falls weiter Bedarf besteht. Diese Imame werden für ihre Dienste von der Gemeinde entlohnt und erhalten von der Diyanet keinen zusätzlichen Cent mehr für den Auslandsdienst. Und schließlich unterliegen diese Imame für den Zeitraum der Entsendung nicht den Weisungen der Diyanet. Sie sind also ausschließlich gegenüber der IGMG verantwortlich und orientieren sich beispielsweise bei den Freitagspredigten an den Entwürfen der IGMG. Als zivilgesellschaftlich entstandene und gewachsene Religionsgemeinschaft ist uns das sehr, sehr wichtig.
IslamiQ: Wenn das so ist, warum steht Ihre Gemeinschaft in der Kritik?
Ergün: Das ist eine gute Frage, die man den Kritikern stellen sollte! (Lacht) Erklären kann man diese Kritik eigentlich nur im Lichte eines leidigen Misstrauens- und Loyalitätsdiskurses, der die Bedürfnisse unserer Gemeinschaft komplett ausblendet und in jedem Imam aus dem Ausland ungerechtfertigterweise den verlängerten Arm einer ausländischen Regierung sieht.
Die Anwerbung oder die Entsendung von Personal aus dem Ausland und ins Ausland ist gängige Praxis. Auch der Katholischen Kirche in Deutschland fehlt der Priesternachwuchs, weswegen immer mehr ausländische Geistliche rekrutiert werden.
Im Übrigen kann ich diese Kritik auch nur bedingt nachvollziehen, wenn ich mir die Praktiken von nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften in Deutschland näher ansehe – darunter auch katholische, orthodoxe oder jüdische. Die Anwerbung oder die Entsendung von Personal aus dem Ausland und ins Ausland ist gängige Praxis. Auch der Katholischen Kirche in Deutschland fehlt der Priesternachwuchs, weswegen immer mehr ausländische Geistliche rekrutiert werden. Ich wünschte mir, dass wir bei Debatten im Kontext von Muslimen eine ähnliche Sachlichkeit und Ehrlichkeit an den Tag legen und öfter mal die Moschee im Dorf lassen.
IslamiQ: Sie würden also, wenn Sie könnten, in Ihren Gemeinden auf Diyanet-Imame verzichten?
Ergün: Nein, so möchte ich das nicht stehen lassen. Aktuell sind weniger als 40 Diyanet-Imame in IGMG-Gemeinden angestellt – bei einer Gesamtzahl von weit über 600 Imamen und tausenden Religionspädagogen in unseren Gemeinden machen sie nur noch einen Bruchteil aus. In den vergangenen zehn Jahren haben wir die Zahl der Diyanet-Imame in unseren Gemeinden halbiert. Die Zahl wird also schrittweise abgebaut, immer dann, wenn ein Diyanet-Imam aus dem Dienst ausscheidet und aus dem eigenen Nachwuchs oder mit adäquaten anderen Lösungen ersetzt werden kann.
Ich möchte aber auch betonen, dass die Imame der Diyanet in Deutschland und Europa bis heute sehr gute Arbeit geleistet haben. Sie sind gut ausgebildet, fachlich qualifiziert und immun gegen etwaige radikale Strömungen oder Lesarten unserer Religion. Das muss man würdigen und anerkennen im Hinblick auf die herausragende Stellung von Imamen in den Gemeinden – insbesondere im Hinblick auf ihren Einfluss auf Jugendliche. Auch in diesem Sinne leistet die Diyanet mit der Entsendung von Imamen nach Deutschland seit Jahrzehnten einen wertvollen Dienst. Dies wird leider des Öfteren vergessen.
IslamiQ: Die IGMG steht dennoch in der Kritik, verlängerter Arm der türkischen Regierung zu sein.
Ergün: Oft resultiert das aus voreiligen Schlussfolgerungen und Vorurteilen die sich aus unserer bewegten Geschichte erklären lassen. Die Menschen hören oder lesen, dass in IGMG-Gemeinden Imame der Diyanet tätig sind, Referenten aus der Türkei bei unseren Veranstaltungen auftreten oder wir einen Austausch mit türkischen Institutionen pflegen und leiten daraus eine Abhängigkeit von der Türkei ab. Das ist aus vielerlei Gründen zu kurz gedacht – sowohl qualitativ als auch quantitativ – und wird unserem Selbstverständnis nicht gerecht.
Nichts liegt näher und ist selbstverständlicher, als dass eine Religionsgemeinschaft, die für sich in Anspruch nimmt, die Belange und Interessen von Muslimen zu vertreten, zur Politik und zu Regierungen – ob in Deutschland, Frankreich, Belgien, Australien oder eben auch in der Türkei – Beziehungen unterhält, sie pflegt und mit selbigen im Austausch steht. Austausch ist aber nicht gleichzusetzen mit Akzeptanz oder gar Hörigkeit. Unsere Gesprächspartner kennen unsere klare Haltung nur zu gut.
IslamiQ: Der Vorwurf wird nicht nur mit Diyanet-Imamen begründet, sondern auch mit der „Millî Görüş-Bewegung“. Daraus sind sowohl Ihre Gemeinschaft hervorgegangen als auch der türkische Präsident Erdoğan.
Ergün: Aus dieser Bewegung sind auch viele andere Politiker und Parteien hervorgegangen, die heute in der Türkei ganz unterschiedliche Positionen vertreten. Dies gilt es auch zu berücksichtigen.
In dieser Zeit, Mitte der Siebziger, kam der erste Kontakt mit Prof. Dr. Necmettin Erbakan, dem damals stellvertretenden türkischen Ministerpräsidenten, zustande – wohlgemerkt: auf Initiative der „Gastarbeiter“ in Deutschland. Das betone ich, weil ich oft lese, die IGMG sei von Erbakan gegründet worden. Das stimmt nicht.
Die IGMG hat ihre Entstehungsgeschichte in Deutschland. Die einstigen Gastarbeiter haben mit einfachsten Mitteln die ersten Gebetsräume errichtet und Moscheen eröffnet. Sie hatten kaum Mittel und fanden Räume zumeist in günstigen Stadtteilen und Hinterhöfen. Sie wollten ohnehin bald zurück in die Türkei und errichteten in der Regel Provisorien, an bleibende Einrichtungen haben sie eigentlich nicht gedacht. In dieser Zeit, Mitte der Siebziger, kam der erste Kontakt mit Prof. Dr. Necmettin Erbakan, dem damals stellvertretenden türkischen Ministerpräsidenten, zustande – wohlgemerkt: auf Initiative der „Gastarbeiter“ in Deutschland. Das betone ich, weil ich oft lese, die IGMG sei von Erbakan gegründet worden. Das stimmt nicht.
Die damaligen Gastarbeiter verbanden mit ihm die Hoffnung eines wirtschaftlichen und moralischen Aufschwungs in der Türkei und sahen ihn als Alternative zum damals in der Türkei eher religionsfeindlich praktizierten Laizismus. Wir reden von Zeiten, in denen Muslime in der Türkei massiv benachteiligt wurden, Frauen mit Kopftuch Universitäten nicht mal betreten durften oder nicht in den Staatsdienst aufgenommen wurden. Erbakan hingegen sprach der religiösen Bevölkerung Mut zu, versprach Wohlstand, ein Ende der Diskriminierung und hatte augenscheinlich Erfolg mit seiner Politik. Vor allem sprach er – damals ein Novum in der türkischen Politik – gezielt religiös geprägte „Gastarbeiter“ an. Diese Menschen erhofften sich durch ihn eine baldige Rückkehr in eine prosperierende Türkei.
Erbakan wiederum erkannte das Potenzial der „Gastarbeiter“. Er war der erste türkische Politiker, der „Gastarbeitern“ Versprechen gab, sich mit ihnen und ihren Belangen befasste, die Dienstleistungen in den Konsulaten verbesserte, was damals ein leidiges Thema war. Er kümmerte sich um die „Gastarbeiter“ und genoss in der türkischen Community viel Zustimmung.
IslamiQ: Welchen Stellenwert hat Erbakan heute innerhalb der IGMG?
Ergün: In den Neunzigern wandelten sich die Beziehungen zwischen der „Millî Görüş“ in der Türkei und der IGMG in Europa. Den einstigen Gastarbeitern wurde wie dargelegt bewusst, dass sie gar nicht mehr zurückwollen in die Türkei. Sie hatten in Europa Wurzeln geschlagen, ihre Kinder gingen hier zur Schule. Mit diesem Sinneswandel veränderten sich auch ihre Prioritäten. Sie fingen an, zunehmend in Europa statt in der Türkei zu investieren, sie gaben die Provisorien auf und schufen nach und nach bleibende Einrichtungen, bauten multifunktionale, repräsentative Moscheen und wollten raus aus den Hinterhöfen. Das bedeutete, dass sie ihre Mittel lieber in Europa einsetzten statt in der Türkei. Das war ungewohnt.
Hinzu kamen zunehmend inhaltliche Diskrepanzen. Die „Millî Görüş“ in der Türkei pflegte eine vereinfachte Einteilung der Welt in Ost und West, in Schwarz und Weiß. Doch die einstigen Gastarbeiter lebten im „Westen“, fühlten sich wohl und blieben aus freien Stücken dort, sie fühlten sich heimisch im vermeintlich feindlichen „Westen“. Auch stießen Äußerungen, die durchzogen waren von leider verbreiteten Verschwörungstheorien, Vorurteilen, Verallgemeinerungen und verächtlichen Äußerungen über „die Juden“ zunehmend auf offene Ablehnung, die auch argumentativ untermauert wurde.
Wir Muslime in Europa hingegen hatten als Minderheit ganz andere Erfahrungen gemacht, insbesondere im Kontext der geschichtlichen Erfahrungen der jüdischen Minderheit. Wir haben verinnerlicht, welche verheerenden Folgen Menschenhass haben kann. Am Beispiel des Nationalsozialismus konnte man sehen, wie der Rassenwahn in der Katastrophe des Holocaust endete. Die Positionen aus der Türkei passten weder zur Lebensrealität in Deutschland und Europa noch waren sie religiös begründbar. Hinzu kam, dass unsere Gemeinden in Europa zunehmend pluraler wurden. Wir hatten längst nicht mehr nur türkeistämmige Moscheebesucher und Mitglieder, sondern auch zunehmend Muslime mit unterschiedlichen Wurzeln und aus verschiedenen Kulturen. Dieser wachsenden Vielfalt galt es Rechnung zu tragen.
Auch wenn es nicht offen ausgesprochen wurde, trennten sich die Wege. Aus diesen Erfahrungen heraus, legt die IGMG großen Wert auf ihre Unabhängigkeit – strukturell, formell und finanziell. Sie hat intern und öffentlich erklärt, dass sie zu allen politischen Parteien, Strömungen und Bewegungen dieselbe Distanz pflegt. Das macht die IGMG heute aus. Sie ist autark. Vor dieser historischen Entwicklung empfinde ich es als Beleidigung, wenn der IGMG unterstellt wird, sie werde aus der Türkei gesteuert oder sie wäre von der Türkei abhängig. Wir sind eine zivil gewachsene Organisation, die imstande ist, ihre eigene Meinung zu bilden und diese auch zu vertreten.
Wir sind eine islamische Religionsgemeinschaft. Mithin ist das Wort „Millî“ nicht aus dem türkischen entnommen, sondern aus dem arabischen, der Sprache des Korans, genauer gesagt aus der Sure Hadsch. Und dort bedeutet „Millî“ nicht „national“, sondern „Religion“.
Auf die Person Erbakan blicken wir, ob seiner vielen Verdienste für Muslime weiterhin mit großem Respekt und sehen bei aller berechtigten Kritik auch das Positive, dass er bewirkt hat. Erbakan war beispielsweise der erste türkische Politiker, der in der Türkei auf die Benachteiligung und Unterdrückung der Kurden aufmerksam gemacht hat, sich ehrlich für ihre Rechte eingesetzt hat. Er hat Kurden und Türken zu Geschwistern erklärt, das Kurdisch-Verbot kritisiert.
IslamiQ: Wenn Sie sich doch so sehr von der türkischen „Millî Görüş“ gelöst haben, warum tragen Sie dann noch die Bezeichnung „Millî Görüş“, also „nationale Weltsicht“, in ihrem Namen?
Ergün: Zunächst einmal muss ich etwas korrigieren: Wir sind eine islamische Religionsgemeinschaft. Mithin ist das Wort „Millî“ nicht aus dem türkischen entnommen, sondern aus dem arabischen, der Sprache des Korans, genauer gesagt aus der Sure Hadsch. Und dort bedeutet „Millî“ nicht „national“, sondern „Religion“. Das dazu.
IslamiQ: Dennoch tragen Sie denselben Namen wie die „Millî Görüş-Bewegung“ in der Türkei. Warum ändern Sie Ihren Namen nicht einfach? Wäre das nicht einfacher?
Ergün: In der Türkei mag „Millî Görüş“ für eine politische Richtung stehen, wobei auch dort verschiedene Parteien in Anspruch nehmen dieses geistige Erbe zu vertreten. In Deutschland und Europa hingegen steht „Millî Görüş“ für unsere Religionsgemeinschaft, die sich ihren Namen durch jahrelange und harte Arbeit mühsam verdient hat. In vielen Bereichen unserer Kernaufgabenbereiche steht „Millî Görüş“ für Zuverlässigkeit, Qualität und Nachhaltigkeit. Die Pilgerreisen beispielsweise, die wir anbieten, sind Jahr für Jahr ausgebucht, weil die Menschen diese sehr bedeutende Reise gerne mit der „Millî Görüş“ antreten. Ähnliche verhält es sich mit unseren Bildungsangeboten, Nachhilfekursen, dem Bestattungsverein, der Opfertier-Kampagne usw. Das Vertrauen, das wir mit unserem Namen über Jahrzehnte aufgebaut haben, können wir nicht einfach so aufgeben, nur weil es vermeintlich einfacher wäre, Kritikern mit einer Namensänderung den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Es ist geradezu absurd, der IGMG Extremismus jedweder Art vorzuwerfen, weil gerade die IGMG sich selbigem immer entgegengestellt und die inhaltliche Auseinandersetzung beispielsweise mit Cemaleddin Kaplan oder der salafistischen Szene nicht gescheut hat.
Im Übrigen bin ich nicht einmal davon überzeugt, dass es einfacher werden würde. Würden wir den Namen ändern, wären wir schnell dem Vorwurf des Etikettenschwindels ausgesetzt. Wir gehen lieber den mühsamen aber dafür ehrlichen Weg und stehen sowohl zu unseren Verdiensten als auch zu unserer wechselhaften Geschichte und arbeiten diese auf.
IslamiQ: Die IGMG wird vom Bund und manchen Bundesländern vom Verfassungsschutz beobachtet. Ihr wird Antisemitismus vorgeworfen. In den Verfassungsschutzberichten fallen im Kontext der IGMG Begriffe wie „Islamismus“, „politischer Islam“ und „legalistischer Islam“. Was sagen Sie dazu?
Ergün: Das ist leider schon eine unendliche Geschichte. Wenn man die Verfassungsschutzberichte aufmerksam durchgeht, merkt man, dass die IGMG oft nur noch am Rande erwähnt wird. Und selbst dort, wo sie Erwähnung findet, finden sich keine belastbaren Argumente, die eine Beobachtung rechtfertigen. So werden beispielsweise die Vorwürfe hinsichtlich Antisemitismus und „Islamismus“ meist mit der vermeintlichen Nähe zur Person Erbakans und nicht etwa mit der inhaltlichen Ausgestaltung unserer Aktivitäten als Religionsgemeinschaft begründet. Dieser Verknüpfung verliert aber aus den dargelegten Gründen zunehmend an Bedeutung.
Es ist geradezu absurd, der IGMG Extremismus jedweder Art vorzuwerfen, weil gerade die IGMG sich selbigem immer entgegengestellt und die inhaltliche Auseinandersetzung beispielsweise mit Cemaleddin Kaplan oder der salafistischen Szene nicht gescheut hat. Sicher gab es in der Vereinsgeschichte immer mal wieder problematische Inhalte, oder es traten Referenten in den Gemeinden auf, die solche vertraten. Diese wurden aber – wo immer sie bekanntwurden – entsprechend geahndet, sanktioniert und aufgearbeitet.
Die IGMG steht fest auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Dennoch werfen manche der IGMG heute noch eine Nähe zu Extremismus vor. Das weisen wir auf das schärfste zurück. Zugleich ist mir aber auch bewusst, dass wir als Muslime und als Gemeinschaft stärker gefordert sind, Grenzen zu ziehen. Es reicht in der Tat nicht aus, nur zu sagen, dass die Taten von Terroristen, nichts mit dem Islam zu tun haben. Terroristen missinterpretieren theologische Quellen, um daraus eine göttliche Aufforderung zu Anschlägen abzuleiten. Hier sind wir als islamische Religionsgemeinschaft gefragt, um dieser Instrumentalisierung unserer Religion Einhalt zu gebieten.
Durch unseren Religionsunterricht für Jung und Alt, in unseren Konferenzen und Seminaren, in unseren Gesprächskreisen vermitteln wir authentische theologische Bezüge. Unsere Inhalte schieben einen Riegel vor derartige missbräuchliche Interpretationen. Weiter bieten wir seit Jahrzehnten eine sehr gute Jugendarbeit an, die Jugendliche motiviert, sich aus einem religiösen Bewusstsein heraus konstruktiv in die Gesellschaft einzubringen. Das alles immunisiert vor Ansprachen aus extremistischen Kreisen. Fachkreisen ist diese Besonderheit unserer tagtäglichen Arbeit bekannt. Das reicht jedoch nicht aus. In der Öffentlichkeitsarbeit haben wir hierzu noch Nachholbedarf, den wir verstärkt angehen werden. Wir müssen auch solche Menschen erreichen, die Lebensbrüche oder Traumata erfahren haben, was sie empfänglicher macht für extreme Aussagen.
Im Ergebnis sind wir aber auf einem guten Weg: Viele Bundesländer haben den Wandel bereits erkannt und erwähnen die IGMG in ihren Berichten gar nicht mehr. Es ist aus unserer Sicht nur eine Frage der Zeit, bis die IGMG auch auf Bundesebene und in den wenigen Bundesländern, wo sie noch erwähnt wird, nicht mehr aufgeführt wird.
IslamiQ: Die IGMG sieht sich auch im europäischen Ausland mit Vorwürfen dieser Art konfrontiert. In Frankreich etwa.
Ergün: Die IGMG ist in Frankreich oder in anderen europäischen Ländern nicht so groß wie in Deutschland. Sie wird von der Öffentlichkeit aber zunehmend wahrgenommen, weil unsere Gemeinden immer größer werden und Anspruch auf Teilhabe und Partizipation erheben.
Im europäischen Ausland schaut man dann natürlich, was Deutschland, Geburtsland der IGMG, sagt. Und da studiert man zuallererst die hiesigen Verfassungsschutzberichte. Dass diese nicht zeitgemäß sind und der IGMG hinterherhinken, habe ich bereits dargelegt. Nichtsdestotrotz wird das übernommen und immer wieder reproduziert, leider.
Überdies läuft in Frankreich derzeit eine kontrovers geführte Debatte über das Verhältnis von Staat und Religion, den Umgang mit Diversität von Glaubensüberzeugungen und darüber, was eigentlich Laizität bedeutet. Es ist unübersehbar, dass sich der Staat zunehmend in Glaubensinhalte einmischt. Jüngstes Beispiel ist der politische Druck zur Unterzeichnung der sogenannten „Grundsatzcharta für den Islam in Frankreich“. Höchst ungewöhnlich war insbesondere der Ruf nach Konsequenzen durch hohe Staatsrepräsentanten. Aber auch auf institutioneller Ebene greift der Staat massiv in die inneren Angelegenheiten ein, zum Beispiel durch das sogenannte „Separatismusgesetz“. Das Ganze passt eigentlich nur schlecht zum laizistischen Staatsverständnis.
Die Muslime im Allgemeinen und die IGMG im Besonderen sind lediglich Aufhänger dieser Diskussionen. Insbesondere als bekannt wurde, dass ihr staatliche Gelder für den Bau einer Moschee in Straßburg zugesagt wurden, hat der Innenminister dies zu einem Politikum gemacht und das traditionsreiche Konkordat, das Vielen in Paris ein Dorn im Auge ist, wurde über Nacht infrage gestellt. Im Kern der Debatte geht es also nicht um die Muslime oder die IGMG. Es ist vielmehr eine Neuordnung sowohl der Laizität als auch der Gewissensfreiheit.
IslamiQ: Was sagen Sie zu dem Vorwurf, nicht auf dem Boden der französischen Verfassung zu stehen?
Ergün: Unsere Einrichtungen und Moscheegemeinden stehen fest auf dem Boden der demokratischen Ordnung und der „Laïcité“. Die Gewissensfreiheit des Einzelnen, die Gleichbehandlung der Anhänger eines jeden Glaubens und ebenso für Nichtgläubige, die Trennung von Religion und Politik sowie die Neutralität des Staates sind Prinzipien und Regeln, die wir in besonderem Maße achten. Laizität ist in diesem Sinne auch ein Garant für Religionsfreiheit und fördert Pluralismus. Das Gesetz von 1905 verhindert durch eine Trennung von Religion und Staatswesen die gegenseitige Einmischung in die jeweils eigenen Sphären. Gleichzeitig versichert der französische Staat durch seine Verfassung den Gläubigen gegenüber freie Religionsausübung und kollektive Religionsfreiheit.
Die IGMG ist überall dort zu Hause, wo sie lebt. Und für jede unserer Gemeinden gilt die jeweilige verfassungsrechtliche Ordnung. Darüber gibt es keine zwei Meinungen.
Diesen konstitutionellen Rahmen sehen wir als eine Grundlage für das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichem Glauben und Bekenntnissen. Wird die Laizität aber als Rechtfertigungsgrundlage zur Intervention in Glaubensfragen interpretiert, dann findet eine Überdehnung dieser Ideale statt. Und genau in diesem Spannungsfeld bewegen wir uns, wenn es darum geht, das Selbstbestimmungsrecht der islamischen Religionsgemeinschaften gegenüber den Eingriffsmöglichkeiten des Staates zu akzentuieren.
IslamiQ: Ihrer Selbstdarstellung zufolge ist die IGMG weltweit in vielen Ländern auf fünf Kontinenten präsent. Wo ist die IGMG zu Hause?
Ergün: Die IGMG ist überall dort zu Hause, wo sie lebt. Das heißt: IGMG-Gemeinden in Deutschland sind in Deutschland beheimatet, die in Frankreich sind in Frankreich zu Hause usw. Und für jede unserer Gemeinden gilt die jeweilige verfassungsrechtliche Ordnung. Darüber gibt es keine zwei Meinungen.
Die ersten IGMG-Moscheen wurden zwar von einstigen Gastarbeitern gegründet, die Vielfalt in diesen Gemeinden heute – mehr als 50 Jahre nach ihrer Gründung – ist aber eine andere. Klar, die Türkeistämmigen sind aufgrund der historischen Entwicklung in der Mehrheit, aber es gibt viele Menschen in unseren Gemeinden, die ursprünglich aus anderen Ländern stammen oder auch Muslime ohne Einwanderungsgeschichte. Um dieser Vielfalt gerecht zu werden, werden zum Beispiel unsere Freitagspredigten schon seit zwanzig Jahren mehrsprachig aufgesetzt, veröffentlicht und in Moscheen vorgetragen.
Herr Ergün, wir danken Ihnen für das Gespräch.