Ob Moscheen, Jugendliche oder Imame – die öffentliche Diskussion über Islam und Muslime ist durchzogen von einem zentralen Aspekt: Sicherheit. Prof. Dr. Iman Attia erklärt, warum die Debatte hegemonial ist und wie Muslime damit umgehen.
IslamiQ: Frau Attia, ein großes Thema der vergangenen Jahrzehnte ist „Sicherheit“. Insbesondere in Bezug auf Muslime. Sie bezeichnen den Diskurs, der dazu geführt wird, als „hegemonial“. Was meinen Sie damit?
Prof. Dr. Iman Attia: Ein hegemonialer Diskurs ist weitverbreitet, führend. Obwohl auch andere Möglichkeiten, über das gleiche Thema zu sprechen, existieren, hat sich ein hegemonialer Diskurs durchgesetzt. Es handelt sich dabei um eine partielle Perspektive, also eine spezifische Art und Weise, Dinge zu sehen und zu thematisieren – nicht um gesichertes oder allgemeingültiges Wissen. Die gleichen Dinge haben in anderen gesellschaftlichen Kontexten und aus anderen Blickwinkeln andere Bedeutungen. Dennoch schafft es ein hegemonialer Diskurs aufgrund verschiedener Konstellationen, spezifische Interessen gegenüber anderen durchzusetzen und sie als Allgemeinwissen zu präsentieren.
IslamiQ: Seit wann gibt es diesen „hegemonialen Sicherheitsdiskurs“ und was sind seine Merkmale?
Attia: Den Islam als Gefahr und Muslim*innen als Sicherheitsrisiko zu thematisieren ist ein ganz alter Diskurs. Er diente bereits als Begründung für die Vertreibung von Muslim*innen im Zuge des Niedergangs von Al-Andalus im 15. und 16. Jahrhundert. Demnach seien Muslim*innen der neuen katholischen, spanischen und portugiesischen Herrschaft gegenüber illoyal, sie seien eine Gefahr für die Einheit der Nation. Trotz muslimisch-katholisch-jüdischer Koexistenz über 800 Jahre hinweg, folgte dieser Diskurs den herrschenden Interessen. Ihrer Konzeption zufolge war es nicht möglich, zusammenzuleben und verschiedene Religionen zu praktizieren.
Diese Vorstellung wurde auf andere übertragen und gegen sie gewendet. Sie begründete den Vorwurf der Illoyalität und führte zu verschiedenen Maßnahmen, die in der Deportation von Muslim*innen Anfang des 17. Jahrhunderts gipfelten. Die Vertreibung und Deportation wurde von Maßnahmen begleitet, die auch gegen die zum Christentum konvertierten Muslim*innen (und Juden und Jüdinnen) und ihren Nachfahren gerichtet waren. Die Doktrin zur „Reinheit des Blutes“ sollte sie aus wichtigen gesellschaftlichen Bereichen heraushalten.
Ein weiteres Beispiel ist der Imperialismus. Im Zuge des europäischen Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert wurden Muslim*innen als Bedrohung des kolonialen Projekts wahrgenommen. In den Berliner Kolonialkongressen Anfang des 20. Jahrhunderts diskutierten Politiker und Islamwissenschaftler sowie Vertreter der Kolonialverwaltungen und der christlichen Mission, wie mit den Muslim*innen in den deutschen Kolonien zu verfahren sei, die antikolonialen Widerstand leisteten und die Sicherheit der Kolonisator*innen gefährdeten.
In beiden Fällen gab es tatsächlich einige Muslim*innen, auf die die Vorwürfe zutrafen. So wie es auch andere gesellschaftliche Gruppierungen gab, die der jeweils herrschenden Politik gegenüber Kritik übten oder Widerstand leisteten. Deren Äußerungen und Handlungen zu verallgemeinern und als ihrem Wesen nach islamisch darzustellen, folgt aber einem hegemonialen Interesse und ist in rassistische Diskurse verstrickt.
Ein ähnliches Vorgehen können wir auch an der gegenwärtigen Debatte erkennen. Die Gewalt von Gruppen, die sich auf den Islam berufen, wird im hegemonialen Diskurs als islamische Gefahr handlungsleitend, obwohl die ganz überwiegende Mehrheit der Muslim*innen damit nichts zu tun hat.
IslamiQ: Wie wirkt sich dieser Jahrhunderte alte Sicherheitsdiskurs heute auf das Verhalten islamischer Gemeinden und die Islamdebatten aus?
Attia: In einer Gesellschaft zu leben, die den Islam und Muslim*innen als Sicherheitsbedrohung wahrnimmt und entsprechende Maßnahmen ergreift, hat natürlich Folgen für die muslimische Bevölkerung. Muslim*innen und Menschen, die als solche wahrgenommen werden, werden in den Medien, in der Schule, auf der Straße, bei der Ärztin, beim Friseur usw. mit einem Bild über sich konfrontiert, das verletzend und entwürdigend ist und Handlungsmöglichkeiten eingrenzt.
Auch Gemeinden und Vereine müssen sich dazu verhalten, dass sie beobachtet und kontrolliert werden, dass sie genötigt werden, sich mit Themen zu beschäftigen, die sie sich nicht ausgesucht haben. Sie müssen Stellung zu Dingen beziehen, mit denen sie nichts zu tun haben. Ihnen werden Förderungen versagt oder Aufgaben, die sie übernehmen wollen, an fachfremde Bedingungen gekoppelt.
Konkret gehen Gemeinden ganz verschieden damit um. Letzten Endes bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich dazu zu verhalten, jeweils konkret zu entscheiden, worauf sie sich noch einlassen können, ohne eigene Anliegen gänzlich aus dem Blick zu verlieren. Der Sicherheitsdiskurs lenkt so von den eigentlichen Aufgaben als Gemeinde, ihren Kompetenzen und den Bedarfen ihrer Mitglieder ab.
Wir haben in unserem neuen Buch „Muslimischsein im Sicherheitsdiskurs“ einige Deutungen und Strategien im Umgang mit dem Bedrohungsszenario herausgearbeitet. Es wird deutlich, dass die Islamdebatte ganz konkrete Auswirkungen auf Muslim*innen hat. Sowohl auf ihr privates Leben, als auch in beruflichen Kontexten und für das Gemeindeleben. Unser Projekt ist ein Teilprojekt eines Verbundprojekts. Die anderen beiden Teilprojekte beschäftigen sich mit der Wahrnehmung des Sicherheitsdiskurses durch Medien und Politik und wie Vertreter*innen dieser Bereiche damit umgehen. Denn die mediale und politische Islamdebatte re-/produziert den Sicherheitsdiskurs ganz wesentlich mit.
IslamiQ: Wie Sie bereits sagten, sehen sich Muslime Anschuldigungen ausgesetzt, auf die sie keinen Einfluss haben. Wie gehen diese mit derlei Vorurteilen um?
Attia: Die Umgangsweisen mit den Stereotypen und auch mit den Barrieren und Ausschlüssen, die mit dem Sicherheitsdiskurs einhergehen, sind ganz unterschiedlich. Jedoch lassen sich einige wiederkehrende Thematisierungs- und Umgangsweisen finden. Eine Frage, mit der sich viele beschäftigen, ist: Wie weit kann man sich auf den Sicherheitsdiskurs einlassen, um eigene Interessen darin vertreten zu können? Nehmen Gemeinden etwa Förderungen im Rahmen der Extremismusprävention an, sodass ihre Jugendarbeit finanziert wird und sie gewisse Entscheidungsspielräume nutzen können und diese nicht anderen überlassen – oder arbeiten sie weiterhin unentgeltlich mit Auswirkungen auf ihre persönliche und auch die fachliche Arbeit, laufen aber nicht Gefahr, instrumentalisiert zu werden?
Auch die Frage danach, ob Gruppierungen, die beobachtet werden, unterstützt oder gemieden werden sollten, ist für viele angesichts des Vorwurfs der Kontaktschuld hochrelevant. Einerseits fühlen sie sich verpflichtet, unter Verdacht geratene Vereine zu unterstützen, unter anderem auch, weil sie wissen, wie wenig haltbar die Vorwürfe häufig sind und dass sie selbst ebenfalls ganz schnell in eine ähnliche Situation geraten können. Andererseits besteht die begründete Angst, dann selbst beobachtet, kontrolliert und sanktioniert zu werden.
In den Gruppendiskussionen für unser Buch weisen unsere Gesprächspartner*innen immer wieder darauf hin, dass Muslim*innen aufgrund ihrer Differenzen untereinander im Detail unterschiedliche Erfahrungen machen können. Ihnen stehen deswegen verschiedene Möglichkeiten des Umgangs damit offen bzw. sind ihnen verwehrt. Obwohl der Sicherheitsdiskurs Muslim*innen insgesamt als Gefahr ins Visier nimmt, geschieht dies auf unterschiedliche Weise. Frauen etwa werden anders angesprochen als Männer, jüngere anders als ältere. Einige der Frauen fühlen sich etwa in der Pflicht, Jungen und Männer zu beschützen, weil sie stärker bedroht sind. Einige der Männer fühlen sich handlungsunfähig, kopftuchtragende Musliminnen zu unterstützen, weil sie befürchten, dadurch Stereotype zu bestätigen. Personen, deren Selbstkonzept – jedenfalls bezüglich ihrer religiösen Praxis und ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit – unproblematisch war, weil sie erst in erwachsenem Alter eingewandert sind, nehmen den Sicherheitsdiskurs anders wahr als Personen, die damit groß geworden sind.
In einer Diskussion tauschen sich die Gesprächspartner*innen darüber aus, welche Bücher sie in der Öffentlichkeit lesen. Ein junger, selbst eingewanderter Mann erzählt, dass er einen arabischen Roman in einem Cover von „DER SPIEGEL“ versteckt, um nicht als Terrorist angesprochen zu werden. Eine junge kopftuchtragende Muslimin überlegt sehr genau, ob sie Women in Islam in einem öffentlichen Verkehrsmittel liest, weil sie nicht als rückständig belächelt werden will. Das öffentliche Lesen eines Buches wird so zu einem Spießrutenlauf.
Wir konnten auch Unterschiede im Zusammenhang mit anderen Bezügen feststellen, die für die Personen bedeutsam sind, für einen muslimischen Rom, eine Schwarze Muslimin oder einen muslimischen Palästinenser geht der Sicherheitsdiskurs jeweils mit ganz spezifischen Engführungen und Auslassungen, Stereotypen und Deutungen einher.
Die Umgangsweisen unterscheiden sich also aufgrund persönlicher Möglichkeiten oder Vorlieben, aber auch im Kontext der konkreten Anfragen und Konstellationen, die durch jahrhundertealte Orient- und Islambilder geprägt sind. Die Deutungen und Umgangsstrategien unserer Gesprächspartner*innen reichen von Distanzierung über Differenzierung hin zu Solidarisierung, von Rückzug über Diskussion hin zu Widerstand, von Einlassen auf den Diskurs über Versuche ihn zu verschieben hin zu Gegendiskursen und vielem anderen mehr.
IslamiQ: Ein neueres Schlüsselwort des Sicherheitsdiskurses ist der sogenannte „politische Islam“. Wie ist dieser in den Diskurs einzuordnen?
Attia: Es gibt eine lange Tradition des Versuchs, dem Vorwurf der Vereinfachung, der Stereotypisierung und des Rassismus zu entgehen, indem zwischen ‚guten‘ und ‚bösen‘ Muslim*innen unterschieden wird. Die Differenzierung ist aber nur eine scheinbare. Sie vermag nicht die Vielfalt und die Komplexität von Bezügen zum Islam und Selbstverständnissen des Muslimischseins abzubilden. Auch ist diese Unterscheidung weiterhin daran interessiert, den (nun politischen) Islam als Gegenbild zu konstruieren und seine Gefährlichkeit für die Rechtfertigung restriktiver und antidemokratischer innen- und außenpolitischer Maßnahmen heranzuziehen.
Aus muslimischer Perspektive gibt es verschiedene historische Konstellationen, in denen es sinnvoll erschien, politische Kämpfe mit islamischen Bezügen zu verbinden. Das geschah auf so unterschiedliche Weise, dass diese Artikulationen eigentlich nicht zusammen gedacht werden können. In Ägypten etwa sprach die Muslimbruderschaft große Teile der Bevölkerung an, weil sie es verstand, eine eigene, muslimische Identität im antikolonialen Kampf zu mobilisieren. In Syrien dagegen wendet ISIS militärische Gewalt gegen die eigene Bevölkerung an, sodass z. B. der von ISIS programmatisch im Namen gewählte Bezug zum Islam ihr von der Bevölkerung verweigert wird und die Abkürzung Daesch eine deutliche Distanzierung beinhaltet.
Wenn nun diese gegensätzlichen Bezüge politischer Bewegungen zum Islam im Begriff des ‚politischen Islams’ gleichgesetzt und umgedeutet werden, verlieren sie an Aussagekraft. Indem konkrete Analysen historischer Spezifika ausbleiben, können wieder alte Illoyalitätsvorwürfe bedient werden: Politisch aktive Menschen, die als Muslim*innen wahrgenommen werden, werden des „politischen Islams“ bezichtigt. Es werden also aus der Außensicht Korrelationen als Kausalitäten artikuliert und Handlungsmöglichkeiten begrenzt. Sich sozial oder politisch engagierende Bürger*innen, die muslimisch sind, werden in Gewissenskonflikte gedrängt.
IslamiQ: Was machen Zuschreibungen im Sicherheitsdiskurs mit Muslimen? Kann man sagen, dass es zu einer Verzerrung ihrer eigenen Wahrnehmung und vielleicht auch der religiösen Positionierung kommt?
Attia: Die Stereotypisierungen und ihre konkreten, manifesten Folgen stellen für Muslim*innen und Menschen, die als solche wahrgenommen, angesprochen und behandelt werden, Bedingungen dar, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen. Das bleibt nicht ohne Folgen, die aber ganz verschieden sein können. Ihre Existenz wird nicht als fraglos gegeben akzeptiert oder auch einfach hingenommen. Das wirkt sich natürlich auch auf die Selbstwahrnehmung aus: Sie müssen sich kontrollieren und rechtfertigen, ihr Hiersein und Sosein begründen, ihre Normalität und Existenzberechtigung unter Beweis stellen und gegen Stereotypisierungen, Instrumentalisierungen und Vereinnahmungen wehren. Das ist anstrengend, lenkt von anderen Dingen ab und kränkt, es verwehrt Zugänge und begrenzt Handlungsoptionen.
Diese Situation kann aber auch zu erhöhter und differenzierter Wahrnehmung beitragen. Sie kann Menschen und Communitys stärken und zusammenführen. In den Gruppendiskussionen wurde nicht nur angeregt diskutiert, sondern auch nach Lösungen gesucht und viel gelacht. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Menschen und die Communitys diese Prozesse nicht ausgesucht haben, dass darüber auch Menschen zerbrechen und Gemeinschaften auseinander gehen können.
Das Interview führte Ali Mete.