Constantin Schreiber stellt sich mit seinem Roman „Die Kandidatin“ einen Freibrief für rechte Hetze aus. Die ARD unterstützt ihn. Ein Gastbeitrag von Stefan Weidner.
Fast wäre der beliebteste deutsche Nachrichtensprecher gefeuert worden. Im Oktober 2001 hielt die CDU-Vorsitzende Merkel Ulrich Wickert für „absolut nicht mehr tragbar als Nachrichtenmoderator im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.“ Wickerts Vergehen: In einer Glosse hatte er die indische Schriftstellerin Arundhati Roy zitiert, die Osama Bin Laden, den Drahtzieher der Anschläge von 9/11, als „dunklen Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten“ George W. Bush bezeichnet hatte. Mit einer devoten Entschuldigung, in der er Bush als „Führer der freien Welt“ bezeichnete, gelang es Wickert, seine Entlassung noch einmal abzuwenden.“[1]
Zwanzig Jahre später ziehen die Amerikaner aus Afghanistan ab, ohne die Taliban besiegt zu haben, Ulrich Wickert ist im verdienten Ruhestand, und Angela Merkel steht kurz vor einem würdevollen Ende ihrer sechzehnjährigen Kanzlerschaft. Mit Constantin Schreiber aber ist ein neuer Nachrichtensprecher angetreten, um die politische Korrektheit herauszufordern. Diesmal freilich ist es die Korrektheit von links, und dass er sich dafür entschuldigen muss, ist unwahrscheinlich. Obwohl Annalena Baerbock mit ebenso guten Gründen wie einst Merkel behaupten könnte, dass Schreiber „absolut nicht mehr tragbar ist als Nachrichtenmoderator im öffentlich-rechtlichen Fernsehen“.
Im Unterschied zu Wickert ist Schreiber ein Großmeister des medialen Gaslighting. Er ist in verschiedenen Rollen auf etlichen Kanälen präsent und doch nirgendwo richtig zu greifen. Statt in einer Glosse die eigene Meinung kundzutun, publiziert er lieber einen Roman. Darin steht vielleicht alles, was der Autor immer schon loswerden wollte, doch niemand kann ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. „Alle Romanfiguren sind fiktiv“ ließ er in einem Streitgespräch mit Khola Maryam Hübsch in der ZEIT vom 6. Mai verlautbaren. Wie wahr! Ist aber jemand, der einen antisemitischen Roman schreibt, nicht vielleicht doch auch ein Antisemit?
Constantin Schreibers „Die Kandidatin“ einen „Roman“ zu nennen, ist eine real existierende Möglichkeit, jedoch keine sehr überzeugende. Die großen Feuilletons der Republik haben das Anfang Mai erschienene Buch trotz der Prominenz des Autors bis jetzt ignoriert, vermutlich aus Takt. Denn hinter der Fiktion verbirgt sich wenig mehr als ein rechtspopulistisches Pamphlet mit altbekannten Feindbildern: Dem Islam und den Muslimen, den „Linken“ sowie allen, die mit ethnischer, religiöser oder sexueller Vielfalt kein Problem haben und diese verteidigen möchten.
Die nahe Zukunft, in der Handlung des „Romans“ spielt, fühlt sich an wie der kommende Herbst: Bundestagswahlen stehen an, aussichtsreichste Kanzlerkandidatin ist die 44-jährige Muslimin Sabah Hussein von der „Ökologischen Partei“. „Die Kandidatin“ beginnt mit einem abgewandelten, wiedererkennbaren Goebbels-Zitat: „‚Wollt ihr absolute Diversität?‘ (…) ‚Ja‘, skandiert die Menge, klatscht und jubelt. ‚Ja!’“
Wie ein Teppich mit schnell durchschautem Muster entrollt sich das Buch, sein Tenor und seine These, aus diesem ersten Satz, aus dieser ersten Szene: Diversität, Postkolonialismus, Identitätspolitik tendieren zu einem neuen Faschismus, wahlweise Kommunismus. Sie einzufordern und dafür einzutreten kommt der Erklärung eines totalen Kriegs gegen alle ‚Normalen‘, Alteingessenen, Weißen gleich. Sie sind es, die verlieren werden, wenn Sabah Hussein gewinnt. Privilegien werden sozialistisch abgeschafft, auf dem Wohnungsmarkt und anderswo herrscht affirmative action. Gegen die „Heimatkämpfer“ treten die „Antifakämpfer und die muslimische Schariabrigade“ an.
Nach diesem Auftakt kurz vor Verkündigung des Wahlergebnisses erzählt das Buch die Vorgeschichte, begleitet Sabah Hussein durch den Wahlkampf, schildert ihre Herkunft aus einem Flüchtlingslager, ihre Vorliebe für Luxus („teure Kleider, goldene Armreife“), die Verstrickung ihrer Familie in die libanesische Mafia, ihren Geltungsdrang, ihre Erfolgsverliebtheit.
Wer die politische Szene in Deutschland in den letzten Jahren verfolgt hat, kommt nicht umhin, in Sabah Hussein eine bösartige Karikatur der Berliner SPD-Politikerin Sawsan Chebli zu erkennen. Sie ist heute bis auf ein Jahr so alt wie Schreibers „Kandidatin“ — was natürlich nichts daran ändert, dass „keine der Romanfiguren real ist“. Für Sabah schafft ihr Mentor (im Buch heißt er Reuter, wie der Berliner Nachkriegsbürgermeister Ernst Reuter; in echt ist es der heute Regierende Bürgermeister Müller) den Posten einer „Sonderbeauftragten für öffentliche Dialoge“. Chebli, die echte, ist Staatssekretärin für „Bürgerschaftliches Engagement“.
Vielleicht meint Schreiber es wirklich nicht böse und ist nur ein schlechter, der Ironie unfähiger Autor. Gleichwohl schafft er es, in einem einzigen Satz Frauenfeindschaft, Homophobie, Rassismus und Spot gegen Behinderte zusammen zu spannen. Sabah, die James Bond liebt, „findet es prima, dass 007 jetzt eine diverse Agentin ist, eine schwarze, lesbische Frau mit Behinderung. So kommt die politische Agenda immer mehr im Mainstream an.“ Man kann sich schon vorstellen, dass es Leute gibt, die das lustig finden mit der Agentin und ihrer Agenda. Aber man will lieber nichts mit ihnen zu tun haben.
Nebenbei kriegt die indische Filmindustrie etwas ab, und natürlich auch das neuste Schreckgespenst der freien Welt, China, das in Schreibers Zukunft Taiwan erobert hat. Sabah Hussein lässt das kalt, was Schreiber zu folgender, schwerwiegender Überlegung für den Fall ihres Wahlsieges veranlasst: „Womit wird sie den Mächtigen der Welt gegenübertreten? Ihre Waffen sind auf der internationalen Bühne stumpf.“ Ein Blick auf Kamala Harris genügt, um zu ermessen, wie ewig gestrig Schreibers Zukunft ist.
Angesichts der Bedrohungen durch die „totale Diversität“ formiert sich der weiße, biodeutsche Widerstand. Eine Leibwächterin feuert auf die Kandidatin und verletzt sie schwer. In Schreibers Romanweltlogik ist ihr Motiv natürlich nachvollziehbar: „zu den Verlierern (…) würde auch sie, die ostdeutsche blonde Frau gehören.“ Die Attentäterin steht auf der richtigen Seite, auch wenn die Erinnerung an Walter Lübcke häßlich in die „Fiktion“ hineinfunkt: „Es geht nicht um Vielfalt. Nein, es geht um die Übernahme unseres Landes“. Pech für die „ostdeutsche, blonde Frau“ (übrigens ein weiteres, nun freilich ossiphobes Klischee), dass das Land längst übernommen ist. Die Richterin heißt Khadija Hatoum und trägt einen Hijab. Doch der heiß ersehnte Moment, wo sich im Epischen Theater die Figuren an die Zuschauer wenden, um ihnen den illusionären Charakter des Gezeigten und ihre eigenen Vorurteile vor Augen zu führen, fällt bei Schreiber aus.
Also müssen wir das erledigen. Ich gestehe: Es ist mir unmöglich, diesen Text als „Roman“ zu lesen. Ich kann und will ihn nur so verstehen, wie er aller Wahrscheinlichkeit von den meisten seiner Rezipienten verstanden wird: Als reaktionäres Manifest. Ich erkenne in diesem Buch auch keine Fiktion, sondern nur die Stimme, die Meinungen, die Ängste und Phobien des Autors — seine eigenen und die seiner Leser, Freunde, Unterstützerinnen und im schlimmsten Fall auch seiner Arbeitgeber.
Gleichfalls schiene es mir verlogen, diesen „Roman“ nicht in Zusammenhang mit den anderen Büchern dieses Autors zu betrachten, die ebenso unerbittlich wie dieses darauf hinauslaufen, die Angst vor dem Islam zu schüren und die Muslime zu diffamieren: „Die Kinder des Koran. Was muslimische Schüler lernen.“[2] Und nach demselben Schema: „Inside Islam. Was in deutschen Moscheen gepredigt wird“. Kritikwürdige Züge des zeitgenössischen Islams, mancher Muslime und vieler muslimischer Gesellschaften zeigt man anders auf, als Schreiber es getan hat, der sich als Enthüllungsjournalist versteht und doch nur Klischees und Vorurteile bedient.
Parallel zur umstrittenen österreichischen „islam-landkarte.at“, auf die rechte, anti-islamische Aktivisten dankbar zurückgreifen, wie die Betreiber inzwischen selber festgestellt haben[3], hat Schreiber die Seite „moscheepedia.org“ initiiert und ruft dazu auf, Fotos, Videos und Beschreibungen von Moscheen hochzuladen. Ich kenne keinen Zweck, der gut genug wäre, um derartige Übergriffe auf fremde sakrale Räume zu rechtfertigen. „Solche Kartierungen stigmatisieren“, hält Reinhard Schulze, Berner Emeritus für Islamwissenschaften, in einem Tweet fest.
Alle diese Nebentätigkeiten geschehen nicht unabhängig von Schreibers eigentlichen Arbeitgebern, ARD-aktuell und NDR, sondern ebendort im besten Wechselspiel von Tweet und Retweet[4], von Talkshowauftritten[5] und Tagesschaupräsenz. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen lässt sich für ein politisches Projekt einspannen, das mit seinem Auftrag nicht mehr vereinbar ist.
Nach der Zeit, als Ulrich Wickert fast aus dem Sender geflogen wäre, weil er eine selbstbewusste, linke, dunkelhäutige indische Autorin mit „Diversitätsmerkmalen“ zitierte, wollen wir uns aber nicht zurücksehnen. Sie ähnelt allzu sehr der Zukunft von Constantin Schreiber.
[1] www.presseportal.de/pm/6561/287988
[2] https://www.disorient.de/magazin/verzerrungen-und-vorurteile-eine-ausfuehrliche-kritische-rezension-zu-constantin-schreibers
[3] https://www.islam-landkarte.at: Pressemeldung vom 01.06.2021: „Ich bedaure sehr, dass es in den letzten Tagen vermehrt zu politischer Instrumentalisierung gekommen ist und dass mittlerweile auch verschiedenste Rechtsextremisten den Zweck dieses Projektes völlig konterkarieren. Die soeben bekannt gewordenen Warnschilder an verschiedenen Orten Wiens sind erschütternd und verstörend und ich verurteile derartige Aktionen auf das Schärfste.“
[4] https://twitter.com/tagesthemen/status/1373008854393438209
[5] https://www.ardmediathek.de/video/das/das-mit-autor-und-tagesschau-sprecher-constantin-schreiber/ndr-fernsehen/Y3JpZDovL25kci5kZS8xMjgzNjkzMi0xMWNlLTQ1ZmItODJhNy01MWVjOTcyNzhkNjg/ .
https://www.ardmediathek.de/video/ndr-talk-show/journalist-und-autor-constantin-schreiber/ndr-fernsehen/Y3JpZDovL25kci5kZS80MTMwNTNjNC04ZTg5LTQzZmYtOWI2MS0xZGRmZmZmNzAzNmQ/ .
https://www.ardaudiothek.de/eins-zu-eins-der-talk/constantin-schreiber-tagesschau-sprecher/89223578
Sowie inzwischen wieder vom Netz: Brisant am 28.5.