REZENSION

„Die Kandidatin“ – ein reaktionäres Manifest gegen Muslime

Constantin Schreiber stellt sich mit seinem Roman „Die Kandidatin“ einen Freibrief für rechte Hetze aus. Die ARD unterstützt ihn. Ein Gastbeitrag von Stefan Weidner.

12
06
2021
„Die Kandidatin“ – ein reaktionäres Manifest gegen Muslime Constantin Schreiber

Fast wäre der beliebteste deutsche Nachrichtensprecher gefeuert worden. Im Oktober 2001 hielt die CDU-Vorsitzende Merkel Ulrich Wickert für „absolut nicht mehr tragbar als Nachrichtenmoderator im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.“ Wickerts Vergehen: In einer Glosse hatte er die indische Schriftstellerin Arundhati Roy zitiert, die Osama Bin Laden, den Drahtzieher der Anschläge von 9/11, als „dunklen Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten“ George W. Bush bezeichnet hatte. Mit einer devoten Entschuldigung, in der er Bush als „Führer der freien Welt“ bezeichnete, gelang es Wickert, seine Entlassung noch einmal abzuwenden.“[1]

Zwanzig Jahre später ziehen die Amerikaner aus Afghanistan ab, ohne die Taliban besiegt zu haben, Ulrich Wickert ist im verdienten Ruhestand, und Angela Merkel steht kurz vor einem würdevollen Ende ihrer sechzehnjährigen Kanzlerschaft. Mit Constantin Schreiber aber ist ein neuer Nachrichtensprecher angetreten, um die politische Korrektheit herauszufordern. Diesmal freilich ist es die Korrektheit von links, und dass er sich dafür entschuldigen muss, ist unwahrscheinlich. Obwohl Annalena Baerbock mit ebenso guten Gründen wie einst Merkel behaupten könnte, dass Schreiber „absolut nicht mehr tragbar ist als Nachrichtenmoderator im öffentlich-rechtlichen Fernsehen“.

Im Unterschied zu Wickert ist Schreiber ein Großmeister des medialen Gaslighting. Er ist in verschiedenen Rollen auf etlichen Kanälen präsent und doch nirgendwo richtig zu greifen. Statt in einer Glosse die eigene Meinung kundzutun, publiziert er lieber einen Roman. Darin steht vielleicht alles, was der Autor immer schon loswerden wollte, doch niemand kann ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. „Alle Romanfiguren sind fiktiv“ ließ er in einem Streitgespräch mit Khola Maryam Hübsch in der ZEIT vom 6. Mai verlautbaren. Wie wahr! Ist aber jemand, der einen antisemitischen Roman schreibt, nicht vielleicht doch auch ein Antisemit?

Ein rechtspopulistisches Pamphlet

Constantin Schreibers „Die Kandidatin“ einen „Roman“ zu nennen, ist eine real existierende Möglichkeit, jedoch keine sehr überzeugende. Die großen Feuilletons der Republik haben das Anfang Mai erschienene Buch trotz der Prominenz des Autors bis jetzt ignoriert, vermutlich aus Takt. Denn hinter der Fiktion verbirgt sich wenig mehr als ein rechtspopulistisches Pamphlet mit altbekannten Feindbildern: Dem Islam und den Muslimen, den „Linken“ sowie allen, die mit ethnischer, religiöser oder sexueller Vielfalt kein Problem haben und diese verteidigen möchten.

Die nahe Zukunft, in der Handlung des „Romans“ spielt, fühlt sich an wie der kommende Herbst: Bundestagswahlen stehen an, aussichtsreichste Kanzlerkandidatin ist die 44-jährige Muslimin Sabah Hussein von der „Ökologischen Partei“. „Die Kandidatin“ beginnt mit einem abgewandelten, wiedererkennbaren Goebbels-Zitat: „‚Wollt ihr absolute Diversität?‘ (…) ‚Ja‘, skandiert die Menge, klatscht und jubelt. ‚Ja!’“

Wie ein Teppich mit schnell durchschautem Muster entrollt sich das Buch, sein Tenor und seine These, aus diesem ersten Satz, aus dieser ersten Szene: Diversität, Postkolonialismus, Identitätspolitik tendieren zu einem neuen Faschismus, wahlweise Kommunismus. Sie einzufordern und dafür einzutreten kommt der Erklärung eines totalen Kriegs gegen alle ‚Normalen‘, Alteingessenen, Weißen gleich. Sie sind es, die verlieren werden, wenn Sabah Hussein gewinnt. Privilegien werden sozialistisch abgeschafft, auf dem Wohnungsmarkt und anderswo herrscht affirmative action. Gegen die „Heimatkämpfer“ treten die „Antifakämpfer und die muslimische Schariabrigade“ an.

Nach diesem Auftakt kurz vor Verkündigung des Wahlergebnisses erzählt das Buch die Vorgeschichte, begleitet Sabah Hussein durch den Wahlkampf, schildert ihre Herkunft aus einem Flüchtlingslager, ihre Vorliebe für Luxus („teure Kleider, goldene Armreife“), die Verstrickung ihrer Familie in die libanesische Mafia, ihren Geltungsdrang, ihre Erfolgsverliebtheit.

Spott gegen Chebli?

Wer die politische Szene in Deutschland in den letzten Jahren verfolgt hat, kommt nicht umhin, in Sabah Hussein eine bösartige Karikatur der Berliner SPD-Politikerin Sawsan Chebli zu erkennen. Sie ist heute bis auf ein Jahr so alt wie Schreibers „Kandidatin“ — was natürlich nichts daran ändert, dass „keine der Romanfiguren real ist“. Für Sabah schafft ihr Mentor (im Buch heißt er Reuter, wie der Berliner Nachkriegsbürgermeister Ernst Reuter; in echt ist es der heute Regierende Bürgermeister Müller) den Posten einer „Sonderbeauftragten für öffentliche Dialoge“. Chebli, die echte, ist Staatssekretärin für „Bürgerschaftliches Engagement“.

Vielleicht meint Schreiber es wirklich nicht böse und ist nur ein schlechter, der Ironie unfähiger Autor. Gleichwohl schafft er es, in einem einzigen Satz Frauenfeindschaft, Homophobie, Rassismus und Spot gegen Behinderte zusammen zu spannen. Sabah, die James Bond liebt, „findet es prima, dass 007 jetzt eine diverse Agentin ist, eine schwarze, lesbische Frau mit Behinderung. So kommt die politische Agenda immer mehr im Mainstream an.“ Man kann sich schon vorstellen, dass es Leute gibt, die das lustig finden mit der Agentin und ihrer Agenda. Aber man will lieber nichts mit ihnen zu tun haben.

„Die Übernahme unseres Landes“

Nebenbei kriegt die indische Filmindustrie etwas ab, und natürlich auch das neuste Schreckgespenst der freien Welt, China, das in Schreibers Zukunft Taiwan erobert hat. Sabah Hussein lässt das kalt, was Schreiber zu folgender, schwerwiegender Überlegung für den Fall ihres Wahlsieges veranlasst: „Womit wird sie den Mächtigen der Welt gegenübertreten? Ihre Waffen sind auf der internationalen Bühne stumpf.“ Ein Blick auf Kamala Harris genügt, um zu ermessen, wie ewig gestrig Schreibers Zukunft ist.

Angesichts der Bedrohungen durch die „totale Diversität“ formiert sich der weiße, biodeutsche Widerstand. Eine Leibwächterin feuert auf die Kandidatin und verletzt sie schwer. In Schreibers Romanweltlogik ist ihr Motiv natürlich nachvollziehbar: „zu den Verlierern (…) würde auch sie, die ostdeutsche blonde Frau gehören.“ Die Attentäterin steht auf der richtigen Seite, auch wenn die Erinnerung an Walter Lübcke häßlich in die „Fiktion“ hineinfunkt: „Es geht nicht um Vielfalt. Nein, es geht um die Übernahme unseres Landes“. Pech für die „ostdeutsche, blonde Frau“ (übrigens ein weiteres, nun freilich ossiphobes Klischee), dass das Land längst übernommen ist. Die Richterin heißt Khadija Hatoum und trägt einen Hijab. Doch der heiß ersehnte Moment, wo sich im Epischen Theater die Figuren an die Zuschauer wenden, um ihnen den illusionären Charakter des Gezeigten und ihre eigenen Vorurteile vor Augen zu führen, fällt bei Schreiber aus.

Schreiber bedient Klischees und Vorurteile

Also müssen wir das erledigen. Ich gestehe: Es ist mir unmöglich, diesen Text als „Roman“ zu lesen. Ich kann und will ihn nur so verstehen, wie er aller Wahrscheinlichkeit von den meisten seiner Rezipienten verstanden wird: Als reaktionäres Manifest. Ich erkenne in diesem Buch auch keine Fiktion, sondern nur die Stimme, die Meinungen, die Ängste und Phobien des Autors — seine eigenen und die seiner Leser, Freunde, Unterstützerinnen und im schlimmsten Fall auch seiner Arbeitgeber.

Gleichfalls schiene es mir verlogen, diesen „Roman“ nicht in Zusammenhang mit den anderen Büchern dieses Autors zu betrachten, die ebenso unerbittlich wie dieses darauf hinauslaufen, die Angst vor dem Islam zu schüren und die Muslime zu diffamieren: „Die Kinder des Koran. Was muslimische Schüler lernen.“[2] Und nach demselben Schema: „Inside Islam. Was in deutschen Moscheen gepredigt wird“. Kritikwürdige Züge des zeitgenössischen Islams, mancher Muslime und vieler muslimischer Gesellschaften zeigt man anders auf, als Schreiber es getan hat, der sich als Enthüllungsjournalist versteht und doch nur Klischees und Vorurteile bedient.

Parallel zur umstrittenen österreichischen „islam-landkarte.at“, auf die rechte, anti-islamische Aktivisten dankbar zurückgreifen, wie die Betreiber inzwischen selber festgestellt haben[3], hat Schreiber die Seite „moscheepedia.org“ initiiert und ruft dazu auf, Fotos, Videos und Beschreibungen von Moscheen hochzuladen. Ich kenne keinen Zweck, der gut genug wäre, um derartige Übergriffe auf fremde sakrale Räume zu rechtfertigen. „Solche Kartierungen stigmatisieren“, hält Reinhard Schulze, Berner Emeritus für Islamwissenschaften, in einem Tweet fest.

ARD unterstützt Schreiber

Alle diese Nebentätigkeiten geschehen nicht unabhängig von Schreibers eigentlichen Arbeitgebern, ARD-aktuell und NDR, sondern ebendort im besten Wechselspiel von Tweet und Retweet[4], von Talkshowauftritten[5] und Tagesschaupräsenz. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen lässt sich für ein politisches Projekt einspannen, das mit seinem Auftrag nicht mehr vereinbar ist.

Nach der Zeit, als Ulrich Wickert fast aus dem Sender geflogen wäre, weil er eine selbstbewusste, linke, dunkelhäutige indische Autorin mit „Diversitätsmerkmalen“ zitierte, wollen wir uns aber nicht zurücksehnen. Sie ähnelt allzu sehr der Zukunft von Constantin Schreiber.

[1]              www.presseportal.de/pm/6561/287988
[2]              https://www.disorient.de/magazin/verzerrungen-und-vorurteile-eine-ausfuehrliche-kritische-rezension-zu-constantin-schreibers
[3]              https://www.islam-landkarte.at: Pressemeldung vom 01.06.2021: „Ich bedaure sehr, dass es in den letzten Tagen vermehrt zu politischer Instrumentalisierung gekommen ist und dass mittlerweile auch verschiedenste Rechtsextremisten den Zweck dieses Projektes völlig konterkarieren. Die soeben bekannt gewordenen Warnschilder an verschiedenen Orten Wiens sind erschütternd und verstörend und ich verurteile derartige Aktionen auf das Schärfste.“
[4]              https://twitter.com/tagesthemen/status/1373008854393438209
[5]              https://www.ardmediathek.de/video/das/das-mit-autor-und-tagesschau-sprecher-constantin-schreiber/ndr-fernsehen/Y3JpZDovL25kci5kZS8xMjgzNjkzMi0xMWNlLTQ1ZmItODJhNy01MWVjOTcyNzhkNjg/ .
https://www.ardmediathek.de/video/ndr-talk-show/journalist-und-autor-constantin-schreiber/ndr-fernsehen/Y3JpZDovL25kci5kZS80MTMwNTNjNC04ZTg5LTQzZmYtOWI2MS0xZGRmZmZmNzAzNmQ/ .
https://www.ardaudiothek.de/eins-zu-eins-der-talk/constantin-schreiber-tagesschau-sprecher/89223578
Sowie inzwischen wieder vom Netz: Brisant am 28.5.

Leserkommentare

Tarik sagt:
@ Goethe Lassen wir doch den guten Mann selbst zu Wort kommen: „ ImGrunde liegt von diesem Glauben doch etwas in uns allen […] Sodann ihren Unterricht in der Philosophie beginnen die Mohammedaner mit der Lehre, daß nichts existiere, wovon sich nicht das Gegenteil sagen lasse; und so üben sie den Geist der Jugend, indem sie ihre Aufgaben darin bestehen lassen, von jeder aufgestellten Behauptung die entgegengesetzte Meinung zu finden und auszusprechen, woraus eine großeGewandtheit im Denken und Reden hervorgehen muß. Nun aber, nachdem von jedem aufgestellten Satze das Gegenteil behauptet worden, entsteht der Zweifel, welches denn von beiden das eigentlich Wahre sei. Im Zweifel aber ist kein Verharren, sondern er treibt den Geist zu näherer Untersuchung und Prüfung, woraus denn, wenn diese auf eine vollkommene Weise geschieht, die Gewißheit hervorgeht, welches das Ziel ist, worin der Mensch seine völlige Beruhigung findet. Sie sehen, daß dieser Lehre nichts fehlt und daß wir mit allen unsern Systemen nicht weiter sind und daß überhaupt niemand weiter gelangen kann“ (aus einem Briefwechsel) Zu „Jobhudelei“ fällt mir spontan Goethes „Mahomets Gesang“ ein, übrigens von niemandem geringerem als Schubert selbst vertont :-)
23.06.21
15:11
Vera Praunheim sagt:
Fällt "Tarik" nicht mehr ein, als nur banale Worthülsen, Unterstellungen und Nichtssagendes dann von sich zu geben, wenn eine kluge Antwort notwendig wäre? Man merkt deutlich, wenn jemand gefährliche Islam-Tendenzen aufzeigt, wird er automatisch als "islamhassender Polemiker" diffamiert und verunglimpft. Das ist typisch für vehemente Islam-Verfechter & Islam-Trollfabrik-Akteure. Die bestialische Ermordung des niederländischen Regisseurs Theo van Gogh durch einen Islamfanatiker geht "Tarik" wohl schon auf den Senkel, wenn man sie nur erwähnt. Die Janusköpfigkeit des Islam und mancher seiner Anhänger zeigt sich leider immer wieder. Aber vielleicht ist das sogar gut, damit immer mehr Menschen aus ihrem falschen Toleranzler-Schlaf erwachen. Toleranz darf nur der erwarten, der sich ihrer würdig erweist. Alles andere wäre verhängnisvoll. In der FAZ (14.09.2016) heißt es zu Houellebecq: "Nun verrät sein Freund und Übersetzer Gavin Bowd, was den Schriftsteller bewegt. Und seit wann er den Islam für gefährlich hält." Und weiter: "Die antiislamischen Einlassungen Houellebecqs wiederum sind nicht neu, sie haben sich nur verstärkt: Bereits im Roman 'Elementarteilchen' (1998) findet sich die Bemerkung, der Islam sei die dümmste der monotheistischen Religionen, eine Bemerkung, die einer Figur zugeschrieben wird und erst Jahre später, aus dem Mund ihres Autors, skandalisierte." Das ist doch ein Wort, nicht wahr. Houellebecq sollte den Nobelpreis bekommen.
23.06.21
15:54
Tarik sagt:
@ "Vera (von) Praunheim" Das Wesentliche zu ihrem Ursprungskommentar, indem sie ohne Zitat-Quellenangaben lediglich Rezensionen wiedergaben, um das Buch "zu hypen", habe ich bereits gesagt. Man nennt so etwas auch Propaganda. Es würde mich gar nicht wundern, wenn Sie Schreibers aktuelles Machwerk gar nicht zuende gelesen habe. Dass Sie Houllebecq - der weitaus mehr ist als nur ein "wollüstiger Satiriker"- nicht verstehen, nun das haben Sie einmal mehr deutlich gemacht. Wie gesagt, ich habe Houllebecq selbst zitiert. Übrigens hat er sich von seiner damaligen Aussage bzgl. des Islams distanziert, fast schon wie einst Voltaire, der in späten Jahren bereute, Zitat "einen so großen Mann wie Muhammad beleidigt zu haben". Im Gegensatz zu Ihnen zitiere ich lediglich die Personen selbst. Sie hingegen haben hier eine Rolle zu spielen, eine Funktion zu erfüllen, und die heißt "polemisieren, provozieren" und hier und da Ihre Abneigung gegen den Islam Luft zu verschaffen. Viel Spaß dabei. Hier mal ein rein stilistischer Vergleich anhand von Zitaten - im Gegensatz zur V.P. hab ich die Bücher direkt neben mir hier liegen -: Houllebecq: „Die Musik kann im selben Maße wie die Literatur erschüttern, eine gefühlsmäßige Umkehr, Traurigkeit oder absolute Ekstase bewirken; die Malerei kann im selben Maße wie die Literatur verzücken, einen neuen Blick auf die Welt eröffnen. Aber allein die Literatur vermittelt uns das Gefühl von Verbundenheit mit einem anderen menschlichen Geist, mit allem, was diesen Geist ausmacht, mit seinen Schwächen und seiner Größe, seinen Grenzen, seinen Engstirnigkeiten, seinen fixen Ideen, seinen Überzeugungen; mit allem, was ihn berührt, interessiet, erregt oder abstößt. Allein die Literatur erlaubt uns, mit dem Geist eines Toten in Verbindung zu treten, auf direkte, umfassendere und tiefere Weise, als das selbst in einem Gespräch mit einem Freund möglich wäre…“ Ja, DAS ist Literatur. Schreiber: „Auf einem sehr verwackelten Handyvideo rennt eine Frau in blutgetränkter Bluse mit ihrem Baby im Arm über eine Straßenkreuzung, offenbar beim Versuch, sich in Sicherheit zu bringen. Ein Soldat steht hinter einer Hauswand ein paar Meter weiter. Er springt hervor, holt mit dem Maschinengewehr aus und rammt es der Frau ins Gesicht. Sie fällt auf die nasse Straße, das Baby wird durch die Luft geschleudert und landet hart auf dem Bordstein. Es bleibt regungslos liegen. … „Teure Kleider, goldene Armreife, auffälliger Lippenstift und ein einflussreicher Posten. Begehrenswert und unabhängig sein. All das sollte helfen, ihre Bilanz auszugleichen, sodass auch die kleine Sabah endlich einmal – zum ersten Mal – lächeln durfte.“ Dazwischen – sowohl was Stil, Ausdruck UND Botschaft betrifft – liegen Welten.
24.06.21
13:28
Vera Praunheim sagt:
"Die Kandidatin" - ein fortschrittliches Manifest zur Aufklärung? Zum Reflektieren und auch zur Infragestellung für Muslime? Auch Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), der größte deutsche Dichter und Denker, Naturforscher und Universalgenie, befasste sich - warum auch nicht - mit dem Koran und mit dem Propheten Mohammed. Aus dem Koran rezipierte er die schöpfungstheologischen, ethischen und spirituellen Texte, während er die legalistischen und höllentheologischen mit Schweigen überging. Goethe mochte vieles, was er im Koran zu lesen fand, aber nicht alles. Sein Verhältnis zum Islam war kritischer als heute oft behauptet wird. Goethe favorisierte die Lehre vom Einen Gott und die Überzeugung, daß sich Gott in der Natur offenbare und die Welt voll von Zeichen ist, die auf einen Schöpfer verweisen - quasi die Präsenz Gottes in allen Dingen. Solches findet sich natürlich in vielen spirituellen Vorstellungen; islamische Spiritualität hat darauf keinen besonderen Universalitätsanspruch. Goethe wollte den Koran als faszinierende Dichtkunst lesen, stieß dabei aber unweigerlich auf die höchst irdischen Absichten - ein Gegensatz, der sich nicht auflösen ließ. Er monierte u.a., daß die muslimischen Vorstellungen vom Paradies ausschließlich männlich bestimmt sind und daß in diesem "Paradies der Männer" für irdische Frauen kein Platz ist außer für dienliche Himmelsfrauen als Freudenspenderinnen. Die Soziologin & Publizistin Necla Kelek schrieb in der FAZ: "Goethe ist dem Islam mit Respekt, aber nicht mit Kritiklosigkeit begegnet. An vielen Stellen seines 'Divan' ist er voll beißenden Spotts. Für ihn ist, so schreibt er zum Verdruß mancher seiner muslimischen Rezipienten, Mohammed der 'Verfasser jenes Buches': der Koran nicht etwa göttliche Offenbarung, sondern ein von Menschenhand verfasstes Buch, das der historischen Kritik unterworfen und erst dadurch dem Dialog zugänglich ist. Goethes Auseinandersetzung ist höchst modern - von ihm können wir lernen." 1771 mag Goethe als 23-jähriger noch die "türkische Bibel" enthusiastisch gelesen haben, später aber rückte er davon ab und stellte die Rolle des Propheten in Frage. Nach Lobhudeleien gegenüber dem Koran-Autor sucht man in Goethes späteren Lebensjahren vergeblich.
25.06.21
4:01
Tarik sagt:
Abschließend hierzu: Was ebenfalls typisch ist für idelogisch agierende - in diesem Falle islamhassende - Polemiker: "Es kann nicht sein, was nicht sein darf". Im Gegensatz zu Ihnen habe ich sowohl Houllebecq als auch Goethe direkt zitiert, ihnen also nichts in den Mund gelegt. Der von mir zitierte Absatz stammt aus aus seiner Feder. Von ihm verfasst. Da können Islamkritiker a la Kelek und deren Jünger nach "es kann nicht sein, was nicht sein darf"- Art interpretieren wie sie wollen ;-). Vielmehr zeigt Goethe im o.g. Zitat, wie sehr er in der klassischen Kalam-Dialektik bewandert war. Darüber hinaus stammt es auch nicht vom jungen Goethe von 1771, sondern knapp 50 Jahre später. Sie sehen, im Laufe des Alters hat er sich mitnichten distanziert, vielmehr sein Wissen vertieft. Ähnlich, wenn auch anders im Detail verhält es sich mit Voltaire: Der späte Voltaire preiste den Islam als Quelle der Vernunft, Zivilisation und Toleranz. Einzig bei der Poligamie blieb er seiner früheren beißenden Kritik treu.
25.06.21
18:58
Tarik sagt:
P.S. Nur nochmal zum Vergleich unter der Rubrik „Facts & Fiction“: „Vera v. Praunheim“: „ 1771 mag Goethe als 23-jähriger noch die "türkische Bibel" enthusiastisch gelesen haben, später aber rückte er davon ab und stellte die Rolle des Propheten in Frage. Nach Lobhudeleien gegenüber dem Koran-Autor sucht man in Goethes späteren Lebensjahren vergeblich.“ Goethe persönlich, im Alter von 78 (!): „ImGrunde liegt von diesem Glauben doch etwas in uns allen […] Sodann ihren Unterricht in der Philosophie beginnen die Mohammedaner mit der Lehre, daß nichts existiere, wovon sich nicht das Gegenteil sagen lasse; und so üben sie den Geist der Jugend, indem sie ihre Aufgaben darin bestehen lassen, von jeder aufgestellten Behauptung die entgegengesetzte Meinung zu finden und auszusprechen, woraus eine großeGewandtheit im Denken und Reden hervorgehen muß. Nun aber, nachdem von jedem aufgestellten Satze das Gegenteil behauptet worden, entsteht der Zweifel, welches denn von beiden das eigentlich Wahre sei. Im Zweifel aber ist kein Verharren, sondern er treibt den Geist zu näherer Untersuchung und Prüfung, woraus denn, wenn diese auf eine vollkommene Weise geschieht, die Gewißheit hervorgeht, welches das Ziel ist, worin der Mensch seine völlige Beruhigung findet. Sie sehen, daß dieser Lehre nichts fehlt und daß wir mit allen unsern Systemen nicht weiter sind und daß überhaupt niemand weiter gelangen kann“ Q.E.D. P.P.S. Ich weiß nicht, ob „Vera“ ihre - faktisch widerlegte Behauptung selbst geschrieben hat, oder es noch zum polemischen, jedoch faktenarmen Text von Kelek gehört. Wenn Ersteres der Fall ist, lautet mein Rat, sich vor einer These gründlichst zu informieren. Wenn Letzteres der Fall ist, ist mein Rat derselbe. Mit dem Zusatz: Lernen Sie Ihren Verstand selbst zu gebrauchen, statt nur ihnen genehme Behauptungen nachzuplappern. Punkt.
26.06.21
10:49
Vera Praunheim sagt:
Si tacuisses...Tarik...philosophus mansisses. Die Schattenseiten des Propheten verkannte Goethe trotz allem keineswegs und übte entsprechend harsche Kritik, auch wenn er mit seinem Gedichtzyklus dem Orient seine Reverenz erwies. Die Ambivalenz seines Bildes vom Propheten zeigt sich nirgendwo prägnanter als in dessen Vergleich mit Napoleon, den er 1806 den "Mahomet der Welt" und später - 1815 - noch einmal "einen anderen Mahomet" nennt. Voltaire übersendet Friedrich dem Grossen 1740 seine Tragödie "Mahomet" und empört sich im Begleitschreiben über den angeblichen Lügen-Propheten Mohammed, seine Titelfigur, mit den Worten: "Doch dass ein Kamelhändler in seinem Nest Aufruhr entfacht, dass er seine Mitbürger Glauben machen will, dass er sich mit dem Erzengel Gabriel unterhalte, dass er sich damit brüstet, in den Himmel entrückt worden zu sein und dort einen Teil jenes unverdaulichen Buches empfangen zu haben...das ist nun mit Sicherheit etwas, das kein Mensch entschuldigen kann,...es sei denn, der Aberglaube habe ihm jedes natürliche Licht erstickt." Islam-Glaube - ein Glaube zum Fürchten? Er will das ganze Leben bestimmen. Er ist intolerant. Er unterdrückt die Frauen. Er ist innovationsfeindlich. Die islamische Welt ist heute islamistischer als vor 100 Jahren. Muslimische Anpassung an europäische Sitten ist rückläufig. Der Islam eignet sich zum Missbrauch durch Extremisten. Ein islamischer Staat muß zwangsläufig faschistisch sein mit Ausgrenzung Andersdenkender. Da helfen auch keinerlei Lobhudeleien gegenüber irgendwelchen Texten von wem auch immer und kein poetischer Sinnenrausch. Punkt.
27.06.21
22:25
Johannes Disch sagt:
@Constantin Schreiber Es ist en vogue geworden, jeder islamkritischen Stimme gleich das Etikett "islamfeindlich" anzuhängen. Das passiert nun auch Constantin Schreiber. Schreiber in dieselbe Ecke zu stellen wie rechtsradikale Rassisten a la "PoliticallyIncorrect"-- in der Tat eine üble Hetzplattform-- ist absurd. Schreiber kennt die arabische Welt. Er ist teilweise dort aufgewachsen und beherrscht die Sprache. Schreibers Arbeiten zeichnen sich durch Differenziertheit aus und auch durch possitive Urteile über islamische Zuwanderer. So wurde seine mehrteilige TV-Dokumentation "Marhaba - Ankommen in Deutschland" mit zahlreichen Preisen versehen. Es ist also absurd, aufgrund Schreibers früherer Arbeiten in seinem aktuellen Roman eine Fortschreibung früherer "Machwerke" (Stefan Weidner) zu erblicken. Schreiber hat einfach den Unmut gewisser Kreise auf sich gezogen, weil er mit dem "Moschee-Report" aufgezeigt hat, dass viele Freitagspredigten, die in Deutschland gehalten werden, nicht gerade unbedenklich sind. Um es nett zu formulieren. Und auch sein zweites Sachbuch "Kinder des Koran. Was muslimische Schüler lernen" schildert Fakten, und zwar bedenkliche. Dass der Schulunterricht in islamischen Ländern von Beginn durch anti-westliche und anti-semitische Inhalte geprägt ist, das ist nicht erst seit Constantin Schreiber bekannt. Bassam Tibi hat bereits seit den Neunziger Jahren wiederholt darauf hingewiesen, zuletzt warnte er im deutschen "Willkommenshype 2015" davor, dass wir mit den Flüchjtlingen nicht nur verfolgte Unschuldslämmer bekommen, sondern eine Klientel, die in weiten Teilen anti-westlich und anti-semitisch indoktriniert ist, und zwar von der Schulbank an. Viele Vorkommnisse seit 2015-- der Mord an 2 Homosexuellen in Dresden durch einen Flüchtling, der jüngste Amolauf eines somalischen Flüchtlings in Würzburg und viele andere Taten--zeigen, dass Tibi und Schreiber richtig liegen.
28.06.21
10:43
Tarik sagt:
Es gibt ein weiteres, interessantes Buch unter der Rubrik "Dystopie der Nahen Zukunft" Jacques Neirynck - Die Belagerung von Brüssel In seinem Alptraum eines künftigen Europa ist das offizielle Christentum zu einem Gespenst geworden; seine Kathedralen zu Museen verkommen, wo die Messe nur zelebriert wird, um die Neugier fernöstlicher Touristen zu befriedigen. Der Erzbischof trägt den spöttischen, dem Abendmahl entlehnten Spitznamen „Reale Abwesenheit“, da seine hyperliberale Theologie – darauf bedacht, alle Seiten zu beschwichtigen - sich als unfähig erweist, einen christlichen Widerstand gegen den neuen flämischen Rechtsextremismus zu wecken. In Neiryncks Zukunftsvision führt der Triumph der Neuen Rechten zur Errichtung von Konzentrationslagern und zur Vertreibung der jüdischen und muslimischen Gemeinden des Landes, denen vierundzwanzig Stunden Zeit gegeben wird, ihr Hab und Gut zu packen und im Gänsemarsch Richtung Süden zu ziehen. Nationalistische Priester fordern „chirurgische Schläge, die den Tumor herausschneiden“ und billigen die Belagerung und Bombardierung des muslimischen Ghettos, während sich Brüssel allmählich in ein zweites Sarajevo verwandelt. Das Drama endet mit einem muslimischen Aufstand, der ein Konzentrationslager befreit und so die panische Flucht der flämischen Milizen auslöst und letztlich sowohl die Brüchigkeit des rechtsextremen Aktivismus als auch die Realitätsferne seiner christlichen Rhetorik offenbart. Interessant ist dabei, dass diese Dystopie vom Aufstieg der islamfeindlichen Rechten 1997 geschrieben wurde.
28.06.21
13:01
Johannes Disch sagt:
Schreibers Roman mag literarisch von überschaubarer Qualität sein. Inhaltlich ist er aber brandaktuell. Und er schildert keineswegs nur eine Dystopie, eine düstere Zukunftsvision. Was er beschreibt, das findet bereits längst statt: Multi-Kulti-Hype, Gender-Wahn, Identitätspolitik, etc.
29.06.21
12:12
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