Das neue Lieblingsthema des Islamdiskurses ist der „politische Islam“. Während die Politik mit diesem Begriff Nägel mit Köpfen macht, ist dessen Definition und Verwendung unter Experten stark umstritten. Ein Beitrag von Mohammed Saif.
Das Verhältnis europäischer Gesellschaften zum Islam wurde und wird oft aus einer politischen Perspektive betrachtet. Diese Seite des Islams scheint „interessanter“ zu sein als die Theologie oder das religiöse Leben. Auch die mediale Beschäftigung mit gesellschaftspolitischen Islam-bezogenen Themen findet oft große Resonanz. Diese Debatte um das „Wesen des Islams“ wirkt sich natürlich auch auf die Wahrnehmung des Islams in der Öffentlichkeit aus. Der Islam wird, nach den Worten des Schriftstellers und Journalisten Ralph Giordano, als „eine genuin politische Religion“[1] gesehen. Der religiöse Charakter des Islams bleibt unbeachtet, die Religion wird ausschließlich im politischen Bereich definiert, im Sinne von: „Der Islam ist und macht Politik“.[2]
Vor diesem Hintergrund entwickelt sich die Bezeichnung „politischer Islam“ mehr und mehr zu einem Kampfbegriff und einem Bestandteil der Debatte um den Islam selbst. Der Begriff „politischer Islam“ wird seit einigen Jahrzehnten vor allem in gesellschaftspolitischen Kontexten verwendet. Jedoch taucht er in den letzten Jahren viel öfter auf. Bezeichnungen wie „Salafisten“ oder „Dschihadisten“, „Islamisten“ u. ä., die jahrelang den Islamdiskurs dominiert haben, sind heutzutage uninteressant geworden. Nicht etwa, weil es sie nicht mehr geben würde, sondern, weil „die lautesten Warnrufe seit einiger Zeit einem anderen Feld gelten, nämlich dem politischen Islam“.[3]
Auch die Bedeutungskomponenten des Begriffs und sein Referenzbereich haben sich verschoben. Der „politische Islam“ ist zum Synonym für „Islamismus“ geworden, der fast ausschließlich auslandsbezogene Phänomene oder Strukturen bezeichnet. Aktuell bezieht sich der Begriff „politischer Islam“ meist deutlich fokussierter auf ein Phänomen, „das maßgeblich Deutschland und Europa betrifft. Und das oft mit den Aktivitäten institutionell organisierter Muslime in diesen Ländern zusammenhängt – der sogenannten Islamverbände“.[4] Der politische Islam bezieht in seinem neuen Referenzbereich Gruppen und Intuitionen mit ein, die man mit Begriffen wie „Salafisten“, „Islamisten“, „Dschihadisten“ nicht einzuschließen vermag. Den Begriff unscharf zu halten, begünstigt dabei, dass mehrere Gruppen bzw. Intuitionen mit dem Begriff miteinbezogen werden können.[5]
Der Begriffskarriere des „politischen Islam“ begann, wollte man ein Datum nennen, mit dem CSU-Parteitag im November 2016. Dort wurde er als „die größte Herausforderung unserer Zeit“ bezeichnet. In einem Interview in „DIE ZEIT“ im November 2016 bemängelt die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer den Einsatz des Begriffs, weil ihm „jede Trennschärfe fehlt.“ Die Verwendung, so Krämer, „subsumiert unter diesem Begriff, wie es scheint, alles, was ihr am Islam und bestimmten Muslimen irgendwie anstößig erscheint – von der Forderung nach getrennten Badezeiten für Frauen in öffentlichen Schwimmbädern über die Höhe von Minaretten auf deutschem Boden bis zur terroristischen Gewalt von Boko Haram in Nigeria und den nationalistischen Umtrieben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. In dieser Vagheit wird der Begriff völlig unbrauchbar. Hier wird ein Monster kreiert, das überall und nirgends ist.“[6]
Die neuen Definitionsversuche des Begriffs „politischer Islam“ werfen unterschiedliche Fragen auf. Der Islamwissenschaftler Rüdiger Lohlker kritisiert das Heranziehen des Begriffs in der Öffentlichkeit ohne klare Grenzen: „Ich hab versucht, es zu definieren, aber ich kann nur sagen, es gibt keine taugliche Definition, denn was soll politischer Islam sein?“.[7] Prof. Lohlker hebt die inhaltlichen Aspekte des Begriffs vor und schlägt vor, den Begriff nach den klaren inhaltlichen Bedeutungsaspekten zu definieren: „Ist das demokratischer Islam? Das wäre mir sehr lieb. Aber darüber wird nicht gesprochen. Wenn wir nur sagen, politischer Islam ist etwas Extremistisches, dann sollten wir vielleicht von extremistischem Islam sprechen und nicht von politischem Islam.“[8]
Nach dem Terroranschlag in Wien im November 2020 kündigte der österreichische Kanzler Sebastian Kurz an, dass seine Regierung einen Straftatbestand „politischer Islam“ einzuführen plant, „um gegen diejenigen vorgehen zu können, die selbst keine Terroristen sind, aber den Nährboden für solche schaffen“. Hier wird eine direkte Verbindung zwischen Terror und „politischem Islam“ hergestellt. Wichtig zu erwähnen ist, dass die österreichische Regierung im Sommer 2020, also einige Monate vor dem Angriff, die „Dokumentationsstelle ‚Politischer Islam‘“ gegründet hatte. Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der „Dokumentationsstelle“ ist der bekannte liberale Theologe Mouhanad Khorchide.
Der von der österreichischen Regierung geplante Straftatbestand „politischer Islam“ wurde zu Recht heftig kritisiert. Prof. Lohlker fragt dazu: „Ich weiß nicht, wie man das vor Gericht halten soll. Wenn ich einen Terroristen habe und einen Propagandisten, der bestimmte Ideen vertritt, wie kann ich das vor Gericht mit demselben Straftatbestand angehen?“[9] Mit dem geplanten Tatbestand könnten demzufolge nicht Taten betraft werden, sondern auch Gedanken. Für diese Vagheit passt der Begriff politischer Islam gut, „der keine Erfindung von Sebastian Kurz ist, der aber seit einigen Jahren trotz aller Kritik eine beeindruckende Karriere hingelegt hat.“[10]
In Deutschland wird der „politische Islam“ „ausschließlich auf der Grundlage der problematischsten Aspekte islamischer politischer Betätigung“[11] bestimmt. In ihrem Buch „Politischer Islam. Stresstest für Deutschland“ schreibt die Ethnologin Susanne Schröter, der Begriff ziele auf „die totalitäre Umgestaltung des Politischen“ und „die Unterwerfung von Gesellschaft, Kultur, Politik und Recht islamistischen Normen“.[12] Unter dem Titel „Der politische Islam gehört nicht zu Deutschland“ erschien 2019 ein Sammelband der Unionspolitiker Winfried Bausback und Carsten Linnemann. Laut den beiden Politikern umfasse der „politische Islam“ „die radikalen Ausprägungen, die den westlichen Lebensstil zum Feindbild erheben und unsere freiheitlich-demokratische Rechtsordnung zu unterlaufen suchen“.[13] In beiden Fällen wird eine voranstehende Gefahr suggeriert, die gestoppt werden müsse.
In Verbindung mit dem „politischen Islam“ wird oft der Gedanke eines Systemumsturzes verkündet, der angeblich angestrebt, aber gleichzeitig das geheime Ziel der politischen Teilhabe sei. In vielen Textstellen finden wir Wörter wie „unterwandern“, „umgestalten“, „unterlaufen“, „Deckmantel“, „Parallelgesellschaften“, die dieses Deutungsmuster deutlich machen. Diesem Vorwurf nach errichteten manche islamische Gemeinschaften „eine Fassade“, die man „enttarnen“ müsse.[14] Die Stoßrichtung dabei ist, so der Islamwissenschaftler Christian Meier, „stark kritisch bis alarmistisch“. Der „politische Islam“ werde radikal etwa mit Blick auf islamische Organisationen „häufig unsauber verwendet“[15], so die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer.
Dass der Begriff inhaltlich für alles Mögliche offen ist, also von der AKP in der Türkei bis al-Qaida, kritisiert Prof. Lohlker. Überhaupt betrachtet Lohlker den Umgang mit dem Begriff „politischer Islam“ in der Öffentlichkeit sehr kritisch, denn „der politische Islam wird uns in den Ring geworfen und wir schauen, was es für eine Definition nachher dafür geben mag“[16] Auf der anderen Seite definiert der Münsteraner Theologe Mouhanad Khorchide den „politischen Islam“ als „Herrschaftssystem“[17], also als „eine menschenfeindliche Ideologie, die die Herrschaft im Namen des Islam anstrebt.“[18] Dabei diene die Religion als „ein Mittel, um Gläubige zu manipulieren.“[19] Khourchide schafft aus dem Gespenst des „politischen Islam“ eine reale Bedrohung, „der sich gegen uns alle“ richte und „viel gefährlicher als der Jihadismus und Salafismus“ sei, „weil er viel subtiler, nämlich in Krawatte und Anzug, auftritt.“[20]
Hier sieht man, dass der Referenzbereich des Begriffs vage ist. Denn, dass man sich politisch engagiert, um in die Macht zu kommen, ist niemals eine menschenfeindliche Ideologie. Außerdem scheinen mir Khorchides Definitionsversuche und Deutungsmuster eher auf auslandsbezogene Phänomene zurückzugehen, die sich auf anderen muslimischen Ländern und Strukturen beziehen als auf die Situation in Europa, natürlich auch mit den dort verwendeten negativen Konnotationen.
Der Arabische Frühling 2011 war ein Hochpunkt islamisch orientierter Parteien und Gruppierungen, von denen manche auch politische Erfolge verbuchen konnten. Ausgehend davon die Behauptung aufzustellen, dass sich die muslimische Minderheit in Europa genauso verhält, um die Gesellschaften zu „unterwandern“ ist meines Erachtens völlig fehl am Platz. Eine solche Sichtweise kriminalisiert jedwedes politische Engagement muslimischer Bürger und stellt alle Muslime unter Generalverdacht.
Dass die Ereignisse in der arabischen Welt und die Tatsache, dass Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate seit dem Arabischen Frühling sich klar gegen den „politischen Islam“ positioniert haben, die Situation in einzelnen europäischen Ländern beeinflusst hat, kann hier nicht bestätigt werden. Was aber auffällt, ist die Ähnlichkeit in der Wortwahl, den Definitionsversuchen, der Vorgehensweise und letztendlich auch den Organisationen, die bei diesen Diskussionen im Visier stehen. Die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse und der Beginn der neuen Karriere des Begriffs „politischer Islam“ im Jahr 2016 könnte ein Hinweis darauf sein.
Interessant ist auch, dass die Vereinigten Arabischen Emirate am 16. Mai 2014 eine Liste mit aus ihrer Sicht terroristischen Organisationen veröffentlicht hat. Auf der Liste stehen auch einige islamische Organisationen aus Europa. 2017 plädiert der Toleranzminister der Emirate, Scheich Nahjan bin Mubarak Al Nahjan, für „schärfere Moscheekontrollen in Deutschland“,[21] denn der Grund für „islamistische“ Angriffe in Deutschland sei „die nachlässige Kontrolle von Moscheen in Europa“. Der Minister appelliert an die europäischen Regierungen, „dass auch in Europa etwas passieren muss“. Die Länder auf dem Kontinent hätten es gut gemeint, als sie „diesen Leuten“ erlaubten, ihre eigenen Moscheen und ihre eigenen Gemeindezentren zu betreiben. Doch religiöse Führer müssten ausgebildet sein, sich mit dem Islam auskennen und eine Lizenz haben“.[22]
Wer „diese Leute“ genau sind, wieso die Emirate solche negativen Narrative gegen muslimische Bürger und Organisationen in Europa schürt und ob dieses „etwas“ schon passiert ist, bleibt unklar. Genauso wie der Begriff „politischer Islam“. Denn es scheint, es ist nicht so wichtig, was der Begriff bedeutet, wichtiger ist, was man damit macht bzw. machen kann.
[1] Kölner Stadtanzeiger, 21.06.2007
[2] Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 06.06.2007
[3] Vgl. Christian Meier, „Was ist eigentlich ‚politischer Islam‘?“, FAZ, 16.01.20211
[4] Christian Meier, „Was ist eigentlich ‚politischer Islam‘?“, FAZ, 16.01.2021
[5] Vgl. Ali Mete, „Der ‚politische Islam‘ – ein Kampfbegriff“, https://www.islamiq.de/2019/06/23/politische-islam-ein-kampfbegriff/
[6] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-11/politischer-islam-csu-parteitag-leitantrag
[7] Interview mit Prof. Lohlker in der ZIB Nacht vom 11.11.2020, https://www.youtube.com/watch?v=eo0ZZfbsIh8
[8] Ebenda
[9] Ebenda
[10] Hannes Leitlein, FAZ, 16.11.2020
[11] Vgl. Christian Meier, „Was ist eigentlich ‚politischer Islam‘?“, FAZ, 16.01.2021
[12] Ebenda
[13] Ebenda
[14] Hannes Leitlein, FAZ, 16.11.2020
[15] Vgl. Christian Meier, „Was ist eigentlich ‚politischer Islam‘?“, FAZ, 16.01.2021
[16] Interview mit Prof. Lohlker in der ZIB Nacht vom 11.11.2020, https://www.youtube.com/watch?v=eo0ZZfbsIh8
[17]https://www.domradio.de/themen/islam-und-kirche/2020-09-18/neue-wiener-dokumentationsstelle-legt-finger-die-wunde-theologe-khorchide-ueber-die-gefahr-des
[18] https://www.derstandard.at/story/2000118871137/islamtheologe-khorchide-politischer-islam-viel-gefaehrlicher-als-jihadismus
[19] Ebenda
[20] Ebenda
[21] https://www.tagesspiegel.de/politik/islam-in-europa-emiratischer-minister-fuer-schaerfere-moschee-kontrollen-in-deutschland/20579176.html
[22]https://www.tagesspiegel.de/politik/islam-in-europa-emiratischer-minister-fuer-schaerfere-moschee-kontrollen-in-deutschland/20579176.html