In seinem Buch „Goethe und der Koran“ zeigt der Theologe Karl-Josef Kuschel die Bedeutung von Goethes Islambild auf. Eine Rezension von Stefan Weidner.
Seit ziemlich genau zwanzig Jahren ist Goethes „West-östlicher Divan“ das Buch der Stunde. Wer nach den Terroranschlägen in New York und Washington am 11. September 2001 danach fragte, welchen gemeinsamen Nenner es zwischen „Islam“ und „Westen“ nun noch geben könne, stieß unweigerlich auf Goethes 1819 erschienene Gedichtsammlung — nichts anderes bedeutet „Divan“.
Zwar waren bereits in den Neunzigerjahren mehrere hochkarätige, gründlich kommentierte Neuausgaben erschienen (von Katharina Mommsen und von Hendrik Birus). Dennoch galt Goethes umfangreichster (und einziger von ihm selbst zum Buch zusammengestellter) Gedichtzyklus lange als Geheimtipp.
Einem breiteren Publikum blieben die Texte mit ihrem Islambezug fremd, obwohl Goethe zu „Besserem Verständnis“ einen über 150 Seiten starken Prosateil angehängt hat: eine veritable Literatur- und Kulturgeschichte des Islams aus der Feder eines begeisterten orientalisierenden Laien.
Auslöser für diesen Kreativitätsschub war Goethes Begegnung mit der Poesie des Persers Mohammed Schemsed-din Hafis, der im vierzehnten Jahrhundert in Shiraz lebte. Der österreichische Orientalist Hammer-Purgstall hatte dessen „Diwan“ 1814 erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt. Goethe beschreibt die ungeheure Wirkung der Gedichte von Hafis so: „Ich musste mich dagegen produktiv verhalten, weil ich sonst vor der mächtigen Erscheinung nicht hätte bestehen können“. Der Theologe Karl-Josef Kuschel nennt diesen Moment im vorliegenden Buch völlig zurecht „Eine Sternstunde der Weltliteratur“.
Hafis gilt als Höhepunkt einer mehrhundertjährigen Tradition formstrenger, unter dem Namen „Gasel“ überlieferter Dichtkunst. Ihr Ursprung liegt in der arabischen Liebesdichtung, die mystisch überhöht wurde und sich bis heute in vielen Islamsprachen findet. Die besondere Kunst von Hafis besteht darin, die weltliche und die religiöse Ebene so zu mischen, dass sich jede Eindeutigkeit verliert und beide Ebenen ineinander übergehen. Der oder die Geliebte könnte Gott sein, der Weinrausch die religiöse Ekstase meinen, sie müssen es aber nicht. Goethe war der erste bedeutende europäische Literat, der begriff, dass Hafis ein Dichter von Weltrang ist, auf einer Stufe mit Shakespeare, Dante, Homer.
Das ausführlich kommentierte, prachtvoll illustrierte Lesebuch zu „Goethe und der Koran“, dass der Tübinger Emeritus Karl-Josef Kuschel jetzt herausgebracht hat, findet sein Material vor allem in den Gedichten des „Divan“, umgibt und erläutert diese aber sinnvoll mit Texten und Zeugnissen aus anderen Schaffensphasen. Goethes Auseinandersetzung mit dem Islam zieht sich durch sein gesamtes Leben, mit Höhepunkten im Frühwerk und im Alter.
Kuschel beginnt mit Goethes Exzerpten einer Koran-Übersetzung und den Fragmenten des geplanten Muhammad-Dramas, das den Religionsstifter des Islams im Kontext von Geniekult und Sturm und Drang versteht. Damit wollte Goethe einen radikal anderen Akzent setzten als Voltaire, dessen „Mahomet“-Tragödie eine gezielte Verleumdung des Propheten als gewissenlosem Betrüger auf die europäischen Bühnen brachte.
Auch Goethe wollte Muhammad nicht idealisieren. Aber sah in ihm einen zeitlosen, von der jeweili-gen Kultur unabhängigen Konflikt zahlreicher religiöser Persönlichkeiten verkörpert: der zwischen moralischem Idealismus und innerweltlichen, politischen Zwängen, die jede reine Lehre kompromittieren. Es waren Konflikte, die Goethe bei seinen theologischen Freunden Lavater und Basedow selbst beobachten konnte, wie Kuschel herausarbeitet.
Als Herzog Carl-August 1799 von Goethe verlangte, er solle Voltaires „Mahomet“ in Weimar inszenieren, geriet er in eine Zwickmühle. Er löste sie, indem er das Stück selbst übersetzte und besonders verleumderische Passagen kürzte. Für den Geschmack des Ehepaars Herder in Weimar nicht genug: „Eine solche Versündigung gegen die Historie — er machte Mahomet zum groben, platten Betrüger, Mörder und Wollüstling — und gegen die Menschheit habe ich Goethe nie zugetraut“, schrieb Karoline Herder am 31.1. 1800 in ihr Tagebuch.
Anders als Voltaires in seiner rabiaten, mit ihren Gegnern derb umgehenden Art konnte Herder mit seinem am Werden und Vergehen der Natur orientierten Geschichtsbild Muhammad zugleich würdigen und kritisieren. „Sein Koran“, sagt Herder, „dies sonderbare Gemisch von Dichtkunst, Beredsamkeit, Unwissenheit, Klugheit und Anmaßung, ist ein Spiegel seiner Seele, der seine Gaben und Mängel, seine Neigungen und Fehler (…) klärer als irgendein anderer Koran eines Propheten zeiget.“
Als Goethe einige Jahre später Napoleon in Erfurt trifft, drängt sich ihm der Vergleich mit dem Propheten des Islams wieder auf. Napoleon, der übrigens auch nicht viel von Voltaires „Mahomet“ hielt, wirkte auf seine Zeitgenossen ebenso faszinierend und bedrohlich wie Muhammad auf die seinen. Am Ende ist es daher nicht Muhammad und der Islam als Religion, sondern Hafis und seine Dichtung, die Goethe eine Identifikation mit dem „Orient“ erlauben. Was Goethe anzieht, ist nicht das dogmatische, sondern das spirituelle Verständnis der Religion: „Närrisch, dass jeder in seinem Falle / Seine besondere Meinung preist“ / Wenn Islam Gott ergeben heißt /im Islam sterben wir alle.“
Karl-Josef Kuschel, der sich intensiv in Hans Küngs „Stiftung Weltethos“ engagiert hat, arbeitet die kosmopolitischen Aspekte des Islams, die Goethe so angezogen haben, nachvollziehbar heraus. Hafis ist der bedeutendste Vertreter dieser Tendenz in seinem Kulturraum, und Goethe, der seinen Pantheismus von Spinoza hat, kann beinah nahtlos daran anschließen.
Wie heute gern übersehen wird, war der Islam vor dem Kolonialzeitalter geografisch viel weiterverbreitet als das Christentum. Noch zu Goethes Lebzeiten wurden die Gedichte von Hafis sowohl in Sarajevo wie auch in Istanbul und Delhi rezitiert und nachgeahmt. Sie waren Teil der tausendjährigen Tradition des „persischsprachigen literarischen Humanismus“, wie der iranisch-amerikanische Islamwissenschaftler Hamid Dabashi diese Kultur in seinem gleichnamigen Buch von 2012 genannt hat.
Damit ist auch Goethes „Divan“ nicht nur ein Stück west-östlicher Kulturgeschichte, sondern eine Vorlage für Gegenwart und Zukunft in einer Weltgesellschaft, deren Schicksal sich in der Globalisierung entscheidet. Deren Anfänge liegen in der Goethezeit und manifestierten sich im damals anheben-den Kolonialismus ebenso wie in Napoleons Ägyptenfeldzug. Die innerweltliche Entfremdung und Entheimatung, die mit dieser Globalisierung einherging, hatte die Kultur des Islams aber schon früher erfahren, wovon die das Tragische daran erkennende und reflektierende Dichtung von Hafis zeugt.
Der pakistanische Kalligraf und Künstler Shahid Alam hat Goethes Gedichte in arabischer Übersetzung durch großformatige, farbenfrohe Kalligrafien illustriert, die im Buch abgebildet sind. Ihre Stimmung ähnelt den Gemälden Chagalls, nur dass diese muslimische Spielart ihre Lebendigkeit nicht aus bewegten Gestalten, sondern von schwungvollen Schriftzügen erhält. Man betrachtet sie gern und erinnert sich an Goethes Einsicht, dass „in keiner Sprache Wort, Geist und Schrift so uranfänglich zusammengekörpert“ sind wie im Arabischen.