Eın Jahr nach Hanau

„Mein Bruder fiel dem Rassismus zum Opfer“

Fatih Saraçoğlu wurde am 19. Februar 2020 in Hanau ermordet. Sein Bruder Hayrettin Saraçoğlu meint: Es reicht nicht, zu sagen, man sei kein Rassist. Ein Gespräch über den Verlust und Forderungen.

19
08
2021
Hayrettin Saraçoğlu
Hayrettin mit seinem ermordeten Bruder Fatih Saraçoğlu

IslamiQ: Es fällt Ihnen bestimmt sehr schwer, über Ihren Bruder und den Angriff in Hanau zu sprechen. Wie fühlen Sie sich heute, fast ein Jahr nach der Tat?

Hayrettin Saraçoğlu: Das vergangene Jahr war für uns sehr schmerzhaft und hat uns als Familie viel Kraft gekostet. Es gibt eine große Leere in unserem Leben. Ich vermisse meinen Bruder sehr. Ich warte immer noch auf seinen Anruf. Manchmal habe ich das Gefühl, als würde er mich gleich anrufen. Ich kann immer noch nicht glauben, dass er tot ist. Auch ein Jahr nach dem Anschlag trauern wir weiter um ihn. Aufgrund meiner Depression musste ich mich therapieren lassen. Es gab Zeiten, in denen ich ins Krankenhaus musste, und ich mich in einem langen Tunnel ohne Licht wiederfand. Ich habe meinen Bruder verloren, bin vom sozialen Leben getrennt und kann nicht mehr zur Arbeit gehen. Ich wünschte, ich könnte wieder genesen, doch diese Kraft habe ich nicht.

Fatih war mein einziger Bruder, er war jünger als ich. Mein Vater ist 75 Jahre alt, ich bin 44 Jahre alt. Niemand kommt auf den Gedanken, dass sein jüngster Bruder vor ihm sterben wird. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an meinen Bruder denke.

IslamiQ: Ihr Bruder ist von Regensburg nach Hanau gezogen, um seine eigene Firma zu gründen. Können Sie ein wenig über diesen Weg sprechen?

Saraçoğlu: Fatih lebte in Regensburg. Er hat mich um Rat gebeten, als er vorhatte, nach Frankfurt zu ziehen, um seine eigene Firma zu gründen. Ich überließ ihm die Entscheidung. Hätte ich doch nur gesagt: „Bleib hier. Dein Leben, deine Familie ist hier. Was willst du in Frankfurt?“ Einerseits gebe ich mir die Schuld, dass ich ihn nicht aufgehalten habe, andererseits fühle ich tiefe Trauer und Wut in mir. Seine Firma gründete er unter großen Schwierigkeiten. Einige Tage vor dem Angriff haben wir telefoniert. Er erzählte mir voller Stolz und Freude, dass es nun bergauf ginge mit seiner Firma. „Wenn es so weitergeht, wird alles noch viel schöner sein inschallah“, sagte er am Telefon.

Eine Woche vor dem Angriff lief eine Reportage über seine Firma im Fernsehen. Eine Woche später fiel mein Bruder dem Rassismus zum Opfer. Der Attentäter griff die Menschen im Midnight-Café an. Fatih war nicht in diesem Café. Mein Bruder hat seinen Kollegen nebenan im Hotel abgesetzt. Während er sich verabschiedete, kam der Attentäter und erschoss meinen Bruder. Vielleicht wäre er noch am Leben, wenn er ein paar Sekunden länger an einer Ampel gewartet hätte oder er sich beeilt hätte. Wie kann jemand eine Person, die er nicht mal kennt und die ihm in keiner Weise Schaden zugefügt hat, so brutal erschießen?

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IslamiQ: Wie war ihr Bruder? Können Sie uns etwas über ihn erzählen?

Saraçoğlu: Fatih war ein sehr freundlicher und beliebter Junge in seinem breiten Umfeld. Er war fleißig. Er liebte Sport. Er war zertifizierter Boxer in Regensburg und boxte auch im Ring. Das gefiel uns nicht so sehr, wir wollten nicht, dass er in den Ring steigt. Wir hatten Angst, dass er Schläge auf die Nase bekommen könnte. Doch er ließ sich nicht davon abbringen und wollte unbedingt die Atmosphäre im Ring erleben. Er war so ein Kind, mein Bruder. Er wollte alles ausprobieren, was er sich vorgenommen hatte. Fatih, war gutaussehend, groß und tapfer. Wenn er vorbeikam, sagten die Leute „Maschallah“, er war so ein tapferer Junge. Er war mutig, aber eben auch sehr weichherzig. Er konnte nicht einmal einer Ameise etwas tun. Auch wenn er die Kraft dazu hätte, würde er niemanden verletzen. Er war ein eigenständiger junger Mann, der sich auf seine Arbeit konzentrierte.

Unsere Mutter ist vor einigen Jahren verstorben, unser Vater lebt allein. Fatih hatte in den letzten zwei Jahren angefangen, meinem Vater zu helfen. Er bezahlte seine Miete, teilte seine Freude oder seine Trauer.

IslamiQ: Wie haben Sie von dem Angriff erfahren? Wie haben Sie und Ihre Familie die Zeit nach dem Anschlag erlebt?

Saraçoğlu: Wir wussten nichts über den Angriff in der Nacht des 19. Februar. Ich bin morgens aufgewacht und habe mich für die Arbeit vorbereitet. Als ich gegen 9 Uhr aus dem Haus ging, klingelte mein Telefon. Fatihs Telefonnummer stand auf dem Display. Als ich den Hörer abnahm, hörte ich die Stimme seiner Verlobten am anderen Ende. Sie fing an zu weinen. Meine erste Frage lautete: „Lebt mein Bruder?“, sie antwortete: „Er lebt, bitte komm her.“ Nachts wurde niemand darüber informiert, ob Fatih überhaupt noch lebte. Ich holte sofort meinen Vater ab und machte mich auf den Weg nach Frankfurt. Dort angekommen wollte ich meinen Bruder sehen. Man sagte mir: „Gehen wir rein und unterhalten uns.“ Ich verneinte: „Ich möchte meinen Bruder sehen.“ Wir gingen in Fatihs Küche. Meine Beine zitterten. Ich dachte mir: „Okey, mein Bruder ist tot.“ Dann fand ich mich auf dem Küchenboden wieder.

Wir konnten meinen Bruder eine Woche lang nicht sehen. Sie bewahrten auch die anderen acht Menschen, die bei dem Angriff ihr Leben verloren haben, in der Leichenhalle auf. Während dieser sieben Tage herrschte Chaos bei uns. Wir haben kein Auge zubekommen. Erst am siebten Tag nach seiner Ermordung konnten wir meinen Bruder mitnehmen. Ich wollte ihn in die Türkei bringen und ihn neben meiner Mutter beerdigen. Ich wollte ihn nicht in Deutschland lassen. Wir haben meinen Bruder am Dienstag empfangen, und ihn am Mittwoch, dem Tag, an dem die drei gesegneten Monate begannen, in Çorum begraben. Der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, begrüßte uns, und auch der Präsident für religiöse Angelegenheiten war da. Viele Beamte und Offiziere begleiteten das Trauergebet und teilten unseren Schmerz.

Auch in Deutschland fand eine Gedenkfeier statt, an der auch Bundeskanzlerin Angela Merkel teilnahm. Man erklärte uns, dass man unseren Schmerz teile, dass ihnen leidtue, was passiert war, dass man uns unterstützte und dass man diesen Vorfall verurteile. In den ersten sieben Tagen haben uns die Delegation des Generalkonsulats in Frankfurt, Abgeordnete aus der Türkei und viele Menschen unterstützt. Ich möchte mich bei ihnen für diese moralische Unterstützung bedanken.

IslamiQ: Nach dem Anschlag hat die Bundesregierung im Kampf gegen Rassismus entschlossener gehandelt. Hat diese Entschlossenheit Ihren Schmerzen lindern können?

Saraçoğlu: Der rassistische Angriff in Hanau ist nicht nur ein kleiner Vorfall, der die Familien derer betrifft, die dort ihr Leben verloren haben. Das ist ein Thema, das den Staat direkt betrifft. Rassismus und Rechtsextremismus sind schließlich Probleme, die Deutschland auch aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs kennt. Auch die deutsche Regierung hat offen erklärt, dass sie entschlossen ist, Rassismus zu bekämpfen.

IslamiQ: Die Internetseite und Videos des Täters zeigen, dass er ein Rassist und Verschwörungstheoretiker war. Es wird aber auch behauptet, dass er psychische Probleme gehabt hatte. Was denken Sie darüber?

Saraçoğlu: Er ermordete junge, unschuldige und wehrlose Menschen. Ich glaube nicht, dass diese Person psychische Probleme hatte. Für mich ist er ein Terrorist. Er plante alles bis ins kleinste Detail. Er wusste genau, was er tut und auf wen er schießen will. Er schoss bewusst auf „Fremde“. Dieser Mann war ein Terrorist, ein Mörder.

IslamiQ: Was erwarten Sie nach dem Angriff von den Sicherheitsbehörden? Bei welchen Themen wurden Sie enttäuscht?

Saraçoğlu: Meine einzige Erwartung ist, dass sie sich gegen Rassismus stellen. Es muss immer und immer wieder deutlich gemacht werden, wie gefährlich Faschismus und Rassismus sind. Es gibt Milliarden Menschen auf dieser Erde, niemand ist dem anderen höhergestellt. Es reicht nicht zu sagen „Ich bin kein Rassist“. Jeder sollte den aktiven Kampf gegen Rassismus unterstützen.

IslamiQ: Denken Sie, dass der Angriff gänzlich aufgeklärt wird?

Saraçoğlu: Es gibt viele offene Fragen. Wir werden uns bemühen, Antworten auf diese Fragen zu bekommen. Zum Beispiel war der Terrorist jemand, der Briefe an die Polizei schrieb und Verschwörungstheorien aufstellte. Wie kam ein solcher Mensch an eine Waffe? Wie kam es soweit, dass dieser Mann neun Menschen, 11 mit sich und seiner Mutter, töten konnte? Wie hat er diesen Plan geschmiedet und umgesetzt? Warum hat er diese Tatorte ausgewählt? Woher wusste er, dass diese Leute in dieser Gegend lebten? Ich schulde meinem Bruder eines, und zwar diesen Kampf fortzusetzen, bis all unsere Fragen geklärt sind.

Das Interview führte Elif Zehra Kandemir.

Leserkommentare

Johannes Disch sagt:
Man glaubt also nicht, dass der Attentäter psychische Probleme hatte. Man glaubt an einen rechtextremistischen Hintergrund. Beim Attentäter aus Somalia, ein Flüchtling, der in Würzburg kürzlich Frauen und Kinder abschlachtete und dabei Allahu Akbar" rief, konnte "islamiq" gar nicht schnell genug vermelden, dass es es sich um keinen islamistischen Anschlag handelt, sondern dass der Attentäter psychische Probleme hatte. Die übliche Doppelzüngigkeit, die man von dieser Seite hier kennt. Der somalische Flüchtling, der die Tat von Würzburg beging, war ein Islamist. So viel weiß man inzwischen.
22.08.21
14:42
Ethiker sagt:
Feindbild Islam: Erwünschte Begriffe: Zusammenbringen und Standardisierung von Islam bzw. Islamismus mit Terrorismus, Unterdrückung der Frau, Grausamkeit der Sharia, Bildungsfeindlichkeit und Freiheitsfeindlichkeit im Islam, Rückschrittlichkeit, Problembezirke, Ghettiosierung Unerwünschte Begriffe: Waffenindustrie, Kolonialisierung, ökonomischer Imperialismus, Ökonomische Unfreiheit islamischer Akteure, Externe Nachfrage- Generierung und Bedarfgenerieung in Islamischen Regionen (Marktschaffung), kultureller Rassismus und tradierter Islamhass Flucht und Vertreibung, Invasionen mit Krieg und Millionen Tote und Traumatisierte.
29.08.21
17:57
Johannes Disch sagt:
@Ethiker (29.08.2021, 17:57) Na, diese Zusammenhänge hinsichtlich des Zustands der islamischen Weltstimmen ja auch. Imperialismus, Kolonialismus, ökonpomische Ungleichheit, der angebklich ach so böse Westen:das sind bequeme Ausreden. Die aktuellen Probleme der islamischen Welt sind primär selbst verschuldet.
02.09.21
13:06