Der längste Krieg des 21. Jahrhunderts endet nach 20 Jahren unerwartet. Im IslamiQ-Interview sprechen wir mit Autor Emran Feroz über die Auswirkungen des Krieges in Afghanistan und wie sich Muslime dazu positionieren können.
IslamiQ: Aufgrund der aktuellen Situation in Afghanistan wird erneut über einen möglichen Anstieg der Flüchtlingszahlen diskutiert. CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet sagt: „2015 darf sich nicht wiederholen“. Wie sehen Sie das?
Emran Feroz: Anscheinend hat die Politik hier den Fokus lediglich auf dieses Szenario gelegt, dass sich 2015 nicht wiederholen darf. Das ist sehr bedauerlich und skandalös, wie hier vorgegangen wird. Auf Kosten afghanischer Menschen wird hier Wahlkampf betrieben. Denn bevor die Taliban Kabul erobert haben, fanden noch Abschiebeflüge nach Afghanistan statt. So wurde das afghanische Flüchtlingsministerium seitens der deutschen Botschaft unter Druck gesetzt, damit sie abgeschobene Afghanen aufnehmen sollen, weil im Herbst in Deutschland gewählt wird. Außerdem sehen wir, wie in den letzten Tagen in Sachen Luftbrücke mit Kalkül gehandelt wurde und Menschen bewusst zurückgelassen wurden.
IslamiQ: Wie würden Sie die aktuelle Lage in Afghanistan beschreiben? Welche Rolle spielt dabei die internationale Politik, allen voran die USA und Deutschland?
Feroz: Aktuell wird das gesamte Land, bis auf einige kleinen Provinzen, von den Taliban kontrolliert. Die Rolle der internationalen Politik lässt sich schwer zusammenfassen. Afghanistan war schon seit dem 19. Jahrhundert ein geopolitisches Schachbrett, wo die Staaten auf je unterschiedliche Akteure gesetzt haben. Viele regionale Staaten hatten sich im Vorfeld den Taliban genähert und sie dadurch legitimiert, bevor im Frühling 2020 das Abzugsabkommen zwischen den USA und der Taliban unterzeichnet wurde. Allen voran China, Iran, Pakistan und Russland.
Bei den Gesprächen mit den Taliban hat auch Deutschland immer wieder eine diplomatische Rolle gespielt. Rückblickend kann gesagt werden, dass die damalige Situation zur heutigen geführt hat, weil die Taliban international sehr aktiv war und sich erfolgreicher repräsentierte, als die afghanische Regierung.
IslamiQ: Die Taliban hat in kurzer Zeit große Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht – ohne nennenswerte Gegenwehr der afghanischen Armee. War diese Machtübernahme in dieser Form und in diesem Tempo vorhersehbar?
Feroz: Bis auf den Anschlag in Kabul war alles vorhersehbar. Der war tatsächlich überraschend. Denn kurz vor dem Anschlag in Kabul hieß es seitens der CIA, dass alles in 30 bis 90 Tagen passieren würde. Am Ende waren es nur 24 Stunden. Seit Jahren hatte die Taliban sich schon um die Provinzstädte positioniert, ihre Parallelstrukturen aufgebaut und im Schatten agiert und regiert. Auch wenn diese Städte in der Vergangenheit mehrmals von der Taliban überrannt wurde und die Städte mittels massiver Luftangriffe seitens der Amerikaner wieder zurückerobert wurden, hielten sich die Taliban weiterhin um diese Städte auf. Das einzige was blieb, waren die vielen Zivilisten, die durch die Luftangriffe getötet wurden. Den Moment des Abzugs haben die Taliban dann genutzt und im Dominoeffekt alle Städte erobert. Dabei war auch die psychologische Kriegsführung für sie erfolgreich.
Berichten zufolge, waren es nur eine Handvoll Taliban-Kämpfer, die allein gewisse Regionen einnehmen konnten, weil die Sicherheitskräfte schon geflüchtet waren. Diese haben bereits in den vergangenen Jahren zehntausende Opfer gebracht. Den afghanischen Soldaten fehlte es oft an Munition, Nahrung und Trinkwasser. Aufgrund der Korruption im Land, die sich durch sämtliche Institutionen und den Sicherheitssektor zieht, haben sich Hochrangige des Militärs bereichert. Die einfachen Soldaten wurden für ihren Einsatz nicht entlohnt.
IslamiQ: Welche Konsequenzen können in Deutschland aus dem Afghanistan-Krieg gezogen werden?
Feroz: Ich denke, Deutschland müsste in erster Linie den Afghanistan-Krieg aufarbeiten. Die Bundeswehr hat sich in Afghanistan an Kriegsverbrechen beteiligt, doch das wird konsequent verdrängt. Ich möchte nur an den Luftangriff von Kundus im Jahr 2009 erinnern. Der damalige Oberst wurde mittlerweile zum General befördert. Er hat über 150 Zivilisten getötet. Weder die Hinterbliebenen wurden entschädigt, noch wurde der Befehlsgeber strafrechtlich verfolgt. Es ist nur ein Fall von vielen, die in Afghanistan stattfanden, auch seitens der NATO-Truppen. Und vieles davon liegt noch im Dunkeln. Deutschland hat eine Mittäterrolle im Drohnenkrieg in Afghanistan, der seitens der Amerikaner geführt und über Ramstein koordiniert wurde. Durch diesen Krieg wurden sehr viele Zivilisten getötet. Die Art der Kriegsführung hat viele Menschen in den ländlichen Regionen Afghanistans in die Arme der Taliban getrieben.
Eine Lehre ist auch, das Werte nicht mit militärischer Gewalt aufgezwungen werden können. Es wirkt nicht glaubwürdig, wenn man sich mit fragwürdigen Akteuren verbindet, sich Menschenrechte, Frauenrechte etc. auf die Fahne schreibt, aber dann Verbrechen durchführt. Durch den Krieg in Afghanistan wurden viele Grundrechte zerstört und beiseitegedrängt. Wohin das geführt hat, sieht man jetzt.
IslamiQ: Wie können sich islamische Staaten und Organisationen in Deutschland zu Afganistan positionieren?
Feroz: Islamische Religionsgemeinschaften sollten sich in Deutschland in erster Linie nicht irgendwelchen staatlichen Narrativen bedienen, die in den letzten Jahren konstruiert wurden, um den Krieg gegen Terror zu rechtfertigen. Das betrifft Deutschland, aber auch Staaten wie die Türkei, Katar oder den Iran. Man sollte vielleicht gar keine Erklärung zum Thema Afghanistan abgeben, wenn man nicht gut genug informiert ist. Ich denke, dass viele gar nicht verfolgt haben, was in den letzten Jahren in Afghanistan passiert ist und man da schnell Etwas nachplappert, was man woanders aufgeschnappt hat. So etwas könnte dann eher destruktiv sein als konstruktiv.
IslamiQ: In ihrem Buch beschreiben Sie den Krieg aus afghanischer Perspektive. Wie haben die Menschen in Afghanistan die letzten 20 Jahre erlebt? Und wie sieht ihre Zukunft aus?
Feroz: Ich schreibe in meinem Buch aus der afghanischen Perspektive, jedoch in dem Bewusstsein, dass es nicht „die“ afghanische Perspektive gibt, so wie es eben nicht „die“ Afghanen gibt. Afghanistan ist ein sehr heterogenes Land und es gibt eben sehr viele verschiedene Meinungen und deshalb auch verschiedene Erfahrungen, die die Menschen in den letzten 20 Jahren gemacht haben. Als das Taliban-Regime 2001 gestürzt wurde, gab es in Kabul Menschen, die gefeiert haben, die die Burka abgelegt haben, die ihre Bärte rasiert haben, die zu Musik getanzt haben. Doch wurden in ländlichen Regionen Menschen auch willkürlich angegriffen, gejagt und ermordet, weil man sie für Mitglieder der Taliban hielt. So unterschiedlich waren die Erfahrungen der Betroffenen in den letzten 20 Jahren.
Die Zukunft der Menschen in Afghanistan sieht unsicher aus. Viele Menschen möchten flüchten, weitere werden bleiben müssen. Deshalb hoffen sie, dass kein weiterer Krieg ausbricht, die wirtschaftliche Situation nicht komplett zusammenbricht und sie mit Sanktionen überzogen werden. Nicht jeder, der das Land verlassen möchte, will nach Europa. Viele wird es nach Pakistan oder in den Iran ziehen, wo aktuell die meisten afghanischen Geflüchteten leben.
Die Taliban werden an die Macht zurückkehren, das steht außer Frage. Die Frage ist nur, ob sie an einer inklusiven Regierung interessiert sind oder nicht? Zurzeit spricht nicht viel dafür. In den nächsten Tagen werden sie ihre Regierungserklärung verkünden. Doch egal, wie es endet, viele Staaten müssen sich nun mit dem neuen Taliban-Regime abfinden müssen. Im Großen und Ganzen werden sich die Beziehungen zu den Taliban in Zukunft normalisieren. Die Frage ist nur, in welchem Ausmaß das ganze stattfinden wird. Ich denke, dass der Staat Afghanistan ohne finanzielle Hilfe nicht überlebensfähig ist. Sollte diese Hilfe gekürzt werden, würde damit allein die afghanische Bevölkerung bestraft, und nicht die Taliban.
IslamiQ: Der Krieg in Afghanistan galt als Reaktion auf die 9/11-Terroranschläge. Inwieweit hat der 20-Jahre alte Krieg das Islambild in der Gesellschaft geprägt?
Feroz: Der Krieg in Afghanistan galt als Reaktion auf die Terroranschläge, wobei kein einziger Afghane für diese Anschläge verantwortlich war. Am Ende wurde Osama bin Laden in Pakistan getötet. Das Dekonstruieren ist mir wichtig, da auch diese Kriegsgründe sehr problematisch waren. US-Präsident Bush und Verteidigungsminister Rumsfeld waren von Anfang an nicht an einer Auslieferung bin Ladens interessiert. Als die Taliban gestürzt waren und sich ergeben hatten, wollte man mit ihnen auch nicht verhandeln. Wäre es zu einer Verhandlung gekommen, hätten wir uns heute vieles erspart. Vor allem wären in Afghanistan nicht so viele Menschen getötet worden.
Das Islambild hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Eine persönliche Anekdote: Als die Anschläge des 11. Septembers stattfanden, war ich 9 Jahre alt und besuchte eine Grundschule in Innsbruck. Ich war der einzige Afghane in der Gegend und musste mich seitdem immer dafür rechtfertigen und erklären, dass Osama bin Laden kein Afghane war. Heute muss ich das immer noch. Meine Eltern und ich mussten Mobbing, Rassismus und Diskriminierung ertragen. Für Menschen mit afghanischen Wurzeln war das damals noch mal anders, weil Afghanistan für alles verantwortlich gemacht wurde. Viele Menschen im Westen wollten, dass Afghanistan bombardiert wird. Sie wollten, dass dort Menschen sterben und leiden. Sie verlangten Rache. All das hat dazu geführt, warum ich heute all das mache.
Viele Medien haben einen großen negativen Beitrag dazu geleistet, dass es dieses schlechte Islambild vorherrscht. Ich denke, viele sind sich des Schadens, den sie angerichtet haben, gar nicht bewusst und wissen auch nicht, dass dieser Schaden noch präsent ist.
Das Interview führte Muhammed Suiçmez.