Über die Folgen von 9/11 wurde viel diskutiert. Eine davon ist der „Krieg gegen den Terror“. Wie dieser die Stimmung in Deutschland verändert hat, schreibt Stefan Weidner.
Die von Osama Bin Laden und seiner Al-Qaida Organisation geplanten Anschläge in den USA haben destruktive gesellschaftliche Tendenzen verstärkt. Diese gab es in Europa und Nordamerika zwar seit langem, doch waren sie in den Jahrzehnten davor nicht dominant gewesen. Ich habe um das Jahr 2000 viel mit arabischen Dichtern zu tun gehabt, ihre Texte übersetzt, ihre Bücher herausgegeben und darüber geschrieben. Die Neugier in der deutschen Literaturszene war groß, die Rezeption freundlich, teils begeistert.
Nach 9/11 war das Interesse immer noch da, aber es hatte eine dunklere Färbung angenommen. Die arabischen Dichter wurden plötzlich nicht mehr nach ihrer Literatur gefragt, sondern nach ihrer Einschätzung des Islams. Die Literatur wurde mit den Augen des Antiterrorkampfes gelesen, wie ein Spion einen Bericht mit geheimen Informationen liest. Bis heute klagen viele Autoren aus der islamischen Welt über die Art, wie ihre Literatur gelesen wird: nicht als Literatur, sondern als Auskunft oder Rechenschaft über Gesellschaften und religiöse Traditionen, die unter Verdacht stehen.
Dass man Muslime nicht mehr als normale Mitbürger betrachtete, sondern religiös und politisch verdächtigte, geschah in fast allen Bereichen, auch im Alltag. Ahmad Miladi Karimi, muslimischer Theologe aus Münster, hat vor kurzem erzählt, wie er als junger Student nach 9/11 „islamisiert“, das heißt auf seine Religion reduziert wurde.[i] Er antwortete darauf, indem er Theologe wurde. Andere muslimische Autoren in Deutschland haben auf diese veränderte Sicht reagiert, indem sie die existierenden Vorurteile bedienten. Sie sind damit reicher geworden als die, die die Vorurteile bekämpft haben.
Anders gesagt: Die Nachfrage nach Vorurteilen, und das heißt danach, sich anderen überlegen zu fühlen, ist groß in Deutschland. Während vor zwanzig Jahren die meisten alteingesessenen Deutschen überhaupt keine dezidierte Meinung zum Islam hatten, wird er heute von mehr als der Hälfte der Bevölkerung als Bedrohung wahrgenommen, wie eine Bertelsmann-Studie von 2019 ergab.[ii] Diese Wahrnehmung ist aber nicht nur, wie man oberflächlich betrachtet denken könnte, ein Problem für die Muslime. Sie ist auch ein Problem für die, die den Islam so sehen. Ihr negativer Blick auf die Muslime prägt die Stimmung im Land insgesamt. Die Menschen verschließen sich voreinander, sind befangen im Umgang miteinander. Sie sind verunsichert, wie es vor zwanzig Jahren nicht der Fall war.
Natürlich gab es schon vor 9/11 in Deutschland islamfeindliche Einstellungen. Sie zeigten sich, als die große Orientalistin Annemarie Schimmel 1995 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekam. Sie hatte Verständnis für Muslime geäußert, die Salman Rushdies Roman „Satanische Verse“ für beleidigend hielten. Die Debatte um Rushdies Roman, die mit Ayatollah Khomeinis Todesfatwa gegen ihn, seine Verleger und seine Übersetzer 1989 begann, bot in den neunziger Jahren einen Vorgeschmack auf die Islamdebatten nach 9/11. Statt Ayatollah Khomeini oder die iranische Führung für die Fatwa zu verurteilen, wurden die Muslime insgesamt dafür verantwortlich gemacht — ganz so wie nach 9/11 alle Muslime oder „der Islam“ für die Mörder und Terroristen von 9/11 verantwortlich gemacht wurden.
Tatsächlich ist die islamfeindliche Grundhaltung vieler Deutscher seit 9/11 eine Wiederkehr des Antisemitismus der Vorkriegszeit, wie unter anderen der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz gezeigt hat[iii]. Auch historisch hängen Antisemitismus und Islamfeindschaft eng zusammen, denn im neunzehnten Jahrhundert wurden Araber und die Muslime insgesamt genauso wie die Juden als Semiten aufgefasst und abgewertet, wie man etwa bei dem französischen Orientalisten Ernest Renan (1823-1892) nachlesen kann.
Mit 9/11 wurde der alteingesessene Rassismus, der sich nun vor allem gegen Muslime richtete, im gesamten Westen wieder salonfähig. Den Vorwand dafür lieferte der Terror. Die Deutschen, die überzeugt waren, ihre Vergangenheit „bewältigt“ zu haben, waren dafür leider nicht weniger anfällig als andere Nationen. Aber in der Überzeugung, heute viel besser zu sein als zur Zeit der Naziherrschaft, tun sich schwerer als andere, den rassistischen, antisemitischen Charakter der „Islamkritik“ offen anzuerkennen.
Ich habe diese Entwicklung persönlich zu spüren bekommen. Auf Vortragsreisen und Lesungen tauchten häufig Leute auf, die stets die gleichen Vorurteile wiederholten. Oder die, wie man heute sagt, antiislamische „Talking-Points“ vorbrachten, als hätten sie sich miteinander abgesprochen. Tatsächlich hatten sich abgesprochen, und wenn nicht, hatten sie alle dieselben rechten, antiislamischen Webseiten gelesen. Für sie war (und bin) ich ein Verräter, da ich ihre Argumente widerlegt und die Islamkritiker angegriffen habe. Ich war von einem Verdacht umgeben, als würde ich eine Art „Takiya“ betreiben, weil ich einen sachlich fundierten Blick auf den Islam habe.
Es waren die Anfänge der politischen Strömungen, die schließlich in die AfD und die Pegida-Bewegung mündeten. Ihren ersten großen Triumph feierten sie, als mit kräftiger Hilfe der Bildzeitung Bundespräsident Christian Wulff (amt. 2010-2012) unter fadenscheinigen Vorwürfen zum Rücktritt gezwungen wurde. Sein Vergehen in den Augen der deutschen Rechtspopulisten und ihrer Medien hatte darin bestanden, in einer Rede festzustellen, dass der Islam zu Deutschland gehört.[iv]
Da die etablierten Parteien unter sich selbst bezüglich der Islamfrage gespalten waren — Islamophobie fand sich in allen Parteien, auch bei den Grünen, den Linken, der SPD — dauerte es bis 2013, dass mit der AfD eine größere Partei auftrat, die sich die kursierende Islamfeindschaft zu eigen machte. In der „Flüchtlingskrise“ von 2015 erlitt die antiislamische Bewegung zunächst eine große Niederlage: Die Flüchtenden wurden aufgenommen, ohne dass ihre Religion eine Rolle spielte. Mit der sogenannten „Kölner Silvesternacht“, deren Wahrnehmung von ausländerfeindlichen Aktivisten geprägt wurde, kippte die Stimmung[v]. Der alte, vordergründig „bewältigte“ Antisemitismus kehrte im Schafspelz vermeintlich rationaler, aufklärerischer „Islamkritik“ zurück.
Schon vor 9/11 gab es in Deutschland Anschläge auf Asylbewerberheime und rassistische Morde. Auch der sogenannte „NSU“ wurde bereits 1999 aktiv. Aber dass die NSU-Terroristen danach noch zwölf Jahre ihr Unwesen weitertreiben konnten, war ein Resultat von 9/11: Die deutschen Sicherheitsbehörden waren auf die Überwachung der Muslime fixiert und währenddessen auf dem rechten Auge blind geworden. Beispielhaft steht dafür der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen, der als CDU-Vertreter heute AfD-nahe Positionen vertritt. Er hat in seiner Amtszeit die Aufklärung des NSU-Skandals behindert.
Der Rechtspopulismus, der nicht zuletzt aufgrund seiner rassistischen antiislamischen Agenda großen Zulauf erhielt, hatte in anderen Ländern schwerwiegendere Folgen als in Deutschland: In den USA mit der Wahl Trumps, in Großbritannien mit der Brexit-Entscheidung, an der die Feindschaft gegen Flüchtlinge und Muslime einen großen Anteil hatte. Aber auch in Deutschland müssen wir uns der Tatsache stellen, dass es — sei es immer noch, sei es wieder —, Rassismus gibt, antimuslimischen und anderen. Wir müssen sehen, dass die berühmte deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ auf halben Weg stehen geblieben ist und statt zu einer nachhaltigen Selbstkritik zu einer weit verbreiteten Selbstgerechtigkeit in geführt hat.
Die Aufarbeitung des Kolonialismus, des deutschen ebenso wie des „westlichen“, weißen und europäischen, ist in der Folge 9/11 erst so richtig angestoßen worden. In Deutschland ist sie noch immer keine Selbstverständlichkeit, wie die vielen revisionistischen, antipostkolonialen Diskussionsbeiträge um das Humboldt-Forum in Berlin gezeigt haben. Aber die Gegenstimmen sind lauter geworden. Das Bedürfnis nach neuen, progressiven, post-rassistischen Perspektiven ist hörbarer geworden. Das zählt zu den positiven Effekten von 9/11.
Zugleich hat es heftige Debatten über „Identitätspolitik“ ausgelöst. Sie tragen zu einer Klärung der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Positionen bei, zeigen aber auch die tiefen Brüche innerhalb der Gesellschaft auf. Heute müssen sich die demokratischen Gesellschaften entscheiden, ob sie die alte, hegemoniale Politik weißer, westlicher Dominanz fortsetzen oder eine Politik für die Menschen in ihrer Diversität und für eine Zukunft in einer multiperspektivischen Welt machen wollen.
Angesichts all dieser Veränderungen fällt unseren Siebenschläfern auf, dass sich eine Sache seit den letzten zwanzig Jahren kaum geändert hat: der deutsche Provinzialismus, die alteingesessene Nachkriegsgemütlichkeit im (vermeintlich) ewigen Schatten der USA. Diese provinzielle Gemütlichkeit wird bis heute von der Mehrheit der deutschen Medien (nicht zuletzt der öffentlich-rechtlichen in ihren Abendprogrammen) ebenso wie von der deutschen Politik bedient, bespielt und kultiviert, und zwar in allen politischen Lagern.
Dieser Provinzialismus besteht darin, von der Welt und den Zuständen dort lieber nichts allzu Genaues wissen zu wollen. Insofern wundert es nicht, dass die deutschen Geheimdienste und Regierungsstellen vom schnellen Vormarsch der Taliban in Afghanistan in den letzten Monaten scheinbar nichts gemerkt haben. Und es wundert nicht, dass die Deutschen nicht mit kühlem Kopf auf die Lage reagiert haben, sondern aufgescheucht wurden und so schnell wie möglich weggelaufen sind.
Mit dem Abzug der Amerikaner und ihrer Verbündeten aus Afghanistan ist die 9/11 Epoche dort zu Ende gegangen, wo sie begonnen hat. Hoffentlich endet damit auch der verheerende, diskriminierende, der ewige „Krieg gegen Terror“.
Es wird höchste Zeit, dass wir uns anderen, wichtigeren, gemeinsamen Herausforderungen zuwenden, vom Klimawandel bis zur globalen Verteilungs(un)gerechtigkeit. Wenn das gelingt und am 12. September 2021 wirklich etwas Neues beginnt, sind unsere Siebenschläfer genau zur richtigen Zeit wieder aufgewacht!
[ii] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2019/juli/religioese-toleranz-weit-verbreitet-aber-der-islam-wird-nicht-einbezogen
[iii] „Antisemitismus und ‚Islamkritik‘“, Metropol Verlag 2011
[iv] https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/wulff-rede-im-wortlaut-der-islam-gehoert-zu-deutschland/3553232.html
[v] https://www.deutschlandfunk.de/silvester-in-koln-oder-making-of-apokalypse-2-0-von-walter.media.8307f61fd483d3947b55a7d4d6d04172.pdf