Am Sonntag finden neben den Bundestagswahlen auch die Berliner Wahlen statt. Dabei wird es auch um die Zukunft des umstrittenen Neutralitätsgesetz gehen. Muslimische Vertreter rufen zur Wahl auf.
Am 26. September finden in Berlin die Wahlen für das Abgeordnetenhaus statt. Rund 2,5 Millionen Menschen sind wahlberechtigt. Bislang sind sechs Parteien im Landtag vertreten. Auf die drei Regierungsfraktionen entfallen 92 Mandate (SPD 38, Grüne 27, Die Linke 27). Die CDU hat 31 Sitze, die FDP 11 und die AfD 21. Weitere 4 Abgeordnete sind fraktionslos. Einen Monat vor der Landtagswahl in der Hauptstadt liegt die SPD in mehreren Umfragen knapp vor der Grünen.
Auch wenn Themen wie Bildung und die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise den Wahlkampf dominieren, beschäftigten Themen rund um den Islam und die Muslime auch die aktuelle Politik. Vor allem das gekippte Kopftuchverbot und das umstrittene Neutralitätsgesetz. Derzeit leben in Berlin knapp 300.000 Muslime.
Im August vergangenen Jahres wies das Bundesarbeitsgericht eine Revisionsklage des Landes ab. Das Gericht hatte einer muslimischen Lehrerin ihre Entschädigung zugesprochen, weil sie wegen ihres Kopftuches nicht in den Schuldienst eingestellt worden war. Die Umsetzung des Urteils steht noch aus. In einem offenen Brief kritisierte das Bündnis #gegenberufsverbot die Landesregierung und forderte die Klarstellung der verfassungsrechtlichen Lage.
In ihren Wahlprogrammen äußeren sich die Parteien unterschiedlich zum Neutralitätsgesetz. CDU und FDP wollen das Berliner Neutralitätsgesetz beibehalten und sprechen sich gegen eine Reform aus. „Unsere Schulen sind keine Orte für politische und religiöse Einflussnahmen. Der Staat muss religiös und weltanschaulich neutral sein. Wer hoheitliche Aufgaben ausführt, darf keine religiös oder weltanschaulich motivierte Kleidung und Symbole tragen“, heißt es im CDU-Wahlprogramm. Auch sei die CDU bereit ein Kopftuchverbot in Kitas und Grundschulen einzuführen, wenn „die Überzeugungsarbeit bei den Eltern nicht greift“.
Die SPD stehe ebenfalls zum Neutralitätsgesetz, wolle aber eine Anpassung im Lichte der aktuellen Rechtsprechung überprüfen, da ein neutraler Staat „alle gleichbehandelt“. Für die Grünen habe das Neutralitätsgesetz in der aktuellen Fassung keinen Bestand. Sie möchten das Urteil des Bundesverfassungsgerichts umsetzen. Die Linke werde das Neutralitätsgesetz und dessen Auswirkungen überprüfen.
Der Vorsitzende der Islamischen Föderation Berlin (IFB), Murat Gül, hofft auf die Gleichberechtigung und Anerkennung der gesellschaftlichen Vielfalt. „Die Rechte der Musliminnen dürfen nicht länger ignoriert werden. Vielmehr sollten Qualifikation und Begabung im Vordergrund stehen“, erklärt Gül auf Anfrage von IslamiQ.
Yakup Ayar, Vorstandsmitglied des DITIB-Landesverbands in Berlin, wünscht sich, dass die neue Regierung in Berlin verstärkt auf „die mittlerweile gut ausgebildeten und emanzipierten Musliminnen zugeht“ und diese nicht aufgrund vorherrschender Ressentiments vergrault. Denn dies könne man sich nicht mehr erlauben.
Vor 20 Jahren wurde der islamische Religionsunterricht (IRU) in Berlin eingeführt. Er wird von der Islamischen Föderation Berlin in eigener Verantwortung für mehr als 5.000 Schüler übernommen. Dem Willen von CDU und FDP zufolge soll der IRU nicht mehr in Verantwortung der IFB stehen, sondern unter „deutscher Schulaufsicht“ bzw. „staatlicher Verantwortung“. Für Yakup Ayar wäre eine Initiative ohne Rücksprache und Einbindung der Muslime „fragwürdig und nicht nachhaltig.“
Murat Gül zufolge erwecken die Pläne der CDU und der FDP das Gefühl, dass der bisherige Islamunterricht „nicht nach Absprache mit dem Staat erfolgen würden“. Die IFB verstehe sich als Brücke zwischen den Muslimen und dem Staat. „Wir arbeiten mit Lehrplänen, die sowohl im Einklang mit den Vorstellungen der islamischen Gemeinde als auch mit den Ansprüchen des Senats stehen.“ Gül bezweifelt die „Effizienz der Idee, ein bereits 20 Jahre laufendes System zu beenden und neu anzufangen“.
In den ersten sechs Monaten wurden in der Hauptstadt 49 islamfeindliche Straftaten erfasst. Im Schnitt bedeutet das jeden vierten Tag ein Angriff auf Muslime. Die SPD will weiterhin muslimische Einrichtungen entsprechend schützen. „Bereits aufgelegte Programme zur Finanzierung bestimmter Sicherheitsvorkehrungen zum Beispiel an Moscheen oder Vereinsräumen führen wir fort“. Für die Grünen müssen Menschen, die von Rassismus betroffen sind, sichtbar werden. Sie sollten nicht nur zu Wort kommen und mitbestimmen können, sondern auch in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Die FDP lehnt jede Form von Gewalt gegen Gruppen oder Einzelpersonen ab, die ihrer Identität in der Öffentlichkeit Ausdruck verleihen. Doch wird im weiteren Verlauf des FDP-Wahlprogramms nur auf den wachsenden Antisemitismus aufmerksam gemacht, während die steigende Islamfeindlichkeit und die Angriffe auf kopftuchtragende Frau ausgeblendet werden.
Laut dem IFB-Vorsitzenden Murat Gül sei das Ausmaß der islamfeindlichen Straftaten nicht jedem bekannt. Es müsse ein Bewusstsein hergestellt werden. Hier seien Medien und Schulen gefragt. Um das Problem „Islamfeindlichkeit“ zu lösen, müsse der Staat „die Muslime und insbesondere Musliminnen als Teil Deutschlands sehen und diese nicht benachteiligen“.
Auch die DITIB betrachtet die steigende Islamfeindlichkeit „verstärkt mit Sorge“. Leider berufen sich die Täter auf alte Stereotypen und sehen sich durch die Politik in ihren Handlungen bestätigt. „Wir erhoffen uns, dass diese Straftaten nicht zu Kavaliersdelikten oder Einzelhandlung deklariert werden“, erklärt Ayar. Diese Straftaten sollten konsequent nachverfolgt werden.
Bei den Jugendlichen beobachte Gül ein großes Interesse an der Politik. „Sie fühlen sich verantwortlich für die Zukunft Deutschlands“. Damit nicht über, sondern mit Muslimen gesprochen werde, sei eine politische Partizipation zwingend notwendig. Den Berliner Muslimen würde Gül gerne folgendes mitgeben: „Als verantwortungsbewusste Bürger sollten alle wahlberechtigten Muslime unbedingt wählen. Wir müssen aktiv dazu beitragen, dass die Demokratie, die Meinungsfreiheit und die Gleichberechtigung erhalten bleiben. Es liegt in unserer Hand, unsere Heimat Berlin nach unseren Vorstellungen mitzugestalten.“
Yakup Ayar ruft ebenfalls dazu auf, wählen zu gehen. Das Wahlrecht sei einer der wichtigsten und entschiedensten Rechte in der Demokratie. Jeder Bürger und jeder Muslim solle die Chance ergreifen, seiner Stimme Gewicht zu verschaffen. Um gehört zu werden, solle jeden Muslim den Gang zur Wahlurne wahrnehmen. Eine Veränderung könne nur mit einer aktiven Teilnahme an Wahlen und mit einer verstärkten Partizipation in der Politik erfolgen. Das Fernbeleiben von den Wahlen könne zu einem noch stärkeren ideologischen Gefälle in der Bundesrepublik führen.
Im Hinblick auf Muslime stehen im Wahlprogramm der CDU vielmehr die Bekämpfung von Islamismus, Sicherheit und Prävention im Vordergrund. So sollen alle muslimischen Seelsorger auf „ihre Verfassungstreue und mögliche Radikalisierungstendenzen“ überprüft werden, bevor sie in den Anstalten tätig seien. Ziel sei es, eine „mögliche Radikalisierung der Gefangenen durch Externe zu verhindern“. Auch möchte die CDU, dass Imame in Deutschland „unabhängig“ von den bestehenden „Verbänden“ ausgebildet werden. „Nur ein staatlich gewährleistetes Angebot an unabhängigen Einrichtungen kann diese hochwertige, geistliche und weltliche Ausbildung sicherstellen“, so die CDU. Außerdem erklärt die Partei, die Al-Nur Moschee in Neukölln verbieten zu wollen oder ersatzweise ihr die Gemeinnützigkeit abzuerkennen.
Die SPD will für die Stärkung der Teilhabe von Muslimen ein Konzept in Berlin entwickeln. Auf den Inhalt dieses Konzeptes wird im Wahlprogramm aber nicht eingegangen. Um das Potential der muslimischen Gemeinden für Teilhabe und Partizipation zu nutzen, planen die Grünen das bestehende Islamforum durch eine Geschäftsstelle zu stärken.