"Hab keine Angst, erzähl alles!"

Neues Buch über den Anschlag von Halle – Stimme der Überlebenden

„Hab keine Angst“: Knapp zwei Jahre nach dem Anschlag auf eine Synagoge und einen Dönerimbiss in Halle mit zwei Toten kommen in einem neuen Sammelband die Überlebenden zu Wort. Das ist eindrücklich und sehr lesenswert.

27
09
2021
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Synagoge Halle Überlebende
Synagoge in Halle © Twitter, bearbeitet islamiQ.

Der Titel dieses Buches ist ein Zitat: Bevor Rabbinerin Rebecca Blady vor Gericht zum Anschlag auf die Synagoge und einen Dönerimbiss in Halle aussagte, telefonierte sie mit ihrer Großmutter in New York. Die über 90 Jahre alte Schoah-Überlebende sagte zu ihr: „Erzähl alles, habe keine Angst!“ Also berichtete die Enkelin nicht nur über den Tag des Attentats – sondern auch darüber, was die Nazis ihren Verwandten angetan haben, wie das ihre Familie bis heute und Bladys Empfinden während des Anschlags prägte, als sie selbst stundenlang von ihrem Kind getrennt und in Ungewissheit war.

Das Attentat von Halle

Das jetzt im Herder Verlag erschienene Buch „Hab keine Angst, erzähl alles! Das Attentat von Halle und die Stimmen der Überlebenden“ versammelt Zeugenaussagen, Plädoyers und Sachverständigenberichte vor Gericht sowie Interviews, Notizen aus Gesprächen sowie Blogbeiträge. Herausgeberin ist die Autorin und Essayistin Esther Dischereit, die 2020 als Prozessbeobachterin das Gerichtsverfahren verfolgt hat.

Das Oberlandesgericht Naumburg verurteilte den Rechtsextremisten aus Halle zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung. Das Gericht sprach den damals 28-Jährigen des zweifachen Mordes, des versuchten Mordes in Dutzenden weiteren Fällen sowie der Volksverhetzung schuldig. Und: „Die antisemitische, von Rassenhass geprägte Gesinnung des Angeklagten stellt ein verachtenswertes und aus tiefster Schuld bestehendes Tatmotiv dar.“

Der Täter hatte am 9. Oktober 2019 schwer bewaffnet versucht, in der Synagoge ein Massaker unter 51 Gottesdienstteilnehmern anzurichten, die den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur begingen. Als ihm ein Eindringen misslang, erschoss er eine Passantin, einen Gast im Dönerimbiss und verletzte auf seiner Flucht weitere Menschen teils schwer. Er filmte seine Taten und streamte sie live im Internet.

Forderungen an Politik und Gesellschaft

Soviel zum Täter. In dem vorliegenden Buch geht es dagegen um die Überlebenden – in eindrücklicher Weise. Denn die Sammlung offenbart nicht nur detailliert den Horror in der Synagoge, in dem Lokal und auf den Straßen während der Schüsse und der Flucht des Attentäters. Oder die Schäden an Körper und Psyche derjenigen, die diesen Horror miterleben mussten, ihre Angst, Trauer und Wut, die sich auch gegen das Verhalten der Polizei richtet. Oder drängende Forderungen an Politik und Gesellschaft für ein sicheres Leben von Juden und anderen Menschen in Deutschland.

Die Sammlung zeigt darüber hinaus einen Gegenentwurf zu dem zerstörerischen und von großer Verachtung geprägten Weltbild des Attentäters. Vor allem in den Haltungen von Zeugen beziehungsweise Nebenklägern: Klarheit, Respekt für andere Menschen, Warmherzigkeit, tiefes Mitgefühl für die beiden Toten Jana L. und Kevin S., innere Stärke, differenziertes Denken und trotz aller Kritik an der Polizei vielfach die Abwesenheit von Verbitterung.

Viele geben an, sich trotz des Schocks und des erlittenen Schmerzes für ein gutes Miteinander einsetzen zu wollen. Denn so geht die Rechnung des Täters gerade nicht auf. Eine große Rolle spielt auch der Glaube: So berichten die, die in der Synagoge um ihr Leben bangten, wie wichtig es für sie gewesen sei, die Jom-Kippur-Gebete einzuhalten und was es mit diesem Versöhnungstag auf sich hat.

„Warum sollte man uns denn auch hassen?“

Das Buch schließt mit zwei interessanten Stellungnahmen des Bundesverbandes der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) und des Soziologen Mattias Quent, der den Anschlag in größere Zusammenhänge einordnet und dabei auch internationale Vernetzungen von Rechtsextremen und Rechtsterroristen aufzeigt.

Am Ende bleiben Gedanken wie die von Ismet Tekin, Betreiber des zum Tatort gewordenen Lokals: „Und niemals hätte ich mir vorstellen können, dass tatsächlich jemand auf die Idee kommen könnte, mich und meinen Bruder umzubringen, allein weil wir Muslime sind. Niemals hätte ich gedacht, dass man unsere jüdischen Mitbürger attackieren würde. Warum sollte man uns denn auch hassen? Wir sind doch keine Kriminellen oder Banditen!“ Oder die Frage von Synagogenbesucherin Sabrina Slichenko mit Blick auf den Täter: „Was in der Gesellschaft hat ihn veranlasst zu denken, dass er für die Taten, die er begangen hat, anerkannt werden würde?“ (KNA, iQ)