Das Kölner Modellprojekt zum Gebetsruf hat erneut eine Diskussion ausgelöst. Ilhan Bilgü schreibt, was es mit dem „Muezzinruf“ aus religiöser Sicht auf sich hat.
Der Gebetsruf oder Muezzinruf (arab. „Azân“, türk. „Ezan“) bedeutet soviel wie „ankündigen“, „rufen“ und „einladen“. Er zeigt an, dass die Gebetszeit eingetroffen ist. Während es in Mekka noch keine spezielle Methode gab, Muslime zum Gebet zu rufen, wurden Muslime vor der Prophetenmoschee in Medina mit den Rufen „as-Salâh, as-Salâh“ (dt. „zum Gebet, zum Gebet“) zum Gemeinschaftsgebet eingeladen. Als die muslimische Bevölkerung zunahm, entstand die Notwendigkeit, diesen Aufruf auf andere Weise zu übermitteln.
Einige Muslime schlugen vor, genauso wie Christen und Juden zum Gebet zu rufen, doch fand diese Variante keine Mehrheit.
Die heute bekannte Form des Gebetsrufs geht auf einen Traum des Prophetengefährten Abdullâh b. Zayd b. Salabe zurück, den dieser in einem Traum gehört hat. Als er dem Propheten Muhammad (s) davon erzählte, bat der Prophet Bilâl Habaschi darum, die Worte auswendig zu lernen und fortan vor jedem Gebet auszurufen. Nach einer Weile fügte Bilâl dem Morgengebet die Worte „Beten ist besser als Schlafen“ hinzu.
Der erste Gebetsruf wurde am Morgen über dem Haus eines der Gefährten gesprochen. Später wurde im hinteren Teil der Prophetenmoschee ein spezieller Ort für den Gebetsruf eingerichtet. Dieser Ort wird als „Mi‘zana“ bezeichnet, doch ist das Minarett für diesen Zweck bekannter. Auch wenn die heutigen Moscheen von Region zu Region unterschiedliche Architekturen aufweisen, ist das Minarett ein fester Bestandteil der Moscheearchitektur.
Der Ausdruck „Allahu akbar“ erinnert an das Verhältnis des Menschen zu seinem Schöpfer. Alles kommt von Allah, alles ist ihm zugewandt. Er begleitet die Muslime durch ihre tägliche religiöse Praxis, wie z. B. das Gebet.
Extremisten verwenden den Ausdruck oft als Teil ihrer Rhetorik, weshalb er zu einer Chiffre für Gewalt geworden ist. Die religiöse Verwendung wird dadurch ausgeblendet. Die Folge ist, dass Muslime diskreditiert und mit Gewalt in Verbindung gebracht werden. Mehr.
Der Gebetsruf ist eines der besonderen Merkmale des Islams und wird nur in arabischer Sprache ausgerufen. Auch Muslime in Deutschland und in anderen europäischen Ländern wünschen sich, öffentlich zum Gebet zu rufen, um ihre Religion auch im Alltag erfahrbar zu machen. Jedoch stellt sich hier die Frage, ob es eine religiöse Pflicht ist, den Gebetsruf vor dem Gebet auszurufen und ob dieser öffentlich sein muss.
Bezüglich dem Gebetsruf haben die Rechtsschulen ähnliche Ansichten. So wird der Ruf entweder als Pflicht (Wâdschib), als kollektive Pflicht („Farz al-kifâya“) oder als stetige, feste Sunna („Sunna-i muakkada“) gesehen. Alle drei Einstufungen erlegen Einzelpersonen oder der Gemeinschaft in bestimmten Situationen eine Verpflichtung auf.
Beim öffentlichen Gebetsruf vom Minarett in nichtmuslimischen Ländern gibt es zwei Aspekte. Wenn die kommunale Verwaltung Muslimen erlaubt, öffentlich zum Gebet zu rufen, wird es, wenn vorhanden, vom Minarett ausgerufen. Wenn dies nicht erlaubt ist, gilt die religiöse Pflicht als erfüllt, wenn der Gebetsruf innerhalb der Moschee gesprochen wird.
Trotz dieser aus religiöser Sicht begründeten Möglichkeit besteht weiterhin das Recht auf öffentliche Religionsausübung. Sie erlischt nicht, wenn man auf eine Ausübung aus Rücksichtnahme verzichtet. Mögliche Reibungspunkte können verhindert werden, wenn Nichtmuslime die Sensibilität der Muslime bezüglich des Gebetsrufs kennen und wenn Muslime im Gegenzug Maßnahmen ergreifen, indem sie die Sensibilitäten ihrer Nachbarn berücksichtigen. Andernfalls kann der öffentliche Gebetsruf in Europa zu einer Herausforderung werden, die am Ende niemandem etwas bringt.