Ein Gespenst geht um. Das Gespenst des „politischen Islam“. Prof. Dr. Werner Schiffauer kennt es genau. Ein Gespräch über „klassischen Islamismus“, „Post-Islamismus“ und „politischen Islam“.
IslamiQ: Herr Schiffauer, Sie haben sich lange Jahre mit „Islamismus“ beschäftigt. Anfang der 2000er-Jahre sprachen Sie von einem „Post-Islamismus“. Können Sie uns diesen Begriff näher erläutern? Was sind die Merkmale dieses Begriffs?
Prof. Dr. Werner Schiffauer: Mein Interesse galt zuerst dem sogenannten Kalifatsstaat in Deutschland, einem Beispiel des, wie ich es nenne, „klassischen Islamismus“, mit dem ich mich in meinem Buch „Die Gottesmänner“ auseinandergesetzt habe. Anschließend beschäftigte ich mich eingehend mit der Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG).
Was mir schon damals aufgefallen war, ist, dass der klassische Islamismus eine Bewegung war, die in der Sprache der klassischen Linken gesprochen hat. Der klassische Islamismus geht zurück auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und teilte mit der Linken einen antikolonialen, antiwestlichen Impetus. Dem Westen, aber auch der Türkischen Republik, die man als westliches Produkt betrachtete, wurde ein authentischer Islam entgegengestellt. Durch diesen sollte das Selbstbewusstsein und die Größe der eigenen Kultur und Religion wiedergewonnen werden, die man unter den Reformen von Mustafa Kemal verloren hatte. Im Laufe des 20. Jahrhunderts flackerte der klassische Islamismus immer wieder auf, z. B. vor der iranischen Revolution oder dem afghanischen Widerstand.
Gleichzeitig haben mich die Grenzen dieses Islamismus interessiert. Diese zeichneten sich aus durch Dogmatismus, einen gewissen Militarismus und ein elitäres Bewusstsein, einhergehend mit einer fehlenden Reflexion der eigenen Position. Das habe ich vor allem beim Kalifatsstaat gesehen.
Lange Zeit hatte ich das Gefühl, dass es keine überzeugende intellektuelle Antwort auf den klassischen Islamismus gab. Umso spannender fand ich, dass in der IGMG Gegenpositionen entwickelt wurden. Dort teilte man das Unbehagen, das ich während meiner Forschung hatte. Die dogmatische Gegenüberstellung von Islam und Westen entsprach nicht ihrer Lebenserfahrung. Man erkannte die Widersprüche und Gegensätzlichkeiten internationaler, klassischer Islamismus-Bewegungen, etwa in Indonesien, wo sich eine Eigendynamik entwickelte, die die ursprünglichen islamischen Werte ins Leere laufen ließ. Ähnliche Entwicklungen haben übrigens auch die linken Bewegungen in Lateinamerika durchgemacht.
Hieraus ist ein Denken entstanden, das ich als „Post-Islamismus“ bezeichne. Es knüpft an die Verantwortung von Religion für die Gesellschaft an, aber arbeitet sich nicht mehr an der Ost-West-Dichotomie ab, sondern versucht, das Beste aus beidem mitzunehmen. Man hat sich vom Elitarismus entfernt und konzentriert sich auf das Arbeiten im demokratischen System, worin man eine Chance für einen rechtgeleiteten Islam im Westen sieht. Dabei blendet man freilich nicht aus, dass es auch hier Widersprüche gibt, z. B. was die Ungleichbehandlung von Religionsgemeinschaften anbelangt.
Zusammengefasst kann man sagen: Die Post-Islamisten sagen „ja“ zur politischen, gesellschaftlichen Verantwortung des Islams, aber „nein“ zu dem Weg des klassischen Islamismus.
IslamiQ: Bisher haben Sie von einer innergemeinschaftlichen Dynamik gesprochen. Welche Rolle hat der gesellschaftliche Kontext bei diesem Wandel gespielt?
Schiffauer: Die Signale aus der Gesamtgesellschaft haben diese Entwicklungen eher behindert als gefördert. Der undifferenzierte und uniformierte Islamismus-Vorwurf hat dazu beigetragen, denjenigen Steine in den Weg zu legen, die für die Überwindung des klassischen Islamismus und die Öffnung der Gemeinden zur Gesellschaft hin eintraten. Nein: Die Bewegung kam aus den Gemeinden selbst und hat trotz des negativen gesellschaftlichen Drucks und nicht wegen des Drucks stattgefunden. Dies zeigen die Lebensläufe, die ich untersucht habe, sehr deutlich.
Die Personen, die den Wandel forciert und begleitet haben, sind vor allem Angehörige der zweiten Generation. Sie sind in dieser Gesellschaft groß geworden. Sie sind in zwei Welten aufgewachsen: einerseits in Gemeinden, in konservativen Elternhaushalten, wo der Islam eine Art Schutzschild war und in der man Solidarität und Rückhalt fand; auf der anderen Seite die hiesige Schule und die Universität, wo man sich einbringen und sich mit anderen Positionen auseinandersetzen musste, und oft auch als Sprecher des Islams diente. Durch ihre erfolgreiche Laufbahn hatten sie insgesamt einen positiven Bezug zur Gesellschaft.
IslamiQ: Ist das „Post-Islamist-Sein“ eine Art Zwischenstation, um Bürger eines modernen Rechtsstaats werden zu können? Also in der Reihenfolge: „Islamist“, „Post-Islamist“, Bürger.
Schiffauer: Ich würde sagen, Post-Islamisten sind bereits normale Bürger des Rechtsstaats. Worum es jetzt geht, ist, den Post-Islamismus weiterzudenken, hin zu einer diversen Gesellschaft, in der Pluralität nicht nur eingefordert, sondern auch für alle anderen gefordert wird. Pluralismus ist also der erste Punkt. Ein weiterer Aspekt ist die Positionierung zum Nationalstaat: Versteht man sich eher als transnationale Gemeinschaft, also Umma, oder ist man eher an einen Nationalstaat gebunden?
Hieraus erwächst die Frage nach der politischen Verantwortung. Hier hat die IGMG gewisse Erfahrungen und Potenziale vorzuweisen: Sie hat Jugendliche auf ihrem Weg des Ankommens unterstützt. Sie hat sich nicht auf den Konflikt Sunniten gegen Schiiten eingelassen und damit ein ganz anderes Kapitel der Kooperation aufgeschlagen. Und sie hat, abseits des katastrophalen politischen Konflikts um Palästina, einen auf Gemeinsamkeiten aufbauendes Verhältnis zum Judentum entwickelt. Muslime in Deutschland stehen vor Herausforderungen, die sich in vielem mit denen der jüdischen Gemeinde überschneiden. Man denke an Schächten, Beschneidung, Antisemitismus bzw. antimuslimischer Rassismus oder die gemeinsame Positionierung für eine offenere Gesellschaft. Diese Perspektive ist also postnational, abgesehen davon, dass man immer ein besonderes Verhältnis zum Herkunftsland haben wird.
IslamiQ: Wo sehen Sie die IGMG heute?
Schiffauer: Es werden große Anstrengungen unternommen, Strukturen auf lebenspraktischer, religionsrechtlicher Ebene zu etablieren – soweit dies vom Staat zugelassen wird. Das reicht von der islamischen Theologie bis zur Wohlfahrtspflege. Manchmal fehlen mir jedoch die großen programmatischen Entwürfe oder auch die Versuche, positiv zu definieren, was zum Beispiel das eigene Verständnis von Politik und politischem Engagement ist. Hier steckt noch mehr Potenzial. Oft ist man zu sehr in der Defensive. Man erklärt, was man nicht ist, aber zu wenig, was man ist. Das ist verständlich, reicht aber nicht.
IslamiQ: Wenn man zurückblickt, sieht man, dass die Vorwürfe, die vor 10 Jahren gegen die IGMG gerichtet wurden, heute zum Beispiel gegen die DITIB gerichtet werden. Wo liegt der Ursprung dieser Vorwürfe?
Schiffauer: Ich würde sagen, dass ähnliche Vorwürfe wie sie seinerzeit gegenüber der IGMG laut wurden, sich heute gegen die Gemeinden richten, die der Muslimbruderschaft zugerechnet werden. Bei der DITIB liegt der Fokus der Kritik eher auf dem Verhältnis zum türkischen Nationalstaat und zur Nähe zur türkischen Regierung. Übrigens ist die Staatsnähe ein Punkt, den auch die IGMG an der DITIB stets kritisiert hat. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass auch bei den DITIB-Gemeinden lokal viel mehr stattfindet, als es die deutsche Gesellschaft mit ihrem oft reduktionistischen Blick wahrnimmt.
Natürlich hat die Wahrnehmung dieser Gemeinschaften auch mit der Art des öffentlichen Diskurses zu tun. Antimuslimischer Rassismus ist weitverbreitet, keine Frage. Aber gerade deswegen vermisse ich die Auseinandersetzung mit Fragen wie: Wo standen wir früher und wo sehen wir uns heute? Was sind unsere politischen Überzeugungen und aus welchen religiösen Quellen leiten wir diese ab? Wie kommen wir zu den Positionen, die wir heute vertreten? Von welchen Positionen, die wir früher eingenommen haben, distanzieren wir uns heute.
IslamiQ: Die islamischen Religionsgemeinschaften stehen unter öffentlichem Druck. Welche Auswirkungen hat das auf die Gemeinden? Werden sie dadurch „liberaler“ und „deutscher“?
Schiffauer: Im Gegenteil. Unter Druck rückt man noch näher zusammen. Widerspruch und Kritik sind in dieser Situation nicht fruchtbar. Dadurch finden innere Auseinandersetzung, wie es sie ja beispielsweise bei der IGMG gegeben hat, nicht in dem Maße statt, wie sie es könnte und müsste. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass man mit den jungen Gemeindemitgliedern etwa Bücher von Sayyid Kutub und anderen lesen müsste, um eine Auseinandersetzung zu ermöglichen. Das kann man aber nicht, weil das in der Öffentlichkeit sofort als Mobilisierung für den „Radikalislamismus“ verstanden werden würde. Diese Debatten werden geführt, aber aufgrund des Drucks eben nicht in der Intensität und Offenheit wie dies in einer offenen Gesellschaft der Fall sein müsste. Der Druck ruft also genau das Gegenteil von dem hervor, was gewünscht wird.
IslamiQ: Seit geraumer Zeit ist der Vorwurf der Zugehörigkeit zum „politischen Islam“ gekoppelt mit der Nähe zur Türkei. Vor 10-15 Jahren war die Sichtweise noch eine ganz andere. Wie betrachten Sie die Nähe oder Ferne der türkischsprachigen Religionsgemeinschaften in Bezug auf die Türkei?
Schiffauer: Das Verhältnis türkeistämmiger Muslime zu ihrem Herkunftsland hat einen Mehrwert für sie. Das ist gut so. Gleichzeitig sehe ich auch eine gewisse Kritiklosigkeit gegenüber der Türkei, vor allem dann, wenn politische und soziologische Entwicklungen im Widerspruch mit der eigenen Theologie stehen. Maßstab der Einordnung auch der türkischen Politik sollte aus Sicht einer Religionsgemeinschaft die Theologie sein. So könnte man z. B. die Lösung der Kurdenfrage aus islamischer Perspektive als antirassistischen Beitrag zu einer friedlicheren Gesellschaft betrachten und theologisch begründen – und die reale Politik von diesem Standpunkt her bewerten. Dieses schwierige Verhältnis ist aber, das muss man hinzufügen, ein Diasporaphänomen. Es betrifft nicht nur Türkeistämmige und nicht nur Muslime.
IslamiQ: Ist Zurückhaltung oder Nichtbeteiligung an der Politik des Herkunftslandes nicht etwas Normales für eine Religionsgemeinschaft, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland sieht?
Schiffauer: Ich frage mich, ob man nicht selbstbewusster sagen kann, dass man als türkeistämmige Muslime in Deutschland natürlich ein besonderes Verhältnis zur Türkei, aber auch der internationalen islamischen Gemeinschaft hat. Das Dasein in Deutschland könnte als Chance begriffen werden, aus der heraus eigenständige Positionen entwickelt werden könnten – im Sinne einer solidarischen, aber auch kritischen Begleitung der Politik in der Türkei und in anderen islamischen Mehrheitsgesellschaften.
IslamiQ: Worin unterscheidet sich die Wahrnehmung des „Islamismus“ in der Türkei und des „Islamismus“ in Deutschland?
Schiffauer: Der Begriff, der vom Verfassungsschutz benutzt wird, ist eigentlich „politischer Islam“. Politische Religion war aber auch die Befreiungstheologie, war ebenso der Widerstand des Katholizismus gegen den Kommunismus, und ist auch eine evangelische Kirche, die Kirchenasyl bietet. Insofern ist der Begriff „politischer Islam“ oder die Rede vom Missbrauch von Religion für politische Zwecke unsinnig.
In der Türkei hat man eine realistischere Sicht auf Islamismus, im Türkischen „Islamcılık“. Die Begriffsentwicklung in der Türkei war anders: Der „Islamcı” war in der Gründungszeit der türkischen Republik jemand, der nicht den laizistischen Kurs von Mustafa Kemal eingeschlagen hat, sondern nach Wegen gesucht hat, die notwendigen Reformen mit dem Islam in Einklang zu bringen. In der Türkei ist die Diskussion komplexer, weniger auf Feindbilder eingeschworen, und dadurch auch realistischer.
IslamiQ: Zurück nach Deutschland: Muslime möchten und können, als Bürger und Teil der Zivilgesellschaft, die Gesellschaft mitgestalten. Das kann selbstverständlich auch aus einer religiösen Referenz heraus geschehen. Jedoch gibt es Vorbehalte und sogar Ängste. Wie erklären Sie, dass der Anspruch nach aktiver Teilhabe und der Wunsch nach Veränderung Muslimen oft nicht gewährt werden?
Schiffauer: Ich glaube, dass es eine stereotype Vorstellung von dem gibt, was „Islamisierung“ heißt. Für manche steht schon das Anlegen des Kopftuchs für eine geheime Agenda. Die deutsche Gesellschaft ist von antimuslimischem Rassismus geprägt. Mindestens 20-25 Prozent wollen am liebsten gar keine Muslime im Land.
Um die gesellschaftliche Mitte zu erreichen, könnte man sich vielleicht besser auf Themen konzentrieren, die den Mehrwert des Islams und der Muslime sichtbar machen. Wie sieht zum Beispiel das islamische Verständnis von sozialer Gerechtigkeit aus oder wie ist das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft? Man müsste auch mal, um den Menschen die Ängste zu nehmen, offen diskutieren und deutlich machen, wie man sich denn die Gesellschaft aus muslimischer Perspektive vorstellt. Man könnte den Islam als Suchbewegung sehen, innerhalb dessen verschiedene Positionen gedacht werden können. Hier könnte man auch verstärkt mit gesellschaftlichen Akteuren kooperieren.
IslamiQ: Dem steht oft die „Kontaktschuld“ im Wege.
Schiffauer: Das ist eine Katastrophe für jede Zivilgesellschaft. Die Kontaktschuldthese besagt, dass jemand einer bestimmten Position überführt wird, und zwar ausschließlich aufgrund von Kontakten. Man fragt nicht mehr, was tatsächlich gesagt und vertreten wird. Beispielsweise wird ein muslimischer Prediger eingeladen, der zu einem unproblematischen Thema spricht, der aber in einem anderen Kontext tatsächlich etwas Problematisches gesagt hat. Aufgrund dessen wird die Einladung an sich schon zum Problem. Die vorherige Äußerung des Predigers wird der Gemeinde, die vielleicht nicht mal davon wusste, angerechnet. Es wird eine weltanschaulich in sich geschlossene Homogenität konstruiert, die hochgradig ansteckend ist. Das Ergebnis ist ein Klima des Verdachts und Misstrauens, die die gesellschaftliche Zusammenarbeit erschwert oder unmöglich macht.
IslamiQ: Was kann man dagegen tun?
Schiffauer: Nicht viel. Man kann sich wehren, aber das wird wieder als Strategie ausgelegt. Möglich wäre vielleicht ein breites gesellschaftliches Bündnis gegen Kontaktschuld und eine Ächtung dieser Form der Argumentation. Es muss sich die Ansicht durchsetzen, dass nicht die Kontakte für sich aussagekräftig sind, sondern die Äußerungen und Handlungen die Person oder Organisation ausmachen.
IslamiQ: Wie unterscheidet sich der Vorwurf der Kontaktschuld gegenüber Muslimen von dem gegenüber Rechtsradikalen?
Schiffauer: Die Kontaktschuld wird auch gegen Rechtsradikale angewandt. Allerdings mit zwei signifikanten Unterschieden. Zum einen: Wenn ein Rechtsradikaler sich zum Beispiel für die Aufnahme von Geflüchteten ausspricht, wird ihm das als Wandel seiner Ansichten angerechnet. Wenn ein Muslim das sagt, gilt er als Wolf im Schafspelz. Der andere Unterschied ist, dass die Gesellschaft viel mehr Kontakte zu Rechtsradikalen hat, was die Wucht der Kontaktschuld abmildert.
Das Interview führten Ali Mete und Feyza Akdemir.