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„Der deutsche Diwan ist eine Offenbarung meines Herzens“

In Deutschland leben mehr als fünf Millionen Muslime. Wie viele kennen Sie? IslamiQ stellt querbeet Menschen vor, die eine Gemeinsamkeit teilen: Sie sind Teil der Umma Deutschlands. Heute Ahmet Aydın.

25
12
2021
Ahmet Aydın schreibt den deutschen Diwan
Ahmet Aydın © Privat, bearbeitet by iQ

Ahmet Aydın ist Poet, Lektor und Literaturvermittler, auch bekannt unter dem Namen Westöstlicher Poet (Farazi). Er studierte Deutsche Philologie, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur in Göttingen.  

IslamiQ: Sie beschäftigen sich mit Poesie. Woher kommt das Interesse daran?

Ahmet Aydın: Meine Deutschlehrerin in der Oberstufe legte mir wiederholt nahe, dass ich Goethes „Faust“ lesen solle. Ich kaufte mir das kleine Reclam-Buch für damals 2,10 €. Diese 2,10 € sollten mein gesamtes Leben verändern. Ich las und las und verstand kein Wort – aber es reimte sich. Es war schön! Die Schönheit der Form zog mich immer wieder an. Beim Nachdenken über das Gelesene begann auf einmal auch ich zu reimen. Das war der Moment, in dem der Poet in mir zum Leben erwachte.

Die geehrte Aischa (r), die Mutter der Gläubigen, sagte: „Lehrt eure Kinder die Poesie, damit ihre Zungen süß werden.“ Poesie lehrt uns schöne Worte. Um die richtigen und schönen Worte auf Deutsch zur Verfügung zu haben, hieß das für mich: mehr deutsche Dichter lesen statt Zeitungen. Und da kommt niemand an Goethe vorbei. Durch Goethes Diwan lernte ich wiederum mehr und mehr über muslimische Dichter. Goethe ist sozusagen zu meinem Mentor geworden, dessen Rat mich immer begleitete.

IslamiQ: Sie schreiben auch selbst Gedichte. Was zeichnet Ihre Gedichte aus?

Aydın: Meine Gedichte zeichnen sich durch ihre Metrik und ihren Rhythmus aus. Dichter von heute kennen oft ältere Dichter nicht, und wenn sie sie kennen, dann nicht sonderlich gut. Das erachte ich als große Lücke. Ibn Haldûn, der große andalusische Gelehrte, sagt in seiner Mukaddima, dass ein Poet frühere Poeten kennen muss, um selbst Größe in der Poesie zu erlangen. Das heißt: Novalis, Schiller, Eichendorff, Lessing – die müssen wir kennen, um auf Deutsch Größe zu erlangen. Vor diesem Hintergrund beziehe ich mich sowohl auf europäische Poeten als auch auf orientalische. Deshalb gab ich mir den Namen Westöstlicher Poet.

IslamiQ: Welche Hobbies haben Sie, wie gestalten Sie ihre Freizeit am liebsten?

Aydın: Ich liebe Tee und Kaffee, ich liebe es, unterwegs zu sein und in einem Café zu sitzen oder einer Teestube und mich über Geschichte, Literatur und den ganz einfachen Alltag auszutauschen. Was bewegt Menschen? Warum werden sie Anwalt, Koch oder was auch immer? Ist es nur Geld? Was spielt noch eine Rolle? Warum wird man Redakteur? Das sind Fragen, die mich interessieren und über die ich bei Tee und Kaffee gerne spreche. Auch wenn es in Deutschland fremd ist: das leichte Leben, das süße Leben, wie es die Italiener nennen, la dolce vita.

IslamiQ: Lieblingsbuch? Lieblingsfilm?

Aydın: Mein Lieblingsfilm ist: Les Miserables. Die Verfilmung des Werkes von Victor Hugo. Dieser Film lehrt uns, warum die Aufklärung so wichtig und bedeutend für Europa war. Ich wünsche mir, dass viele Muslime diesen Film sehen und die historische Bedeutung Frankreichs für Europa dadurch besser fassen.

Lieblingsbuch? Das ist schon schwieriger. Das hängt eigentlich vom Genre ab. Doch wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich sagen: An Ideal Husband von Oscar Wilde. Er bildet sehr gut die heutige Politik ab. Da gehe es, so zeigt es Wilde, um Interessen, Vorteile und ganz sicher nicht um Werte. Die Dialoge sind brillant, Politik korrupt, der Versuch Charakter zu bewahren in einer Welt, die möchte, dass wir Masken aufsetzen, ist ein revolutionärer Akt. Das alles lehrt Oscar Wilde in diesem Theaterstück.

IslamiQ: Was bedeutet Familie für Sie?

Aydın: Eine Familie ist eine kleine Gesellschaft. Die öffentliche Gesellschaft besteht aus vielen kleinen Gesellschaften. Wenn diese kleinen Gesellschaften nicht glücklich sind und wenn das Leben von Familien regelmäßig gestört wird, so wird sich die Störung in der Gesellschaft bemerkbar machen. Deshalb bedeutet mir Familie sehr viel. Als wahre Familie erachte ich jedoch Menschen, mit denen ich dieselben Freuden und Interessen teile. Eine geistige Verbindung wiegt immer schwerer als Blutsverwandtschaft. Das ist meine Überzeugung.

IslamiQ:  Der schönste Moment in Ihrem Leben?

Aydın: Das ist sehr schwer auszumachen. Ich lebe in Augenblicken. Jeder Augenblick, so Goethe, sei der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit. Deshalb könnte ich nun sehr viele aufzählen, die ich als sehr schön empfand. Um aber einen zu nennen: Als ich das erste Mal auf den Bosporus herabblickend einen osmanischen Tee trank, das war so ein Moment, den ich wohl nie vergessen werde.

IslamiQ: Wie würden Ihre Freunde Sie beschreiben?

Ich habe sie gefragt, und sie sagten: enthusiastisch und fulminant.

IslamiQ: Ihr Lebensmotto?

Aydın: Habe den Mut, dir selbst zu verzeihen. Nur wer sich selbst verzeihen kann, wird nachsichtig mit anderen sein.

IslamiQ: Können Sie sich an eine Situation erinnern, in der Sie erstmals mit der Identitätsfrage (Islam und Deutschland) konfrontiert waren?

Aydın: Eine Arbeitskollegin beschwerte sich einmal über muslimische Gäste. Daraufhin fragte ich sie, warum sie nichts gegen mich habe, da ich ja auch Muslim sei und fünf Mal täglich bete und faste usw. Sie sagte: „Aber du kennst doch Goethe und so.“ Das hat mich damals schockiert. Einzig mein Wissen über deutsche Geistesgeschichte machte mich zu einem „Integrierten“. Das ist absoluter Schwachsinn. Fragen Sie mal die Dozenten an den Unis wie viele Germanistik-Studenten sich mit Goethe auskennen. Da müssten aber ganz schnell ganz viele als nicht integriert gelten. Von den Deutschstämmigen, die nicht Germanistik studieren, möchte ich überhaupt nicht sprechen…

IslamiQ: Was ist Ihr größtes Ziel in diesem Leben und was tun Sie um dieses Ziel zu erreichen? 

Aydın: Ich möchte Deutschland an seine eigenen geistigen Größen erinnern. Ich finde es traurig, dass ich kaum mit jemandem über Alexander und Wilhelm von Humboldt sprechen kann, über Schillers ästhetische Erziehung. Mit der Dichtkunst versuche ich Geistesgrößen, ihre Gedanken und zeitgenössische Zusätze durch mich zu vermitteln.

Dichten ist ein Perspektivenwechsel. Man sieht die Welt einmal durch die Augen des Dichters, denn sein lyrisches Ich ist es, das dort spricht. Die Wenigsten können ihre Perspektive wechseln. Wer den Menschen diese Fähigkeit beibringt, leistet der Gesellschaft einen gewichtigen Dienst. Deshalb möchte ich mit Dichtung einerseits Selbsterkenntnis fördern und andererseits auch an die Geschichte erinnern.

IslamiQ: Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Für sich selbst, für Ihre Familie, für alle Muslime in Deutschland.

Aydın: Deutschland ist meine Heimat. Diese Heimat zu bereichern vor allem kulturell, das wünsche ich mir – und Gesundheit, die wünsche ich mir, für mich, meine Familie und die Gesellschaft. Mentale und körperliche Gesundheit. Um zur mentalen Gesundheit beizutragen möchte ich endlich meine Gedichtsammlung veröffentlichen. Sie trägt den Titel: „Der deutsche Diwan“. Ich bin überzeugt, dass durch solche Projekte die Mehrheitsgesellschaft mehr über Muslime und gleichzeitig Muslime mehr über deutsche Geschichte erfahren.

IslamiQ: Was muss passieren, damit Muslime hier als selbstverständlicher Teil Deutschlands angesehen werden?

Aydın: Muslime müssen ihre eigene Geschichte erzählen. Viele wissen nicht, wie wir uns fühlen, wenn wir beten oder was wir mit dem Propheten Muhammad (s) verbinden. Wir brauchen Dramen, Romane, Filme, die Charaktere und Schicksale von Muslimen darstellen und vermitteln. Ich liebe den Film Les Miserables. Dadurch empfinde ich automatisch Sympathie für Frankreich. Das ist die Macht der Kunst. Muslime müssen Kulturschaffende werden. Sie sind es schon und Interviews wie diese machen es sichtbar und inspirieren hoffentlich mehr, ihre Geschichte zu erzählen.

Aber die Geschichte soll nicht bloß Selbstdarstellung sein. Sie soll eine Botschaft, eine Lehre enthalten und eben unterhalten zugleich. Goethe schrieb den Divan, weil er sich mit Hafis verwandt fühlte. Hafis ist unser. Das heißt, Goethe fühlte sich mit uns verwandt. Warum sage ich das? Wir müssen nichts verstecken, wir haben nichts zu verbergen. Der deutsche Diwan ist eine Offenbarung meines Herzens. Goethe hätte er sehr gefallen. Wir sind ein Teil dieses Landes. Ich bin deutscher Dichter, nicht türkischer. Das ist ein Teil meiner Geschichte.

Leserkommentare

Vera sagt:
Der Poet Ahmet Aydin ist Teil der Umma Deutschlands - der religiös fundierten Gemeinschaft der Muslime in Deutschland - und er sagt, dass er nichts zu verbergen habe. Gerne möchte ich ihn auch über sein literarisches Schaffen hinaus einmal fragen, ob er es begrüßen und unterstützen würde, wenn in Deutschland eine islamische Scharia-Justiz eingeführt würde. Als Lieblingsbuch benennt Herr Aydin ein Theaterstück des bekannten Schriftstellers, Lyrikers und Dramatikers Oscar Wilde (1854-1900), der 1895 im viktorianischen Großbritannien wegen "Unzucht" zu zwei Jahren Zuchthaus mit schwerer Zwangsarbeit verurteilt wurde, welche seine Gesundheit ruinierte. Wilde lebte nach seiner Entlassung verarmt in Paris und starb mit nur 46 Jahren. Wie gehen denn Ahmet Aydin und die Umma Deutschlands mit einer solchen "Unzucht", wie sie Oscar Wilde angelastet wurde, heute um? Wie würde eine in Deutschland eingeführte Scharia-Justiz ein sexuelles Verhalten einordnen bzw. "würdigen", wie es Oscar Wilde pflegte und für sich als selbstverständlich betrachtete? Ich zitiere: "Das alles lehrt Oscar Wilde in diesem Theaterstück." Das ist wohl zu schön um wahr zu sein?
25.12.21
18:48