Islamische Begriffe werden oft missbraucht und verlieren dadurch ihre eigentliche Bedeutung. Im IslamiQ Glossar geht es um die ursprüngliche Bedeutung der Wörter. Heute: Scharia.
Das Wort „Scharia“ bedeutet übersetzt „Weg zur (Wasser)Quelle“. Dieser Weg lässt sich so verstehen, dass er dem Menschen durch grundlegende religiöse und ethische Prinzipien dazu verhelfen soll, glückselig zu werden, sprich: den Weg der Errettung zu finden. Denn der Mensch muss sich nicht gezwungenermaßen auf diesen Weg begeben. Er kann und soll sich aus freien Stücken und in voller Überzeugung Gott hinwenden. Diese Hinwendung führt zur individuellen Glückseligkeit, zum gesellschaftlichen Frieden und zur Gerechtigkeit zwischen den Menschen in unterschiedlichen Bereichen des Zusammenlebens.
Aus theologischer Perspektive meint die Scharia „die Gesamtheit der islamischen Rechtsgrundsätze, die Gott den Menschen erlassen hat und dadurch das individuelle und gesellschaftliche Leben geordnet wird“.
Es ist essenziell zu verstehen, dass die Scharia sich nicht nur auf die islamische Religion bezieht, sondern auf alle Ausformungen göttlicher Gebote, die den Propheten offenbart wurden. Die Vorstellung der Scharia geht hier über ein Gesetz oder Recht hinaus. Sie ist daher als ein Normensystem zu betrachten, das viel umfassender ist als Rechte oder Gesetze.
Die Scharia basiert auf drei Grundsätzen. Erstens die Glaubensnormen, womit Glaubensinhalte gemeint sind, wie der Glaube an die Einzigkeit Gottes, der Glaube an die Propheten und Gesandten, die Engel, den Jüngsten Tag und die Vorherbestimmung. Zweitens Ethiknormen, also moralische Eigenschaften und Tugenden wie Dankbarkeit, Geduld, Barmherzigkeit. Und drittens Handlungsnormen, die wiederum unterteilt werden in gottesdienstliche Handlungen (Ibâdât) und zwischenmenschlichen Beziehungen (Muâmalât).
In der islamischen Rechtswissenschaft wird für die Festlegung der Scharia nicht nur der Koran, sondern auch die Sunna berücksichtigt. Als weitere Quellen gelten auch der Konsens (Idschmâ) der Gelehrten und der Analogieschluss (Kiyâs).
Im deutschsprachigen Kontext wird Scharia üblicherweise als Gesetz oder Kodex für Verhaltensregeln betrachtet, was ihr keinesfalls gerecht wird. Noch weitreichender und folgenschwerer ist es jedoch, dass die Scharia im öffentlichen und medialen Diskurs auf körperliche Strafen wie Handabhacken, Steinigung, Peitschen oder Kopfabschlagen reduziert wird. Durch derlei negative Konnotationen wird der Begriff der Scharia seiner Dynamik gänzlich beraubt.
Literatur
Richard Heinzmann (Hrsg.), Lexikon des Dialogs. Grundbegriffe aus Christentum und Islam, Herder Verlag, 2013
Mahmoud Bassiouni, Menschenrechte zwischen Universalität und islamischer Legitimität, 1. Auflage, Berlin, Suhrkamp, 2014
Mohammed Saif, „Islam“ im öffentlichen Diskurs: Zur sprachlichen Konstituierung einer Religion, Dissertation, Universität Mannheim, 2018