Mehr als fünf Millionen Muslime leben in Deutschland. Auch sie brauchen in Krisen und Notlagen seelsorgerische Betreuung. Muslimische Notfallbegleiter sollen passgenau helfen – aber gibt es genug?
Bei einem Verkehrsunfall stirbt ein Kind, die Suche nach dem Vermissten bleibt erfolglos, bei einem Wohnungsbrand kommt der Partner ums Leben. Wenn nach Krisen und Katastrophen Notarzt, Polizei oder Feuerwehr abrücken, stehen Angehörige in extremen Lagen vor Trümmern. Hinterbliebene brauchen dann auch Hilfe für die Seele, Beistand in akuter Krise. Notfallseelsorger der Kirchen sind vor Ort. Und – seit einigen Jahren und in noch knapper Zahl – muslimische Notfallbegleiter. „Der Bedarf an sozialer und seelsorgerischer Betreuung in der muslimischen Community ist enorm“, sagt Melanie Miehl von der Christlich-Islamischen Gesellschaft (CIG) in Köln.
Auch nach der Flutkatastrophe im Sommer 2021 standen die muslimischen Ehrenamtler parat. Die Gesellschaft hatte vor gut zehn Jahren mit Unterstützung muslimischer Organisationen und der Kirchen ein Konzept einwickelt, bildet seitdem muslimische Notfallbegleiterinnen und -begleiter aus. Ein bundesweit beachtetes Projekt. Aus vielen Städten und Regionen komme der Wunsch nach einer solchen Ausbildung. Mehr als fünf Millionen Muslime leben in Deutschland.
„Wenn ich gerufen werde, weiß ich erst mal nicht, was mich erwartet. Ist ein Angehöriger türkischer Abstammung betroffen, heißt das ja nicht, dass es ein frommer Muslim ist“, berichtet Halil Aydemir, der als einer der ersten ausgebildet worden war und seit 2011 tätig ist. „Wir müssen erspüren, ob der Mensch religiös geprägt ist und religiöses Handeln wünscht.“ Alarmiert wird der Notfallbegleiter von der christlichen Notfallseelsorge am Ort des Geschehens, falls Muslime betroffen sind und sie muslimische Begleitung möchten. Eine laut CIG gute und alternativlose interreligiöse Kooperation.
Die Helferinnen und Helfer in den violetten Westen brauchen viele Qualifikationen: Sie müssen über den Islam und islamische Bestattungsriten Bescheid wissen, den Koran kennen, möglichst auch die Kultur des Betroffenen, wie Aydemir betont. Spirituelle Unterstützung sei aber nur ein Angebot. Komme hier kein Signal vom Betroffenen, unterbleibe das. Die Begleiter müssen manchmal auch vermitteln zwischen muslimischen Angehörigen und Einsatzkräften. „Oder wir werden mitgenommen, wenn die Polizei die Todesnachricht überbringt.“
Jedes Jahr gibt es weit mehr Bewerber als Kursplätze, die Interessenten kommen überwiegend aus NRW. Männer und Frauen aus der Türkei, Algerien, Syrien, Afghanistan oder auch dem Irak. „Wir haben auch viele, die 2015 als Flüchtlinge kamen und jetzt etwas zurückgeben möchten“, erläutert Miehl. In rund 80 Stunden werden sie eingeführt in Gesprächsführung, Psychotraumatologie, es geht um theologische Aspekte. Sie lernen, wie Rettungsdienste und Polizei organisiert sind und wie sie konkret arbeiten. Die muslimischen Helfer müssen sich ins Team einfügen.
Ein wichtiger Faktor – und damit Auswahlkriterium – ist Sprache. Im Schock fallen auch gut Deutsch sprechende Betroffene oft in ihre Muttersprache zurück, weiß Aydemir. Die Helfer beherrschen Arabisch, Türkisch, Dari oder Farsi. Bisher seien von der CIG über 100 Helfer ausgebildet worden, es brauche aber viel mehr. Einige wenige ähnlich gelagerte Projekte gebe es in Bayern, Baden-Württemberg und Berlin.
Für die CIG – im nächsten Jahr wird die deutschlandweit größte Organisation des christlich-islamischen Dialogs 40 Jahre alt – ist die Ausbildung der Notfallbegleiter zur zentralen Aufgabe geworden. „Als wir gegründet wurden, waren die Aufgaben stark von der noch neuen muslimischen Arbeitsmigration geprägt“, schildert Geschäftsführer Thomas Lemmen. Es ging um Fürsorge für die Muslime. „Heute ist es ein Dialog auf Augenhöhe, partnerschaftlich und paritätisch. Die Muslime sind längst fester Teil der Gesellschaft, und die Themen haben sich verändert.“
Die Integration Zugewanderter aus muslimisch geprägten Ländern sei besser, die Wahrnehmung des Islam aber negativer geworden, beobachtet die CIG-Vorsitzende Dunya Elemenler. Vorbehalte gegenüber Muslimen seien vor allem unter Menschen gewachsen, die persönlich keine kennen. Und: „Wer sich informieren will, stößt zuerst auf negative Beispiele“, sagt die Politikwissenschaftlerin auch mit Blick auf Bilder aus dem Ausland von Anschlägen der Taliban oder des Islamischen Staats.
„Was oft fehlt, sind Kontakte zu Muslimen“, weiß Elemenler. Auch dafür engagierten sich die 215 Mitglieder der CIG – die meisten sind gut vernetzte Multiplikatoren. Ein Ausdruck von Wertschätzung sei es auch, Muslimen bei Schicksalsschlägen Notfallbegleiter zur Seite zu stellen, unterstreicht sie. Als ein erstes Netz, das sie auffängt. (dpa/iQ)