Kunst und Religion sind aus islamischer Perspektive eng miteinander verbunden. Dabei richtet die islamische Kunst ihren Blick auf das Göttliche und Universelle. Ein Gastbeitrag von Ünal Ünalan.
„Allah hat den Menschen in seiner schönsten Form erschaffen.“[1] In diesem Koranvers wird darauf hingewiesen, dass dem Menschen die allerschönste Form und Gestalt gegeben wurde. Er bedeutet aber auch, dass der Mensch unter allen Geschöpfen dieser Welt, sowohl physiologisch als auch in seelischer und psychischer Hinsicht, einzigartig ist. Als solcher besitzt er die Fähigkeit, das Falsche vom Rechten, das Nützliche vom Nutzlosen und das Gerechte vom Ungerechten zu unterscheiden. Zudem hat der Mensch auch ein ihm eigenes Bedürfnis nach Religion und Kunst.
Dieses natürliche Bedürfnis umschreibt Prof. Süleyman Uludağ folgendermaßen: „Es ist nicht seine Fähigkeit zu denken, die den Menschen von den anderen Geschöpfen unterscheidet. Es sind seine erhabenen Gefühle (‚hissiyat-i âliyye‘), seine ästhetische und religiöse Empfindsamkeit, die einzig ihm gegeben ist, die ihn privilegieren und ihm eine besondere Stellung verleihen. Sowohl der Sinn für Religiosität als auch der Sinn für Schönheit sind im Wesen des Menschen angelegt.“[2]
Religionen sind der bedeutsamste Faktor, der diese Besonderheit der menschlichen Natur gestaltet, leitet und entwickelt. Gleichzeitig ist die Kunst einer der wichtigsten Wege um eine Religion, einen Glauben oder eine Kultur zu vermitteln. Die Religion erschafft nämlich ihre eigene, abstrakte Bedeutungs- und Begriffswelt. Der Mensch muss diese abstrakten Begriffe und Konzepte jenseits seiner Sinne, in ihrer tieferen Bedeutung erfassen können. Das wichtigste Instrument hierfür ist die Kunst, weil sie abstrakte Konzepte sichtbar und hörbar machen kann. Anders gesagt, verdichtet die Kunst das Abstrakte zu einem sichtbaren und verständlichen Ganzen.
Betrachtet man den islamischen Glauben genauer, dessen Gottes- und Jenseitsverständnis, seine Grundprinzipien, seine Moralvorstellungen und seine Art, sich mit dem Menschen und seiner Existenz im Ganzen auseinanderzusetzen, erkennt man bestimmte Prinzipien. Diese sind genau jene Prinzipien, die auch das islamische Kunstverständnis geformt haben.
Zwei Prinzipien der islamischen Kunst sind „Tawhîd“, die Einheit und Einzigartigkeit Gottes, und „Tanzîh“, also die Transzendenz. Im Zentrum der Kunst steht der Islam, und im Zentrum des Islams ist der Tawhîd. Darum werden bei der Darstellung islamischer Grundsätze weite und tiefgreifende abstrakte Begrifflichkeiten verwendet, anstatt konkreter, gegenständlicher Aussagen. Denn der Islam will nicht nur das Auge ansprechen, sondern auch das, was das Auge nicht sieht. Er möchte den Menschen mit jener Wahrheit konfrontieren, die seine Sinne nicht zu erfassen in der Lage sind. Deswegen hat das Tawhîd-Prinzip in allen Kunstsparten zur Abstraktion geführt, wobei sich die islamische Kunst immer nach dem Attribut Allahs „Muhâlafatun lil Hawâdis“ (der sich von allem Erschaffenen unterscheidende) gerichtet und nie versucht, ihn konkret zu beschreiben.
Den künstlerischen Weg, der gewählt wurde, um dieses abstrakte Merkmal zu beschreiben, kann man vor allem in den dekorativen Künsten sehen. Bei der Dekoration von Moscheen, Medressen und Karawansereien wurde die Natur nicht möglichst genau imitiert. Es wurde eine andere Herangehensweise gewählt, nämlich eine abstrakte Kunstform. Dies kann man etwa in den Miniaturen erkennen. Dimensionen, Formen und Orte unterscheiden sich hier sehr von den realen Gegebenheiten. Anstatt die Realität möglichst genau nachzustellen, rückte deren Interpretation in den Vordergrund. Weder Schöpfer noch Geschöpfe werden nachgeahmt. Man richtet sich sorgfältig nach dem Tawhîd, vermeidet alles, was an Beigesellung erinnern könnte und hält sich von konkreten Darstellungen fern. Mit dieser Besonderheit haben die islamischen Künste einen eigenen Platz in der globalen Kunstgeschichte eingenommen.
Die islamische Kunst verbindet die Suche nach Schönheit und Ästhetik mit Moral und Sinnhaftigkeit. Die Kunst hat nicht das Ziel, etwas eine Form zu geben, sondern der Form eine Bedeutung zu geben bzw. diese sichtbar zu machen. Die islamische Kunst möchte den Menschen zum Guten und zur islamischen Ethik zu führen. Die Form ist hierbei ein Mittel, das eben diesen Sinn, diese Bedeutung in sich trägt. Die älteste der islamischen Künste, nämlich die Kalligraphie, ist in diesem Zusammenhang das beste Beispiel dafür, wie ein ästhetisches Verständnis zum Träger von Sinnhaftigkeit werden kann.
In der Theorie ist die islamische Kunst eine Reise zum Schöpfer. In der Praxis ist sie die Bemühung des Menschen, sich selbst und seine Umgebung zu verschönern. Er tut dies nicht in Auflehnung gegen seinen Schöpfer, sondern als eine Handlung, die ihn zu seinem Schöpfer führt. Sinn, Ästhetik und Nutzen sind in diesem Zusammenhang eng miteinander verwoben. Wenn zum Beispiel ein Brunnen gebaut werden soll, dann verfolgt man dabei die Absicht, das Wohlwollen Allahs zu gewinnen, den Menschen nützlich zu sein und den Brunnen aufs Schönste zu gestalten. „Den Geschöpfen gebührt Respekt um des Schöpfers Willen“ ist ein Spruch, der dieses Verständnis verdeutlicht.
In der islamischen Kunst stehen nicht die individuellen Emotionen des Künstlers im Vordergrund, sondern das Göttliche und Universelle. Der Künstler ist Mittler und Betrachter. Sein Ziel ist es, Gott zu erreichen und dessen Wohlwollen zu erlangen. Diesen religiösen Gefühlen und Gedanken versucht der Künstler in schönster Weise eine Form zu geben. In der Kalligraphie etwa werden die schönsten aller Worte, diejenigen des Korans, auf abstrakte Weise sichtbar gemacht. Bei der Verzierung von Bauwerken wird durch feine und verflochtene geometrische Formen, die kein Ende haben und so die Ewigkeit symbolisieren, die Existenz und Liebe des unendlichen und ewigen Schöpfers nähergebracht.
Der Koran ruft die Menschen dazu auf, Himmel und Natur zu betrachten, um die Existenz und Allmacht Allahs zu spüren: „Sehen sie denn nicht zum Himmel über sich empor: Wie wir ihn erbauten und ausschmückten und dass er keine Risse hat?“[3] Um dem nachzukommen, nutzen muslimische Künstler figurative und naturalistische geometrische Formen, Sternanhäufungen und Pflanzenmotive.
Die islamischen Künste sprechen nicht nur die Vernunft, sondern auch die Seele, die Empfindungen der Menschen an. Ihre Botschaft richtet sich nicht an eine bestimmte Gruppe in einer bestimmten Umgebung, sondern an die gesamte Menschheit, und zwar in allen Lebensbereichen und an allen Orten. Die Kunst hat vieles über das Leben zu sagen und findet sich deshalb überall dort, wo es Menschen gibt: Moscheen, Brunnen, Karawansereien, Inschriften, Bücher, Edikte, Grabsteine, Paläste und Gärten etc. Kurzum, die islamische Kunst ist das Zeichen einer Kultur, einer bestimmten, islamische fundierten Sichtweise auf die Welt und dem, was sich dahinter verbirgt.
[1] Sure Tîn, 95:4
[2] Süleyman Uludağ, „İslâm Açısından Mûsikî ve Semâ’“, Dergâh Verlag, 2015, S. 12
[3] Sure Kâf, 50:6