Auch zwei Jahre nach dem Anschlag in Hanau gibt es viele offene Fragen. Kübra Layık sprach mit den Hinterbliebenen über den Verlust, die Ermittlungen und ihre Forderungen.
Neun ermordete junge Menschen und viele Hinterbliebene, die auch zwei Jahre nach der Gräueltat in Hanau leiden. „Seit der Rechtsextremist am 19. Februar 2020 meinen Sohn ermordet hat, wächst der Schmerz von Tag zu Tag“, erzählt Armin Kurtović gegenüber IslamiQ. Für ihn steht fest: Der Kampf um Aufklärung und Gerechtigkeit wird nie enden.
Zwei Jahre ist es her, dass ein Rechtsextremist in Hanau neun Menschen ermordet hat. Sein Motiv: Rassismus und Menschenhass. Dabei verloren Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov ihr Leben. Sie hinterließen Familien und Freunde, die nun jeden Tag für Gerechtigkeit, Aufklärung, Erinnerung und für Konsequenzen kämpfen. „Jeder Tag ist erneut ein Kampf, aber auch eine Motivation, weiterzumachen. Für Gökhan“, sagt Çetin Gültekin, Gökhans Bruder.
In den zwei Jahren mussten die Angehörigen und Überlebenden des rechtsextremistischen Anschlags vieles durchleiden. Das Versagen der Behörden, die fehlende Solidarität seitens der Politik, fehlerhafte Ermittlungsarbeit und viele offene Fragen. „Jede Anhörung war sehr schmerzvoll, aber für meinen Sohn Ferhat werde ich all den Schmerz auf mich nehmen“, erzählt Serpil Temiz Unvar. Sie hat die Bildungsinitiative Ferhat Unvar gegründet. „Ich möchte junge Menschen aufklären und gegen Rassismus stark machen. Der einzige Weg, um Menschen zu erreichen, ist Bildung.“
Auch für Hayrettin Saraçoğlu, der bei dem Attentat seinen Bruder Fatih Saraçoğlu verlor, reißt jede Fahrt zur Anhörung von Regensburg nach Wiesbaden Wunden auf. „Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt“, sagt er gegenüber IslamiQ. Die Wunde werde mit jedem Tag tiefer und beeinflusse auch das alltägliche Leben. „Das Arbeiten fällt schwer, persönliche Beziehungen reißen ab und auch die Familie geht daran kaputt.“
Der Rechtsextremist ermordete nicht nur neun Menschen, er zerstörte auch so viele Leben der Familien und Überlebenden, erzählt Piter Bilal Minnemann. Piter Bilal hat den Anschlag in Hanau vor zwei Jahren überlebt. Doch jeden Tag erlebe er diesen Tag erneut, höre die Schüsse und spüre die Angst. „Durch diese Gefühle schöpfe ich die Kraft. Kraft, um die Ermittlungen nachzugehen, die die Behörden nicht machen. Um aufzuklären, welches die Politik nicht tut. Und um gegen Rassismus zu kämpfen.“
22 Monate sind seit dem Anschlag vergangen, und es waren in erster Linie die Hinterbliebenen, die gemeinsam mit ihren Anwälten und Anwältinnen die offenen Fragen immer wieder zum Thema gemacht haben: Warum konnte der Täter in den Besitz von legalen Schusswaffen gelangen? Warum war in der Nacht der polizeiliche Notruf in Hanau für viele nicht erreichbar? Warum war der Notausgang der Arena Bar am zweiten Tatort verschlossen und warum wurde das Haus des Täters so spät gestürmt und was war die Rolle des Vaters des Mörders? Die Betroffenen selbst haben kontinuierlich recherchiert und ermittelt und mithilfe engagierter Journalisten und Journalistinnen eine große Öffentlichkeit zur „Kette des Versagens“ bei Behörden und Polizei hergestellt.
Zudem hat die Initiative 19. Februar ein unabhängiges Institut damit beauftragt, Gutachten zu verschiedenen Aspekten des Verbrechens zu erstellen, darunter eine umfassende forensische Rekonstruktion der Abläufe rund um das Haus des Täters in der Tatnacht. Die Initiative kam durch einen forensischen Bericht zum Schluss, dass alle in der Arena Bar hätten überleben können, wenn die Tür offen gewesen wäre.
Die Staatsanwaltschaft ermittelte zudem nach weiteren Tätern und Mitwissern. Sie kam zu dem Schluss, dass der Täter allein gehandelt habe und schloss die Akte, obwohl der Vater des Attentäters ähnliche Züge wie sein Sohn aufweist: Er klagte die Gendenkstätte wegen Volksverhetzung an und sprach Drohungen aus. Er behauptete, um die Ehre seines Familiennamens wiedergutzumachen, seien mehrere Menschenleben erforderlich. „Wir leben daher weiterhin in Angst“, sagt Piter Bilal gegenüber IslamiQ. Er wurde nach dem Anschlag in der Arena Bar zu Fuß zur Wache geschickt. Die lag in 2-3 km Entfernung und zu diesem Zeitpunkt war der Täter nicht gefasst.
Auch war in dieser Nacht der Notruf unterbesetzt. Dabei ist der hessischen Polizei schon seit 2016 bekannt, dass es im Falle eines Anschlags mit mobilem Täter einer möglichst großen Anzahl von Notrufabfrageplätzen bedarf. Die Polizei in Hanau war stark unterbesetzt, es gab keine Weiterleitung der Anrufe. Vili-Viorel Păun hatte den Täter verfolgt, um ihn aufzuhalten. Dabei hat er mehrmals den Notruf gewählt. Ohne Erfolg. Er wurde vor der Arena Bar auf dem Parkplatz kaltblütig von dem Täter erschossen.
Als Ferhat Unvar in dem Kiosk neben der Arena Bar angeschossen auf dem Boden hinter der Theke aufgefunden wurde, wurde sein Puls nicht überprüft. Laut der Initiative 19. Februar sei auf den Überwachungskameras zu sehen, wie Polizisten mehrmals über seinen Körper hinwegstiegen, ohne seinen Puls zu überprüfen, bis er letztendlich verstarb. Daher bleibt auch diese Frage weiterhin offen: Hätte Ferhat überleben können, wenn der Polizist richtig und schnell gehandelt hätte?
Said Edris Hashemi wurde von den Rettungskräften als „menschlicher Schutzschild“ benutzt. Er berichtet, wie er mit drei Schusswunden auf der Trage lag, als jemand behauptete, dass der Täter zurückgekehrt wäre. Said Edris Hashemi erklärte gegenüber Medien, wie sich die Rettungskräfte hinter der Trage versteckten, obwohl sie sich auf einem öffentlichen Parkplatz mit Autos und Steinen befanden, wo es genug andere Möglichkeiten zum gab, um sich zu verstecken.
Als seine Lage kritisch wurde und er eigentlich ins Krankenhaus gebracht werden müsste, habe der Einsatzleiter laut Hashemi den Sanitätern verboten loszufahren. Es hieß: „Keiner fährt hier los, bevor die Situation geklärt ist.“
Die Polizei und Politik weisen bis heute ein Behördenversagen von sich. Zudem ergab ein Ermittlungsverfahren, dass der Täter keine Mitwisser gehabt hätte. Çetin Gültekin sieht das anders, er erklärt, dass der Vater des Täters mehrmals angedeutet habe, seinen Sohn unterstützt zu haben. Sie bestreiten, dass Polizisten angeordnet hätten, den Notausgang zu schließen: 2013 und 2017 wurde von der Polizei festgestellt, dass der Notausgang verschlossen war. Das sei aktenkundig.
Die Akte der Staatsanwaltschaft zur Prüfung weiterer Mittäter und Mitwisser, ist geschlossen. Durch die Klage der Angehörigen und die Bemühungen der Initiative kam ein Untersuchungsausschuss zustande. Dort sagten Angehörige und Zeugen aus. Die Anklagepunkte beziehen sich aber nicht nur auf weitere Mitwisser und -täter. Im Mittelpunkt steht der Verschluss des Notausgangs, aber auch politische Reaktionen werden kritisiert. Das Ergebnis des Untersuchungsausschusses steht noch aus. Die Angehörigen und die Initiative möchten den Fall öffentlich austragen. Durch öffentliche Veranstaltungen und Medienpräsenz wollen sie weiterhin Druck auf die Politik ausüben.
Piter Bilal Minnemann ist frustriert und klagt über das Verhalten der Behörden und der Politik. In den zwei Jahren nach dem Anschlag in Hanau habe sich für ihn nicht viel geändert. „Wir, die Angehörigen und Überlebenden, müssen die Arbeit der Behörden und der Politiker übernehmen“, sagt er. Dank der Ermittlungsarbeit und dem Einsatz der Familien sei es überhaupt zu dem Untersuchungsausschuss gekommen. Weder die Polizei, noch die Politik, noch andere Behörden hätten laut Piter Bilal „sinnvolle und zielführende“ Arbeit geleistet. „Wäre der Anschlag heute noch mal passiert, hätte ich nicht die Polizei gerufen“, sagt er.
Auch Armin Kurtović kritisiert die Ermittlungsarbeiten. „Wären neun Pandabären im Zoo gestorben, müsste der Landtag sich die Ohren stöpseln, weil der Aufschrei untertragbar wäre. Mein Sohn wurde ermordet. Und man tut so, als ob es eine herkömmliche Tat wäre. Das Leben meines Sohnes ist nicht so viel wert wie das eines Pandas“, so Kurtović.
Es bleiben viele weitere offene Fragen nach dem Anschlag in Hanau. Auch bleibt die Wut, der Zorn, die Enttäuschung und vor allem der Schmerz. Und es bleibt der Kampf, den jedes einzelnes Familienmitglied der Opfer und alle Überlebenden jeden Tag führen. Es bleiben die Erinnerungen an die neun Menschen, dessen Leben genauso wertvoll und lebenswert war wie das aller anderen Menschen. Nur wenige Schüsse und Sekunden hat es gebraucht, um diese Leben erlöschen zu lassen. Aber ein ganzes Leben lang werden sie in Erinnerung bleiben.