Auf einer Fachtagung widmet sich der Islamrat für die Bundesrepublik dem Thema der Radikalisierung muslimischer Jugendlicher. Experten sind sich einig: Radikalisierungsverläufe und ihre Ursachen sind komplex. Der Umgang mit ihnen muss gesamtgesellschaftlich gedacht werden.
Am 11.-12.2.2022 kamen in Köln Experten, Akademiker, Vertreter von Religionsgemeinschaften und anderen zivilen Organisationen auf der Fachtagung „Radikalisierung, Extremismus und Religiosität – Muslimische Jugendliche im Radikalisierungsdiskurs“ zusammen. Ziel der hybriden Tagung war es, Ursachen der Radikalisierung muslimischer Jugendlicher zu analysieren und mögliche Lösungswege zu erörtern. Organisiert wurde die Tagung vom Islamrat der Bundesrepublik Deutschland.
Bei der zweitägigen Fachtagung ging es unter anderem um die Begriffe des Radikalisierungsdiskurses zwischen wissenschaftlicher Definition und praktischer Anwendung, die Instrumentalisierung theologischer Quellen, soziale und psychologische Ursachen für Radikalisierung, die muslimische Jugendarbeit und die Rolle der Religionsgemeinschaften im Radikalisierungsdiskurs.
„Mit der heutigen Fachtagung sollen wichtige Fragen über Radikalisierungsursachen, die Notwendigkeit und die Risiken des Radikalisierungsdiskurses aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden“, erklärte Burhan Kesici, Vorsitzender des Islamrats, in seiner Begrüßungsrede. Für Kesici müssen Muslime die Deutungshoheit über islamische Begriffe zurückgewinnen, da viele von ihnen im aktuellen Sprachgebrauch negativ konnotiert seien. „Wir sind bereit für den Diskurs“, betonte Kesici.
Prof. Christopher Daase vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) erklärte in seinem Inputvortrag über die Annäherung an die Begriffsdefinition von Radikalisierung, Radikalismus und Extremismus, dass Radikalisierung ein Prozess sei. Dieser könne zu Terrorismus und Gewalt führen. Es gebe aber auch eine erweiterte Radikalismusdefinition, die auch positive Radikalität umfasse.
In der anschließenden Podiumsdiskussion mit Prof. Dr. Werner Schiffauer, Dr. Ali Özdil und Prof. Dr. Daase und Dr. Uwe Kemmesies über die Begriffe des Radikalisierungsdiskurses hob Prof. Schiffauer hervor, dass islamische Religionsgemeinschaften und ihre Moscheegemeinden „keine Probleme“ damit hätten, bei Präventionsmaßnahmen mitzuwirken. „Sie haben bei solchen Themen immer ein offenes Ohr“, so Schiffauer. Das Problem liege bei einem weiten Radikalisierungsbegriff, der großen Raum für Interpretationen zulasse. Schiffauer warb dafür, den Beitrag der Muslime für den gesellschaftlichen Frieden deutlicher anzuerkennen.
Laut Prof. Daase sei es schwer, eine Tat zu benennen, ohne die geäußerte Motivation zu beschreiben. Vor allem dann, „wenn Gewalttäter die Religion zur Rechtfertigung von ihren Taten benutzen“, so Daase.
Dr. Ali Özdil, Leiter des Islamischen Wissenschafts- und Bildungsinstituts in Hamburg, beschrieb, wie verzerrte Begriffe im täglichen Leben die Wahrnehmung, insbesondere über Muslime, veränderten. Als Beispiel nannte er einen Lehrer, der ihn anrief und nachfragte, ob er mit dem „islamistischen Bildungsinstitut“ verbunden sei.
Vor dem zweiten Podium wies Claudia Dantschke von der Beratungsstelle Grüner Vogel e. V. in ihrem Vortrag zu den Räumen der Radikalisierung auf die Bedeutung der Familie hin: „Der beste Schutz gegen eine Radikalisierung ist die Befähigung der Jugendlichen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, und die Familie ist dabei notwendig“, so Dantschke.
Burcu Temel aus der Jugendarbeit der Islamischen Religionsgemeinschaft des Landes Nordrhein-Westfalen (IRG NRW) sagte im anschließenden Podiumsgespräch, dass die muslimische Jugendarbeit einen enormen Beitrag für eine positive geistige, schulische, soziale und theologische Orientierung von Jugendlichen leiste. Daher solle man sie nicht als Präventionsarbeit betrachten. Eine solche Perspektive würde den Teilnehmern, wenn auch ungewollt, unterstellen, sie könnten problematische Neigungen haben. „Jugendarbeit heißt, Orientierung zu bieten und in schwierigen Lebenslagen füreinander da zu sein. Sie ist eine Stärkung. Und das hält natürlich auch davon ab, auf die schiefe Bahn zu geraten“, betonte Temel auf dem Podium.
Passend dazu sprachen auf dem nächsten Podium Vertreter muslimischer Jugendorganisationen über Chancen und Herausforderungen der muslimischen Jugendarbeit. Ahsen Büşra Günestepe, Vorstandsmitglied der IGMG-Frauenjugend, erklärte, dass sich muslimische Jugendarbeit strukturell nicht von der klassischen Jugendarbeit unterscheide. Der Kern der Arbeit sei derselbe: das Ehrenamt.
Für Hedajat Ferati von der Union der Islamisch-Albanischen Zentren in Deutschland (UIAZD) sei es wichtig, dass man allen Jugendlichen die Tür offenlasse, „egal welche Sprache die Person spricht oder Bildungsstand sie hat“. Dem Vorsitzenden der DITIB-Jugend Mustafa Sali Durdubaş zufolge sei die muslimische Jugendarbeit essenziell. „Mit der muslimischen Jugendarbeit schaffen Muslime einen Safe Spaces, um sich ohne Bedenken über relevante Themen aussprechen zu können. Ohne Einschränkungen und Vorurteile“, so Durdubaş. Auch der DITIB-Jugendvorsitzende sprach sich dagegen aus, die muslimische Jugendarbeit per se als Präventionsarbeit zu betrachten.
DDer Theologe Dr. Abdurrahman Reidegeld konzentrierte sich in seinem Inputvortrag auf den Missbrauch religiöser Quellen in Vergangenheit und der Gegenwart. Dabei präsentierte Dr. Reidegeld Beispiele dafür, wie in Christentum, Buddhismus und Islam die Hauptquellen im Laufe der Geschichte instrumentalisiert wurden. Auf dem Podium erklärte Prof. Dr. Ömer Özsoy vom Institut für Islamische Kultur- und Religionswissenschaft der Frankfurter Goethe-Universität, dass die Instrumentalisierung der religiösen Quellen durch politische Interessen noch mehr verschärft wurden. Ramazan Uçar vom Gelehrtenrat des Islamrats betonte, dass die eingehende Beschäftigung mit klassischen religiösen Quellen im Ausland nicht zu einer Radikalisierung führe, sondern vielmehr davon abhalte. „Ich habe islamische Theologie in Syrien und in der Türkei studiert und habe mich nicht radikalisiert“, so Uçar.
Dr. Nahlah Saimeh konzentrierte sich in ihrem Inputvortrag auf die Perspektive der forensischen Psychiatrie. „Die Ideologie, mit der man Gewalttaten ausübt, ist gewissermaßen ein spezifisches kulturelles Gefäß für eine persönliche Problematik“, meint die Expertin. Denn jeder Mensch habe das Bedürfnis, gebraucht zu werden. Genau hier knüpften extremistische Gruppen an, und „geben der Person ein Gefühl der Zugehörigkeit“, erklärt Saimeh auf dem Podium.
Die stellvertretende Vorsitzende der Schura Hamburg, Özlem Nas, untermauerte diese Aussage und nahm Moscheegemeinden in die Pflicht. „Moscheegemeinden dürfen nicht den Fehler machen, Jugendliche, die anfangen, sich extremistischen Gruppen zugehörig zu fühlen, auszugrenzen. Diese Jugendlichen müssen wir erneut gewinnen“, so Nas.
Ali Ibrahim Eken, Koordinator von Fudul – Zentralstelle für Islamische Wohlfahrt und Soziale Arbeit, erklärt aus praktischer Perspektive, wie Fudul mit niedrigschwelligen Angeboten versuche, Jugendliche zu erreichen. Ziel sei es, ihnen zu zeigen, dass „wir sie verstehen und für sie da sind“, so Eken.
Das folgende Podium beschäftigte sich mit Chancen und Möglichkeiten der Präventions- und De-Radikalisierungsarbeit. Florian Endres, Zuständiger für die De-Radikalisierungsstelle des BAMF, machte auf die Präventions- und De-radikaliserungsnetzwerke aufmerksam. „Ein Netzwerk aus mehreren Strukturen ist bedeutsam in der Arbeit in der De-radikalisierung; Ansprechpartner in vielen Belangen gehören dazu“, erklärte Endres.
Für Dr. Julian Junk vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) müssen die Präventionsmaßnahmen und De-Radikalisieurngsmaßnahmen durch die Wissenschaft kritisch begleitet und evaluiert werden. „Der De-Radikalisierungsbegriff ist nicht unumstritten, sondern eine Frage der Definition, die auch eingegrenzt werden muss.“
Tarık Gürleyen war acht Jahre lang in der Deradikalisierungsarbeit tätig und betont, dass die Perspektive wichtig sei. „Wenn wir über Begriffe reden, müssen wir schauen, aus welcher Perspektive wir diese Begriffe betrachten. Die Perspektive ist wichtig, um bestmöglich darauf zu reagieren.“ Dies zeige sich auch bei der Beratung. Voraussetzung für jede Beratung sei eine gute Fallanamnese. Aus dem sich daraus ableitenden Bild sollten die passenden Fachleute eingesetzt werden. „Dies müssen nicht unbedingt Islamwissenschaftler sein“, betonte Gürleyen.
Gegen Ende der Fachtagung ging es um die Notwendigkeit und Risiken des Präventionsdiskurses. Hierzu leitete Dr. Richard McNeil-Willson mit einem Vortrag zu den „Auswirkungen des Sicherheitsdiskurs auf Muslime – ein europäischer Vergleich“ ein. Prof. Dr. Werner Schiffauer erklärte, dass in der Beziehung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften Vertrauen „notwendig ist“, vor allem zu denen, die nicht negativ aufgefallen seien. Das sah Murat Gümüş, Generalsekretär des Islamrats, genauso und wies darauf hin, dass die staatliche Finanzierung nachrangig sei. Vielmehr sehe er Nachholbedarf bei der Anerkennung der Leistung der Gemeinden. Außerdem sprach sich Gümüş dafür aus, kritischen Stimmen im Präventionsdiskurs Gehör zu schenken. Sie würden zu ihrer Optimierung beitragen.
Auf dem letzten Podium diskutierten Prof. Dr. Jens Ostwaldt, Dr. Thomas Schmidinger und IGMG-Generalsekretär Bekir Altaş über die Rolle von Religionsgemeinschaften im Radikalisierungsdiskurs. Dr. Thomas Schmidinger machte darauf aufmerksam, dass die Radikalisierung ein gesamtgesellschaftliches Problem sei. „Es geht nicht, dass die Politik die Muslime damit beauftragt, ihre eigenen Mitglieder zu de-radikalisieren“, so Schmidinger. Präventionsarbeit sei nicht Sache der Moscheegemeinden. Sinnvoll wäre laut Schmidinger, dass Moscheegemeinden ihren Mitgliedern Wissen vermitteln, wie „angstfreie, aber durchaus haltgebende Erziehung bei kleinen Kindern“ machbar wäre. Damit könne vieles „schon präventiv“ verhindert werden.
Für Prof. Dr. Jens Ostwaldt sollten sich islamische Religionsgemeinschaften in dem Präventionsdiskurs verorten, jedoch „nicht dazu gezwungen werden, auch proaktiv Projekte umzusetzen“.
Bekir Altaş betonte indes, dass Moscheen eine wichtige Rolle bei der Identitätsentwicklung junger Menschen einnehmen würden. „Wir sehen in unseren Moscheen, dass sich durch die Arbeit der Imame, Ehrenamtler und Eltern, die Jugendlichen in einer stabilen und gesunden Atmosphäre entwickeln“, erklärt Altaş.