Bosnien-Herzegowina

Orgie der Gewalt – Zum Beginn des Bosnien-Krieges vor 30 Jahren

Der Zerfall Jugoslawiens setzte ab 1991 eine Spirale von Hass und Gewalt auf dem Balkan in Gang. Vor 30 Jahren begann in Bosnien-Herzegowina der mörderischste der sogenannten Jugoslawien-Kriege.

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04
2022
Tausende Bosniaken flüchten aus Bosnien © Anadolu Images, bearbeitet by iQ
Tausende Bosniaken flüchten aus Bosnien © Anadolu Images, bearbeitet by iQ

„Die BRD beschließt in Absprache mit der EG und den USA, Bosnien-Herzegowina mit Wirkung vom 7.4.1992 als unabhängigen Staat anzuerkennen.“ Hinter dem dürren Satz in der Deutschland-Chronik der Bundeszentrale für politische Bildung verbirgt sich ein monströser Konflikt. Vor 30 Jahren nahm der Bosnien-Krieg seinen Anfang. An seinem Ende 1995 sollten schätzungsweise 100.000 Tote stehen. Rund zwei Millionen Frauen, Männer und Kinder mussten ihre Heimat verlassen. Die Narben sind bis heute nicht verheilt.

Unabhängigkeit von Bosnien-Herzegowina

Mit dem Zerfall Jugoslawiens brachen ab 1991 die schon länger schwelenden Gegensätze in dem Vielvölkerstaat offen aus. Nachdem bereits Slowenien, Kroatien und Mazedonien ihre Unabhängigkeit erklärt hatten, zog Bosnien-Herzegowina im Frühjahr 1992 nach. Zur treibenden Kraft wurde Alija Izetbegovic, der Führer der Muslime, der stärksten Bevölkerungsgruppe in Bosnien.

Die bosnischen Serben waren gegen die Abkehr von Jugoslawien. Serbiens Präsident Slobodan Milosevic goss von Belgrad aus Öl ins Feuer. Seine orthodoxen Landsleute in Bosnien-Herzegowina drohten zu Bürgern zweiter Klasse „irgendeines islamischen Gottesstaates“ zu werden, rechtfertigte er später die Position der Serben. Die meist katholischen Kroaten favorisierten dagegen eine engere Anbindung an Kroatien.

„Man sollte den Faktor Religion nicht überbewerten“, sagt die Münchner Historikerin Marie-Janine Calic. „Der Krieg wurde aus säkularen, nationalistischen Motiven heraus geführt. Aber es gab und gibt eine unheilige Allianz zwischen dem Nationalismus und den einzelnen Religionsgemeinschaften.“

Das Blutvergießen begann mit der Einkesselung von Sarajevo. 1.425 Tage lang blieb die Stadt der Olympischen Winterspiele von 1984 eingeschlossen; die längste Belagerung im 20. Jahrhundert. Der Krieg gipfelte im Massaker von Srebrenica, bei dem serbische Einheiten unter Ratko Mladic im Sommer 1995 mehr als 8.300 bosnische Muslime töteten. Ein tiefdunkler Moment der europäischen Nachkriegsgeschichte.

„Minenfeld Balkan“

Am 28. August 1995 schlug auf dem Marktplatz von Sarajevo eine von den serbischen Belagerern abgefeuerte Granate ein und tötete 37 Menschen – „eine Granate zuviel“, wie Olaf Ihlau und Walter Mayr in ihrem Buch „Minenfeld Balkan“ schreiben. Mit dem Massaker wuchs der Druck auf die bis dahin eher zögerlich agierenden USA, ihrem Anspruch als westliche Führungsmacht gerecht zu werden und für ein Ende der Kämpfe zu sorgen.

Auf einem Luftwaffenstützpunkt in Dayton (Ohio) kasernierten die US-Amerikaner unter Führung ihres Balkan-Sonderbeauftragten Richard Holbrooke die Vertreter der Konfliktparteien ein – bis eine unterschriftsreife Vereinbarung stand, die am 14. Dezember 1995 in Paris unterzeichnet wurde.

Mehr als ein Vierteljahrhundert später überwiegt Ernüchterung. Zwar beendete der Vertrag Mord, Vertreibung und Zerstörung in Bosnien-Herzegowina; doch der Friede bleibt fragil. Unlängst erst schickte Papst Franziskus seinen Außenminister Erzbischof Paul Gallagher in das Land. In den vergangenen Monaten hatten unter anderen Religionsvertreter von zunehmenden Spannungen berichtet. Manche warnten, es könne zu neuen Kämpfen kommen.

Föderation Bosnien und Herzegowina

Einen Ausdruck findet die vertrackte Lage auch in den zwei quasi-autonomen „Entitäten“, aus denen Bosnien-Herzegowina heute besteht: die Föderation Bosnien und Herzegowina, in der die Bosniaken immer noch von einem eigenen Nationalstaat träumen, und die Republika Srpska, deren starker Mann Milorad Dodik mit Russland flirtet und immer wieder eine Abspaltung ins Spiel bringt. Dazu gibt es noch das Sonderverwaltungsgebiet Brcko im Norden mit rund 44.000 Einwohnern. Das alles auf einer Fläche, die etwa der Größe Niedersachsens entspricht.

Milliardenschwere Finanzhilfen, die Präsenz von EUFOR-Truppen und ein zur Überwachung der Vereinbarungen von 1995 installierter „Hoher Repräsentant“ – seit August 2021 der frühere Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) – haben einen Status quo eingefroren, den die neue Bundesregierung nun offenbar aufweichen will.

Bei ihrer ersten Balkan-Visite wurde Außenministerin Annalena Baerbock Anfang März von ihrem Grünen-Parteifreund Manuel Sarrazin begleitet, der seit kurzem Sonderbeauftragter der Bundesregierung für den Westbalkan ist. Gerade vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine wolle Deutschland „die Region im Herzen Europas nicht dem Einfluss Moskaus überlassen“, betonte die Ministerin.

Bei der Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina rufen die Bilder aus Kiew, der Krim und dem Donbass unterdessen die Erinnerung an die eigenen Kriegserlebnisse und die Zeit der Mangelversorgung wach, wie die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stitung unlängst berichtete. In Teilen des Landes sei es zu Hamsterkäufen und längeren Schlangen an Geldautomaten gekommen. (KNA/iQ)

 

Leserkommentare

Evergreen sagt:
Fairerweise sollte man auch Folgendes im Auge behalten : Die EU hatte Bosnien-Herzegowina Anfang April 1992 anerkannt unter der VORRAUSSETZUNG, dass dieses neue Land wie die Schweiz Kantone erhält und diese gewisse Selbstverwaltungsrechte bekommen. Izetbegovic ließ sich auf diese Bedingung ein und unterschrieb. Mit dem Flugzeug zurückgekehrt, wurde er schon am Flughafen in Sarajewo von wütenden Bosniaken empfangen, welche solchen Kantonen keinesfalls eine gewisse Autonomie zugestehen wollten. Daraufhin Izetbegovic noch am Flughafen, dass er dies ja nur unterschrieben habe, um die staatliche Anerkennung zu erhalten. Aber natürlich werde man keine Kantone einrichten und auch keine gewisse Autonomie zugestehen. Mit diesem schuldhaften Wortbruch wurde jeder Kompromiss unmöglich. Das Verhängnis nahm seinen Lauf, da die Serben solchen Betrug nicht hinnahmen.
06.04.22
2:04
Dilaver_Ç. sagt:
Jeder der es versucht, Alija Izetbegovic sowie den muslimischen Bosniaken die Schuld oder eine Mitschuld am Krieg 1992-1995 zu geben, spielt damit nur in die Hände der serbischen Nationalisten, deren einziges Ziel die vollständige Auslöschung der bosniakischen Bevölkerung und der gewaltsame Anschluss Bosnien-Herzegowinas an Serbien war - und heute noch ist, hätten sie wieder die Gelegenheit dazu. Das ist nichts anderes als Völkermord. Es gab gar keinen Grund, einen Krieg anzufangen. Und erst recht keine Entschuldigung. Insofern ist der klägliche Versuch des Vorkommentators, die Schuld an der Eskalation Alija Izetbegovic unter die Schuhe zu schieben - was nichts anderes ist als Schuldumkehr - aufs schärfste zu verurteilen. Die bosnischen Serben haben entweder ohne wenn und aber als bosnische Staatsbürger orthodoxen Glaubens im souveränen Staat Bosnien-Herzegowina gleichberechtigt und FRIEDLICH mit ihren bosniakischen und kroatischen Nachbarn zusammenzuleben, oder sie suchen sich ein anderes Land zum Leben aus. Punkt.
07.04.22
23:52
Johannes Disch sagt:
@Evergreen Diese fragwürdige Haltung von Izetbegovic rechtfertigt aber nicht den Genozid, den die Serben veranstaltet haben.
08.04.22
11:09
Evergreen sagt:
@Johannes Disch Brutale Kriegsverbrechen relativiere ich grundsätzlich nicht – da brauche ich keine Belehrung. Aber auch „Auschwitz“ und Hitlers brutales Denken in „Mein Kampf“ ersparen es uns nicht, genau hinzusehen, welche schuldhaften Fehler im Vorfeld solche Verbrechen erst ermöglicht haben. Auch beim völkerrechtswidrigen Kosovokrieg muss man doch genau hinsehen, wie mit Trug und Erpressungsversuch dieser eingefädelt wurde. Dabei entschuldige ich doch Milosevic in keinster Weise. „Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären“ (Schiller). Die derzeitigen russischen Kriegsverbrechen werden nicht relativiert, wenn man darauf hinweist, wie lange unsere Politiker sträflich ihren Kopf in den Sand gesteckt und störende Warner dämonisiert hatten.
09.04.22
12:28