Das Pflegekinderwesen in Deutschland bietet eine Alternative für gestrandete Kinder in staatlichen Kinderheimen. Dadurch haben Kinder die Möglichkeit, in familiären Strukturen aufzuwachsen. Oder vielleicht doch nicht? Eine Reportage.
Anis* und Pınar* sind beide bei unterschiedlichen Pflegefamilien aufgewachsen. Anis ist heute 22 Jahre alt und macht eine Ausbildung. Mit neun Jahren kam er in ein Kinderheim, mit 13 in eine Pflegefamilie. Seine Mutter war alleinerziehend. Da sie nicht für Anis und seine sieben Geschwister sorgen konnte, wurden sie, bis auf die zwei Jüngsten, in staatliche Obhut genommen.
Pınar ist 23 Jahre alt und studiert Lehramt. Sie ist die älteste der vier Geschwister. Mit acht Jahren wurde sie zusammen mit ihrer sechsjährigen Schwester an eine Pflegefamilie übergeben. Ihre anderen zwei Geschwister kamen in eine andere Pflegefamilie.
Pınar erzählt aus ihrer Zeit vor der Pflegefamilie: „Als ich in der Schule danach gefragt wurde, warum ich denn nichts zu Essen mitbringe, sagte ich immer, dass ich bereits zu Hause gegessen hätte. Dabei musste ich jedoch jedes Mal daran denken, ob wir nach der Schule zu Hause überhaupt etwas zu essen bekommen würden.“ Schließlich wurde Pınars Mutter in eine Klinik eingewiesen. Noch am selben Tag wurden sie vom Jugendamt an Pflegefamilien übergeben.
„Die ersten Monate war meine Pflegemutter sehr liebevoll zu mir, folglich hatte ich sie auch sehr lieb“, sagt die junge Studentin. Jedoch änderte sich die Einstellung der Pflegemutter zur ihr schlagartig. Kurz darauf wurden sie von ihrer Schwester getrennt. Die Pflegemutter übergab Pınar an ihre 23-jährige Tochter. Davon hat aber niemand etwas mitbekommen. Offiziell war ich nie von meiner Schwester getrennt. Pınar zählt insgesamt acht Pflegekinder in der Familie, dazu habe die Pflegemutter noch leibliche Kinder gehabt. Doch mit der Zeit kamen ständig weitere Pflegekinder in die Familie. „Mit der Zeit wurde mir klar, dass hier Mutter und Tochter die Kinder nicht zum Schutz, sondern wegen des Geldes aufnahmen“, erzählt Pınar.
Die etwas älteren Pflegekinder wurden beauftragt, auf die 2-4-jährigen Kinder aufzupassen. „Ich konnte nicht wie meine Altersgenossen spielen gehen, dafür fehlte mir die Zeit. Wir waren wie gefangene Sklaven. Mit der Zeit nahm auch die psychische sowie physische Gewalt zu. Wenn wir etwas falsch machten, bekamen wir als Strafe nichts zu Essen – denn so mache man das auch in Gefängnissen, sagten sie uns. Meine kleine Schwester und ich machten ständig Pläne, wie wir weglaufen könnten“, erzählt Pınar.
Vor dem Treffen mit ihren leiblichen Eltern wurden sie von ihrer Pflegemutter manipuliert. Ihre Eltern seien „böse Menschen“ und würden Pinar und ihre Schwester „abstoßen“. Eingeschüchtert und verängstigt, trafen die Mädchen ihre leiblichen Eltern immer seltener. „Bei jedem Treffen erkannten wir die tiefe Trauer in den Augen unserer leiblichen Eltern“, sagt Pınar. Heute hat Pınar täglich Kontakt zu ihrer leiblichen Familie.
Erst mit 17 Jahren schafft es Pınar ihre Geschichte an das Jugendheim zu übermitteln. Beide Familien – Mutter und Tochter – erhielten jeweils ein Bußgeld in Höhe von 3.500 € und alle Kinder wurden in die Obhut des Jugendamts genommen. Ein Jugendheim sei für Pınar „kein passender Ort für ein 17-jähriges Mädchen“ gewesen, da dort auch „drogenabhängige und kriminelle Jugendliche“ untergebracht wurden. Jugendheime bieten daher keine idealen Möglichkeiten, erzählt Pınar.
Anders als Pınar habe sich Anis bereits in kürzester Zeit in die Familie integrieren können. „Ich habe niemals das Gefühl verspürt, ein Pflegekind zu sein und wurde stets als leibliches Kind behandelt. Auch von Verwandten meiner Pflegefamilie wurde ich stets mit Respekt und Liebe behandelt“, erzählt Anis. Mit den anderen Kindern in der Familie habe er ein sehr geschwisterliches Verhältnis.
Da Anis ein durch und durch strukturiertes und liebevolles Familienleben erleben durfte, wo doch einige seiner Geschwister in Kinderheimen aufwuchsen, fühlte Anis sich deswegen schuldig. Denn in Kinderheimen gäbe es strikte Vorschriften, an die man sich halten müsse. „In meiner Pflegefamilie konnte ich jedoch jedes beliebige Thema ansprechen“, so Anis.
Wo Anis sehr positive und vielfältige Erfahrungen machte, erfuhr Pınar ein sehr beschränktes Leben. So wurde ihr und ihrer Schwester das Türkisch sprechen verboten, wodurch die Schwestern in ständiger Angst lebten. Auch wurden ihre Kultur und Religion ständig erniedrigt. „Sie drohten meiner Schwester und mir damit, wenn wir nicht gehorchten, dass unsere Eltern des Landes verwiesen würden“, erinnert sich Pinar. „An christlichen Feiertagen waren wir in Kirchen. Den Islam kannte ich damals kaum. Ich war sehr verwirrt. Bereits vor meiner Pubertät erlebte ich eine sehr intensive Identitätskrise“, so Pınar weiter.
Für Anis hat die Erfahrung, in einer Pflegefamilie zu leben, hauptsächlich eins gelehrt: die Bedeutung einer funktionierenden Familie. Heute ist Anis verheiratet und ein junger Vater. Das, so sagt er, verdanke er seiner Pflegefamilie.
Die Geschehnisse in ihrer Familie hätten Pınar zu einem skeptischen Menschen gemacht. Daran sei aber für Pınar allen voran das Jugendamt schuld, sagt sie. Wenn die zuständigen Mitarbeiter ihrer Verantwortung nachgekommen wären, hätten „beiden Familien niemals unkontrolliert so viele Kinder anvertraut werden dürfen“, so Pinar. Höchstens 1-2 Kinder sollten Familien aufnehmen dürfen. Andernfalls bestehe die Gefahr, pflegebedürftige Kinder für kommerzielle Zwecke auszubeuten. „Viele Kinder erleiden dasselbe Schicksal wie meine Schwester und ich. Das Kindeswohl sollte an erster Stelle stehen“, unterstreicht Pinar.
Frau Kaya* und Frau Demir* sind Pflegemütter. Frau Kaya hat bereits vier leibliche Kinder, doch entschied sie sich noch ein Pflegekind aufzunehmen, um ihm Geborgenheit zu schenken. Neben drei leiblichen Kindern nahm auch Frau Demir* ein Pflegekind in ihre Familie auf. Motiviert und zufrieden mit dem Resultat als Pflegemutter, folgte ein Zweites. Dabei erzählt sie aber auch über ihre persönlichen negativen Erfahrungen bei staatlichen Stellen, teilweise über den rassistischen und diskriminierenden Umgang der Jugendämter. Auch wenn die Kriterien für Pflegefamilien vom Bund geregelt sind, variierten Bestimmungen und Anwendungen in den Ländern.
Als Frau Demir ihren Antrag auf Pflegefamilie stellt, wird sie zunächst abgewiesen. Man hätte derzeit kein Bedarf an Pflegefamilien, zitiert Frau Demir das Jugendamt. Im Nachhinein habe sich herausgestellt, dass das Jugendamt – gegen die gesetzlichen Regelungen – keine Familien mit einer Religionszugehörigkeit aufnehme. „Erst nachdem ein bekannter Polizist beim Jugendamt angerufen hat und sich über den Fall erkundigt hat, riefen sie uns zu einem Gespräch. Das Gespräch haben wir jedoch abgelehnt“, erzählt Frau Demir. Später haben sie bei einem anderen Jugendamt gemeldet, dort sei der Ablauf ganz anders gewesen. „Man hat uns sehr freundlich und respektvoll behandelt. Das Problem liege eigentlich nicht am System, sondern an den Mitarbeitern“, so Demir.
Im Pflegekinderwesen wirken Trägervereine organisatorisch mit. So leiten die Jugendämter die Pflegefamilien für weiterführende Prozesse an die Träger weiter. Sie organisieren etwa verpflichtende Bildungsseminare für Pflegefamilien und sorgen dafür, dass Pflegekinder ordnungsgemäß bei den Familien ankommen.
Auch hier erfahren Pflegefamilien Rassismus und Diskriminierung. „Wir dürfen Ihnen keine Kinder geben“, zitiert Frau Kaya eine Mitarbeiterin des Trägervereins. „Mein Deutsch sei ungenügend und dass ich zu Hause bete, stelle auch ein Problem dar. Ich ließ natürlich nicht locker und holte mir Hilfe vom Jugendamt, worauf ich schließlich zugelassen wurde“, erzählt Frau Kaya. Als sie aber über drei Jahre keine Rückmeldung vom Trägerverein erhalten hatte, schaltete sie wieder das Jugendamt ein. Der Grund: Die Mitarbeiterin hätte die Akte wohl vergessen!
Frau Kaya weist darauf hin, dass das Durchführen von religiösen Praktiken, manchmal von einigen Mitarbeitern negativ aufgefasst werden können. So habe ein Mitarbeiter vom Jugendamt bei häuslichem Besuch bzw. Kontrolle nach ihrem Familienfoto gefragt und wollten wissen, ob ihre Töchter auch „religiös bedingt Kopftücher trugen“.
Letztendlich halten beide Pflegemütter fest, dass Jugendämter ihr Bestes versuchen, um das Kindeswohl zu schützen und Pflegekinder nach Möglichkeit an Familien mit ähnlichem kulturellem Hintergrund zu übergeben.
Beide Mütter entschieden sich für eine Dauerpflege und gegen eine Kurzzeitbetreuung. Der Gedanke, sich später beim Kurzzeitpflegemodell vom Kind zu trennen, habe beide erschreckt. „Ich möchte aber das Kind nehmen und ihm eine Familie und ein Zuhause sein“, betont Frau Kaya abschließend.
Die Gespräche führten Meltem Kural und Fatma Yılkın. Eine detaillierte Fassung erschien zuvor in der türkischen Zeitschrift Perspektif.
*Namen von der Redaktion geändert.