Warum gibt es Menschen mit einer Behinderung? Diese Frage wird von Religionen und Weltanschauungen unterschiedlich bewertet. Ein Gastbeitrag von Dr. Süleyman Turan.
Es gibt wohl keinen Menschen, der nicht mit unerwarteten Ereignissen konfrontiert wurde und sich gefragt hat: Warum ich? So dürfte es auch bei Menschen mit einer Behinderung sein. Schon seit Langem beschäftigen sich Menschen mit der Frage, warum es Menschen mit einer Behinderung gibt und was die Behinderung für diese Menschen bzw. für die Menschheit bedeutet. Die Antworten sind meist theologisch und negativ konnotiert. Diesen negativen Ansätzen begegnen wir heute noch.
Im Koran und den Hadithen werden nicht körperliche Behinderungen als Problem gesehen, sondern spirituelle. Das Phänomen der Behinderung wird im Koran als Lebensrealität angesehen. Hierzu gibt es unterschiedliche Verse: „Es ist kein Vergehen für den Blinden und kein Vergehen für den Lahmen und kein Vergehen für den Kranken“ (Sure Nûr, 24:61), „Und als du mit meiner Erlaubnis die Blinden und Aussätzigen heiltest“ (Sure Mâida, 5:110) und „Und am Tage der Auferstehung werden wir sie versammeln, auf ihren Gesichtern, blind, stumm und taub“ (Sure Isrâ, 17:97). Diesen Koranversen zufolge ist die Behinderung eines Menschen bei Allah kein Kriterium für Überlegenheit oder Unterlegenheit.
Zudem ist im Koran erkennbar, dass metaphorische Verweise besonders auf die Fähigkeit des Sehens, Hörens und Sprechens rekurrieren. Es ist von jenen die Rede, die Augen besitzen, aber die Wahrheit nicht erkennen können (Sure Bakara, 2:17; Sure Mâida, 5:71) und diejenigen, die die göttliche Offenbarung und die Wahrheiten des Universums hören (Sure Anfâl, 8:22; Sure Yûnus 10:42). Diese Haltung wird verurteilt.
Der Prophet Muhammad (s) erinnert daran, dass Herausforderungen auch eine Gelegenheit für Erlösung und Reinigung sein können. „Allah deckt nicht nur die Fehler und Sünden des Muslims wegen jeder Katastrophe, die ihm widerfahren ist, einschließlich eines sinkenden Dorns, sondern erhöht ihn auch bis zu einem gewissen Grad.“ In einem weiteren Hadith erklärt der Prophet, dass wenn sich ein Muslim mit seiner Behinderung geduldig zeigt, er mit dem Paradies belohnt wird (Buhârî, Mardâ, 7). Angesichts dessen war es dem Propheten wichtig, diesen Menschen das alltägliche Leben zum einen zu erleichtern und zum anderen sie am Alltag teilhaben zu lassen. So sorgte er dafür, dass sie entsprechend ihrer Interessen und Fähigkeiten Aufgaben erhalten haben, damit sich ihr ein Selbstwertgefühl entwickeln und ihre soziale Akzeptanz gewährleistet wird.
Auch in der heiligen Schrift des Judentums, dem Tanach, stößt man auf Themen wie Blindheit, Taubheit und Lahmheit. In diesem Zusammenhang ist zunächst auf die Wahrnehmung der Schöpfung nach Gottes Ebenbild hinzuweisen. Das Buch Genesis (1:26) sagt aus, dass Menschen – Mann und Frau – als Ebenbild Gottes geschaffen wurden. Diese Situation kann interpretiert werden als „Am Anfang war keine Behinderung.“ Menschen mit Behinderungen auszugrenzen, bedeutet aus dieser Sicht, Gottes Schöpfung nicht zu mögen, was auch in verschiedenen Geschichten im Talmud vermittelt wird.
Gleichwohl heißt es in jüdischen Schriften, dass eine Krankheit oder eine Behinderung eine Strafe Gottes für Ungehorsam sind. Im Buch Deuteronomium (28:27-28) sind Spuren dieses Verständnisses zu sehen. Denn dort heißt es: „Der Herr wird dich mit ägyptischen Furunkeln, Urnen, Juckreiz, Krätze schlagen, die du nicht heilen wirst. Der Herr wird euch mit Wahnsinn, Blindheit und Verwirrung bestrafen.“ Auch im 21. Kapitel des Buches Levitikus, in dem die Regeln über die von Aaron abstammenden Priester beschrieben werden, werden Blindheit, Lahmheit, Zwergwuchs und ein Buckel als Fehler oder als Verschmutzung angesehen. Geistliche mit solchen Fehlern sind in der Durchführung von Ritualen eingeschränkt.
Es ist ersichtlich, dass Behinderungen wie Blindheit und Taubheit im Tanach manchmal metaphorisch erwähnt werden und dass die Söhne Israels gewarnt wurden, da sie trotz gesunder Augen die Wahrheit nicht sehen und trotz intakter Ohren nicht hören konnten. Schließlich wird das Volk in verschiedenen Teilen des Tanach aufgefordert, alle in der Gesellschaft, mit oder ohne Behinderung, gleichzubehandeln und Menschen mit Behinderungen das Leben nicht schwer zu machen (3. Mose 19,14; 5. Mose 27,18).
Im jüdischen Denken herrscht der Glaube, dass alle Menschen nach dem Bilde Gottes geschaffen seien. Gemäß diesem moralischen Grundprinzip werde alles Erdenkliche versucht, um die Integration von Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft zu erleichtern. Dies beginnt mit barrierefreien Ein- und Ausgängen aller Gebäude, der Druck von barrierefreien Schriften und Lehr- und Gebetsbüchern, die Errichtung von Schulen und dem Entwurf von Lehrplänen.
Das christliche Denken verfügt über eine komplexe, abwechslungsreiche und meist negativ konnotierte Vergangenheit zum Thema Behinderung. Auch wenn dieses Denken heute nicht mehr dominiert, existiert es weiterhin. Im Christentum wird das Thema Behinderung in den ersten vier Bücher des Neuen Testaments behandelt. In einigen dieser Passagen heißt es, dass eine Behinderung als eine Strafe für eine Sünde gedeutet werde, die entweder von ihm selbst oder einem seiner Familienmitglieder begangen wurde.
Es gibt zahlreiche biblische Geschichten über Jesus, in denen er Menschen heilt, die krank, behindert oder aus der Gesellschaft gedrängt wurden. Laut dem Buch der Apostelwerke, das die Ausbreitung des Christentums in den frühen Perioden beschreibt, haben auch die Apostel nach Jesus verschiedene Heilungsereignisse für Behinderte durchgeführt. Eine Geschichte im Johannesevangelium, in der Jesus einem blinden Bettler begegnet, während er mit seinen Jüngern unterwegs ist, verdeutlicht die Haltung Jesu. In dieser Begegnung sagten seine Schüler zu Jesus: „Herr, wer hat gesündigt, sodass dieser Mann blind geboren wurde? Waren es seine Eltern oder er selber? So antwortete Jesu: weder sie, noch er. Er wurde blind geboren, damit Gottes Werke in seinem Leben gesehen werden konnten …“ (Johannes 9,1-34).
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nehmen die Bemühungen, die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an allen Lebensbereichen sicherzustellen, zu. Kirchen und Religionsgemeinschaften werden aufgefordert, die Anwesenheit von Menschen mit Behinderungen in ihren Gemeinschaften zu berücksichtigen, und gegebenenfalls umfassende Schritte zu unternehmen, um die Kirchen barrierefreier zu gestalten.
Indische Religionen bieten eine Antwort auf das Phänomen der Behinderung im Kontext des Karma-Gesetzes. Nach dem Karma-Gesetz hängt das Unglück einer Person mit seinen Taten zusammen, die er in der Gegenwart oder Vergangenheit verübt hat. Für diese Taten wird er dann zu Verantwortung gezogen. Der Buddhismus lehnt die vermittelnde Rolle jeder übernatürlichen Kraft bei der Verringerung der Auswirkungen des Karma-Gesetzes ab. Sikhs hingegen glauben, dass die Auswirkungen von schlechtem Karma reduziert werden können, indem man den Namen Gottes erwähnt oder den Guru Grand Sahib, wertvollster Text des Sikhismus, liest.
Der Schöpfungsgeschichte der japanischen Nationalreligion des Schintoismus‘ zufolge ist die Geburt eines Babys mit einer Behinderung durch die Sünde seiner Eltern verursacht worden.
In den Texten des Konfuzianismus wird das Thema der Behinderung nicht direkt behandelt. Der Konfuzianismus, der auch als moralisches System definiert wird, betont auch die Aufrechterhaltung der hierarchischen sozialen Ordnung und der sozialen Beziehungen. Demzufolge wird Menschen, die weniger körperlich arbeiten können, weniger Wert beigemessen. Im Daoismus wird das Funktionieren des Universums und der Natur durch die Harmonie und das Gleichgewicht von Yin und Yang erklärt. Der Daoismus lehnt die Dichotomie eines Konflikts ab, der auf absoluten Unterscheidungen zwischen Gut und Böse, Gesundheit und Krankheit, Behinderung und Behinderung beruht. Daher hängt eine Behinderung mit einem Ungleichgewicht zwischen Yin und Yang zusammen, das korrigiert werden muss.