Der Islam fordert Schutz für Waisen. Aus diesem Grund entscheiden sich auch muslimische Familien dazu, Pflegekinder aufzunehmen. Jedoch müssen hierbei einige Dinge beachtet werden. Ein Gastbeitrag von Hulusi M. Ünye.
Der Islam misst der Familie als soziale Institution eine große Bedeutung und hat zu ihrem Schutz viele Vorkehrungen getroffen. Wenn es allerdings um Gewalt innerhalb der Familie geht, gilt es, das Recht derjenigen zu verteidigen, denen Unrecht getan wird. So kommt es immer wieder vor, dass Kinder ihren Familien entzogen und in Pflegefamilien untergebracht werden, darunter auch muslimische Kinder. Diese werden dann von nichtmuslimischen Familien aufgenommen. Durch die Zunahme solcher Fälle hat die Thematik mittlerweile auch die muslimischen Gemeinschaften erreicht.[i]
Kinder, die mit Gewalt konfrontiert sind, oder in Familien aufwachsen, die sich aufgrund persönlicher oder sozialer Lebensumstände bei der Erziehung schwertun, werden kurz- oder langfristig einer staatlichen Aufsicht unterstellt. Dies hat zufolge, dass diese Kinder in unterschiedlichen Pflegefamilien oder in Kinderschutzeinrichtungen untergebracht werden.
Untersuchungen haben gezeigt, dass Kinder, die muslimischen Familien entzogen werden, in den meisten Fällen nicht in muslimische Pflegefamilien kommen, sondern in christliche. Diese Kinder werden dann religiös in einem gänzlich anderen Umfeld großgezogen. Das hat mehrere Gründe. Zum einen werden keine muslimischen Familien gefunden, die die Voraussetzungen für eine Pflegefamilie erfüllen, oder diese Familien werden von den Ämtern nicht als passend angesehen. Zum anderen gibt es aber auch viele muslimische Familien, die aus ihrer religiösen Anschauung heraus keine Pflegefamilie werden wollen. Doch wie steht der Islam zu Themen wie Adoption oder Pflegefamilie wirklich?
In vorislamischer Zeit war die Adoption unter den arabischen Stämmen weitverbreitet. Deshalb findet sich weder im Koran noch in der Sunna etwas über das Konzept der Pflegefamilie, so wie es heute verstanden wird. Im Islam wird ein Kind dem Mann zugeschrieben, mit dem die Mutter dieses Kindes verheiratet ist. Die Frau, die ein Kind gebärt, ist dessen Mutter; ihr angetrauter Ehemann, dessen Vater.
Der arabische Begriff „da’y“, der so viel wie Adoption bedeutet, meint die Zuordnung eines Kindes zu jemand anderem als dem leiblichen Vater. So gab es bestimmte Festlegungen zur Adoption, Abstammung, Eheschließung, Scheidung, Erbschaft und angeheirateter Verwandtschaft.[ii] Auch der Prophet Muhammad (s) hat Zayd (r) adoptiert. Mit der Herabsendung folgender Koranverse wurde jedoch die Adoption wieder aufgelöst.: „Allah hat … eure Adoptivsöhne (nicht) zu euren leiblichen Söhnen (gemacht). Das sind (nur) Worte, die ihr im Mund führt. (…) Muhammad ist nicht der Vater eines eurer Männer, sondern Allahs Gesandter und das Siegel der Propheten. Und Allah kennt alle Dinge.“[iii]
Das Kind wird im Islam seinem Vater zugesprochen. Dieser muss jedoch mit der leiblichen Mutter des Kindes verheiratet sein. Aus diesem Grund kann ein adoptiertes Kind nicht als leibliches Kind anerkannt werden und dieselben Rechte (wie z. B. bei der Erbschaft) zugesprochen bekommen.
Dennoch hat der Islam wichtige Maßnahmen ergriffen, damit Waisen und bedürftige Kinder beschützt und betreut werden. Diese Maßnahmen finden eine Form im System der Pflegefamilie. Der Koran und die Hadithe des Propheten (s) betonen, wie wichtig es ist, das Recht der Schwachen zu schützen. Die Betreuung und Beaufsichtigung von Kindern obliegt an erster Stelle der eigenen Familie bzw. den nächsten Verwandten. Finden sich keine Verwandten, übernimmt der Staat die Betreuung dieser Kinder. Der Staat kann das Sorgerecht dann an eine andere passende Familie erteilen. Wichtig ist nur, dass die Kinder in ein behutsames familiäres Umfeld übergeben werden, damit sie zu keinem Problem für die Gesellschaft werden.[iv]
Ein anderes Verfahren im islamischen Recht durch die Betreuung von Kindern ist die „Hidâna“. Dieser Begriff fasst die Rechte, Befugnisse und die Verantwortung zusammen, die der Gesetzgeber bestimmten Personen zugesteht, um Kinder und andere Schutzbedürftige zu beschützen und sich um sie zu kümmern. Die Person, die dieses Recht und diese Verantwortung übernimmt, nennt man „Hâdin/Hâdina“. Kommt es zur Auflösung einer Familie durch den Tod eines oder beider Elternteile, oder weil sie sich trennen, wird jemand mit dem Schutz, der Betreuung und Erziehung der Kinder beauftragt, sodass diese körperlich und geistig gesund aufwachsen können.[v]
Die Bestimmungen zur Pflegefamilie sind kontextabhängig; sie können sich je nach Zeit und herrschenden Bedingungen angepasst werden. Betrachtet man die besondere Situation in Europa, ist es geradezu eine Pflicht, als Pflegefamilie zu agieren, damit muslimische Kinder in einem angemessenen familiären Umfeld aufwachsen können. Aus diesem Grund müssen sich Muslime umso mehr mit dieser Thematik auseinandersetzen.
Neben den rechtlichen und finanziellen Aspekten sollten muslimische Familien, die sich als Pflegefamilien anmelden, auch das Verwandtschaftsverhältnis (Mahram-Status), die eine Heirat im späteren Erwachsenenalter unmöglich machen würde, beachten. Die Familien sollten die Kinder, die sie annehmen, nicht adoptieren. Ansonsten kann es zu zahlreichen problematischen Situationen kommen. Wenn etwa das Kind erwachsen wird, bleibt derselbe Mahram-Status bestehen; auch können dann die leiblichen Kinder ihre Rechte, wie zu erben u. Ä. nicht zur Gänze ausschöpfen.
Kinder, die Pflegefamilien anvertraut werden, sollten nur bis zur Pubertät in der Pflege bleiben. Anschließend entsteht nämlich wiederum die Frage des Mahram-Status. Wenn möglich, sollte ein Kind, das als Baby in Pflege kommt, von der Mutter der Pflegefamilie gestillt werden, sodass sie seine Amme wird. Wenn das Kind aber über die Pubertät hinaus betreut wird, müssen die Verhältnisse im Familienumfeld so beschaffen sein, dass die Bedingungen, die der Islam bezüglich der Verwandschaft vorgegeben hat, eingehalten werden können.
[i] FETÂVÂ. IGMG Din İstişare Kurulu Araştırma ve Kararları – I, “Koruyucu Aile – Almanya Örneği”, S. 164-177, PLURAL Verlag, Köln, 2020
[ii] http://fikih.ihya.org/islam-fikhi/evlat-edinme.html
[iii] Sure Ahzâb, 33:4
[iv] Dr. İbrahim Canan, Kütüb-ü Sitte Muhtasarı, 2/517-5
[v] Muhammed El-Üsrüşeni, İslam Hukukunda Çocuklarla İlgi li Hükümler, S. 107, Cihan Verlag, 1984