PSYCHOLOGISCHE BERATUNG

Kann ein Gläubiger psychisch krank werden?

Psychische Probleme wie Depressionen und Angststörungen sind auch in der muslimischen Gemeinschaft keine Seltenheit. Oft werden sie nur tabuisiert. Eine Kolumne von Dr. Ibrahim Rüschoff.

03
07
2022
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Psychotherapie - Kolumne mit Dr. Ibrahim Rüschoff © shutterstock, bearbeitet by iQ
Psychotherapie - Kolumne mit Dr. Ibrahim Rüschoff © shutterstock, bearbeitet by iQ

Zur Frage, ob ein gläubiger Mensch psychisch krank werden kann, findet man unter Muslimen unterschiedliche Einstellungen. Viele glauben, dass jeder Mensch, ob Muslim oder nicht, natürlich auch psychisch krank werden kann, genauso wie er z. B. Diabetes, Arthrose oder auch eine Krebserkrankung bekommen kann. Andere glauben, dass ein richtiger Muslim mit einem starken Glauben nicht psychisch krank werden kann und verweisen auf die Sure Yûnus (10:57), wo Gott den Koran als eine „Heilung für das, was in Euren Brüsten ist…“ beschreibt. 

Die Antwort auf diese Frage hat erhebliche Folgen für den Umgang mit einer solchen Erkrankung. Sie ist aber auch besonders für alle Muslime wichtig, die seelische Probleme haben oder an einer psychischen Erkrankung leiden und vielleicht sogar Medikamente einnehmen müssen. Sie bekommen schnell Zweifel an der Festigkeit ihres Glaubens und geben sich selbst die Schuld für ihre Erkrankung.

Kann man Schuld sein an seiner Erkrankung?

Wir dürfen nicht vergessen, dass der Koran kein medizinisches Lehrbuch ist. Wenn im Koran von Krankheit gesprochen wird, ist dies überwiegend in übertragenem Sinne gemeint. Krankheit im Koran beschreibt die Einschränkung oder den Verlust der natürlichen Harmonie im Verhältnis zu Gott und den Menschen. In Psychiatrie und Psychotherapie dagegen können wir von Krankheit nur sprechen, wenn der Patient „unfrei“ und damit nicht verantwortlich, also „unschuldig“ ist. Seine Ängste, Depressionen oder Antriebsstörungen sind einfach da, er kann nichts dagegen tun, obwohl er es immer wieder versucht. Diese Unfreiheit unterscheidet ihn vom schuldigen Sünder, der anders handeln könnte, aber es eben nicht tut und sich deshalb dafür verantworten muss. 

Was sind psychische Krankheiten?

Etwas vereinfacht kann man sagen, dass psychische Krankheiten Störungen des Erlebens und des Verhaltens sind. Sie entstehen oft aus einer Kombination von körperlichen, psychischen und auch sozialen Ursachen, die jeweils unterschiedlich bedeutsam sind. 

Ein einfaches Beispiel für eine rein körperliche Ursache für eine psychische Auffälligkeit ist der Alkoholrausch. Alkohol wirkt auf das Gehirn und beeinträchtigt Körperbewegung, Wahrnehmung, Selbsteinschätzung und Stimmung; jeder hat sicher einmal Betrunkene gesehen und erlebt. Aber auch körperliche Erkrankungen wie eine Schilddrüsenunterfunktion oder auch Medikamente wie Cortison können psychische Symptome wie z. B. Depressionen hervorrufen.

Dann gibt es psychische Erkrankungen, bei denen die Veranlagung eine Rolle spielt. Bei der Schizophrenie zum Beispiel haben Verwandte von Patienten ein höheres Erkrankungsrisiko. Da sie aber nicht automatisch krank werden, spielen hier weitere Einflüsse eine Rolle. Man spricht dann von multifaktoriellen Ursachen. Auch bei schweren Depressionen findet man in der Familie vermehrt diese Erkrankung. Beide Krankheiten werden meistens mit Medikamenten und Psychotherapie behandelt, um die Patienten von ihren quälenden Symptomen zu befreien. 

Drittens gibt es eine Gruppe von Krankheiten, die überwiegend erlebnisbedingt sind. Man kann sich z. B. unschwer vorstellen, dass ängstliche Eltern ihren Kindern das Bild einer gefährlichen Welt vermitteln, in der man nicht vorsichtig genug sein kann. Diese Menschen „lernen“ ihre Ängste praktisch zu Hause. Auch führen psychische Extrembelastungen z. B. durch Folter, aber auch schwere Kriegseinwirkungen wie Bombardements insbesondere bei Kindern oft zu schweren Traumatisierungen, die dann eine Reaktion auf eine Extrembelastung darstellen.

Ein einfaches Beispiel aus unserer Praxis zeigt, wie man die Entstehung einer Erkrankung aus dem Erleben einer Konfliktsituation verstehen kann: Ein Patient, der bei seiner Mutter wohnte, wollte heiraten und eine eigene Familie gründen. Gleichzeitig fürchtete er sich aber vor der damit verbundenen Verantwortung. Zur Mutter hatte er immer ein sehr enges Verhältnis gehabt und sorgte sich, dass sie sich durch die Heirat von ihm alleingelassen fühlen könnte. Als unbewusste „Lösung“ des Konfliktes entwickelte er eine Angsterkrankung mit Panikattacken, die es ihm unmöglich machten, das Haus zu verlassen (und damit zu heiraten). In der Therapie lernte er die Zusammenhänge verstehen und diese Ängste zu bewältigen.

Wie wirken sich psychische Krankheiten aus?

Patienten mit Depressionen berichten immer wieder, dass sie keine Liebe mehr für Gott und den Propheten spüren, sich nicht zum Gebet aufraffen und auch nicht mehr im Koran lesen. Sie glauben, dass sie große Sünder seien, ihren Glauben verloren hätten und deswegen depressiv geworden sind. Hier erliegen sie jedoch einem Trugschluss: Eine Depression „drückt“ natürlich auf alle Gefühle, Hoffnung, Liebe und Zuversicht sind kaum noch vorhanden, und damit auch das, was sie als ihren ehemals „starken Glauben“ bezeichnen. Das alles ist aber eine Folge der Depression und nicht deren Ursache. Deswegen erleben sie nach dem Abklingen der Depression auch die Rückkehr dieser Gefühle und damit ihres Glaubens.

Daher sollte man depressive Menschen nicht auffordern, sich doch einmal zu freuen oder mehr zu beten – alles das funktioniert in der Krankheit kaum oder gar nicht. Die Patienten wären die ersten, die damit beginnen würden, wenn sie es nur könnten! Es gilt also, zuversichtlich zu bleiben, dass diese Krankheit bei guter Behandlung vermutlich bald abklingt und man den Patienten besser hilft, ihren alten Rhythmus beizubehalten, auch wenn man dabei einen Gang herunterschaltet und die Kräfte nicht überfordert.

Krankheiten trotz Glauben – Glauben trotzt Krankheiten

Zusammenfassend muss ich als muslimischer Psychiater und Psychotherapeut die Frage, ob auch ein „echter“ Gläubiger mit einem starken Glauben psychisch krank werden kann, mit einem klaren Ja beantworten. Dafür sprechen verschiedene Tatsachen: 

1) Psychische Krankheiten haben oft mit Funktionen des Gehirns zu tun, und dieses kann natürlich genauso erkranken wie andere Körperorgane. Daher treten psychische Krankheiten sowohl bei Muslimen wie Christen, bei Juden, Buddhisten oder Atheisten gleichermaßen auf. 

2) Klug eingesetzte Psychopharmaka können Symptome wie Wahnvorstellungen, Ängste und Depressionen abmildern und beseitigen. Sie beeinflussen den Gehirnstoffwechsel positiv und sind natürlich unabhängig von der religiösen Einstellung. 

3) Am Beispiel des jungen Mannes und seiner Panikattacken erkennt man, wie auch völlig „normale“ Konflikte zu Erkrankungen führen können und man hier sicherlich keinen mangelnden Glauben unterstellen kann. 

Seelische Erkrankungen und Glaube sind jedoch in einem anderen Zusammenhang interessant: Ein starker Glaube, eine intensive, gesunde Religiosität helfen sehr, Krisen und Krankheiten zu bewältigen! Der Glaube an Gott kann z. B. Selbstmordgedanken in Schach halten, die bei Depressionen häufig vorkommen. Und dass wir wissen, dass Gott keiner Seele mehr auflädt, als sie zu tragen vermag (Sure Bakara, 2:286) hilft sehr, schwere Zeiten durchzustehen und alles Notwendige zu tun, um wieder gesund zu werden. 

Diese Fähigkeit des Menschen, mit den Widrigkeiten des Lebens gut fertig zu werden, nennt man Resilienz. Kümmern wir uns also um unseren Glauben und unsere Beziehung zu unserem Schöpfer. Und halten wir uns an unseren Propheten, Friede sei auf ihm, und sein Vorbild, insbesondere auf seine Fähigkeit, auf wirklich schwierige Lebenssituationen mit Gelassenheit und Gottvertrauen zu reagieren.