Immer mehr junge Menschen haben Bedenken vor der Ehe oder glauben, bestimmten Erwartungen gerecht werden zu müssen. Im Interview sprechen wir mit Familienberater Dr. M. Naved Johari über die Hürden und Chancen der Ehe.
IslamiQ: Herr Johari, Sie arbeiten als Lebens- und Familienberater in einer eigenen Praxis. Welche Themen begegnen Sie am häufigsten, wenn sich zukünftige Paare an Sie wenden?
Dr. M. Naved Johari: In meinen Eheschließungsberatungen helfe ich muslimischen Paaren dabei, eine gemeinsame Zukunft gemäß den islamischen Vorschriften zu planen. Tatsächlich sind voreheliche Beziehungen, und hier besonders die Unzucht, also Zinâ, ein stark verbreitetes Phänomen, was oft auch offen gelebt wird. Deswegen versuche ich den Menschen die Sinnhaftigkeit islamischer Werte und Regelungen nahezubringen. Außerdem bemerke ich regelmäßig, dass sich Paare nicht mehr verstehen. In diesen Fällen sind Selbstbezug und Empathie sowie Kommunikation essenziell. Gegenseitiges Verständnis für die Sprachen der Liebe herzustellen, ist dabei eines meiner Lieblingsinstrumente.
IslamiQ: Der Titel Ihrer Dissertation lautet: „Bedeutungen, Werte und Ideale des islamischen Eheverständnisses – Förderung zeitiger Ehe für junge Muslime.“ Was sind die Kernbefunde Ihrer Arbeit? Was bedeutet eine „zeitige Ehe“?
Johari: Die Heirat ist aus islamischer Perspektive sowohl quelltextlich als auch zwischenmenschlich eine zentrale Angelegenheit. Jedoch wird der Hafen der Ehe von der hiesigen neuen Generation der Muslime kaum ohne erschwerende Turbulenzen und Grenzüberschreitungen erreicht.
In meiner Promotion versuche ich diesen Umstand ganzheitlich zu betrachten, inklusive Kontext- und Quelltextanalysen sowie der empirischen Forschung zum Thema. Zu den relevanten Akteuren der Arbeit gehören Jugendliche, deren Eltern, Imame, muslimische, professionelle und nichtmuslimische Experten. Kurz gefasst komme ich zu dem Ergebnis, dass die betroffenen Jugendlichen, deren Familien und die Gemeinden gemeinsam eine Erziehungsstrategie umsetzen müssen, welche eine außereheliche Beziehung vermeidet.
Hierbei spielt der Begriff „zeitige Ehe“ eine zentrale Rolle. Das Wort „zeitig“ wird in der Arbeit im Sinne des Mittelhochdeutschen verwendet und meint „zur rechten Zeit geschehend“. Folglich wird dieser Begriff in der Arbeit so verstanden, dass die betreffenden Jugendlichen bis zur Eheschließung keine Unzucht eingegangen sind. Diese Definition leitet sich von folgendem Koranvers ab: „Auch nähert euch nicht der Unzucht (Zinâ)! Sie ist zweifelsohne eine schändliche Tat und erbärmlich ist dieser Weg!“ (Sure Isrâ, 17:32)
IslamiQ: Was sind die Kerngedanken eines islamischen Eheverständnisses? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es im Vergleich zur Ehe im europäischen Kontext?
Johari: Zwei wichtige Aspekte des islamischen Ehekonzeptes sind das Vertrauen und die Sexualität zwischen Mann und Frau. Damit wird auch eine moralische Aussage getroffen. Die Kategorie der Moral ist in vielen europäischen Staaten – wenn überhaupt gegeben, dann komplett oder zu großen Teilen – losgelöst von Religion. Laut dem Koran wurden Mann und Frau als Paar erschaffen und vervollständigen sich in der Ehe gegenseitig. Liebe, Barmherzigkeit, Geborgenheit, Schutz, gemeinsames Glück, Verantwortung und Jenseitsbezug sind islamische Werte, die nicht immer oder gleichermaßen aus säkularer Perspektive geteilt werden können.
IslamiQ: Was denken Sie, welche elementaren Probleme erleben muslimische Paare vor ihrer Heirat?
Johari: Von außen betrachtet ist es einerseits die Gesellschaft, in der Unzucht verschieden und früh nahegebracht und ermöglicht werden. Andererseits sind es diverse Erwartungen beider Familien, die eine zeitige Ehe erschweren oder verhindern. Zu diesen Erwartungen zählen insbesondere die Nationalität, der Bildungsgrad und der Wohlstand. Letztere vor allem, aber nicht ausschließlich, wird tendenziell von den jungen Männern erwartet.
Von innen her betrachtet fehlt es vielen Ehewilligen an innerer Reife, Wissen und Ressourcen. Diese sind aber notwendig, um die Herausforderung einer Ehe zu meistern, ein Maximum an Familienharmonie sicherzustellen. Charakterliche Reife als Selbstverpflichtung ist hier für junge Erwachsenen der Erfolgsfaktor überhaupt, denn so wird Allahs Wohlgefallen sichergestellt, wie auch die Herzen der Menschen gewonnen.
IslamiQ: Sie haben erwähnt, dass Ehepartner sich ergänzen. Welche Probleme erleben junge Muslime diesbezüglich im europäischen Kontext?
Johari: Das Stichwort hier ist Ebenbürtigkeit. Für die Mehrheit der Gelehrten und Rechtsschulen ist die Ebenbürtigkeit von Mann und Frau keine verpflichtende Voraussetzung für eine Ehe. Die Hanafiten argumentieren, dass im Falle der Ablehnung des Bewerbers seitens des Beschützers (Walî) die Ebenbürtigkeit des Bewerbers in Bezug auf die Ehefrau Voraussetzung für die Gültigkeit des Ehevertrags gegeben sein muss.
Die Ebenbürtigkeit im Allgemeinen und das Kriterium des Vermögens im Speziellen angeht, kann festgestellt werden, dass der hiesigen nichtmuslimische Gesellschaft eine Frau tendenziell in die höhere Schicht des Mannes heiratet. Hierfür ist die Wahrscheinlichkeit zehnmal höher als umgekehrt. Andere Forscher – u. a. Günter Burkart, Professor für Soziologie – weiten den Begriff allerdings auch auf andere sozioökonomische und soziodemografische Aspekte wie Alter, Körpergröße, Bildung, gesellschaftlicher Status usw. aus. Ein signifikanter Anteil an Frauen ist also nicht bereit, sich durch die Partnerwahl „herabzustufen“.
Durch das Gemeindeleben und auch die Beratungspraxis kann ich dieses Phänomen bestätigen, ohne es zunächst zu bewerten. Weiterhin feststellen kann ich nur, dass nicht nur junge muslimische Männer mit entsprechenden Zurückweisungen umgehen müssen und andererseits viele Musliminnen dadurch bedingt entweder später oder auch gar nicht heiraten.
IslamiQ: Welche Rolle spielen islamische Gemeinden bei der Ehe junger Muslime?
Johari: Die Gemeinde übernimmt zwei Kernaufgaben, die normalerweise im Familienverbund angesiedelt sind. Zum einen trägt sie dazu bei, ein Verantwortungsbewusstsein aufzubauen und eine eigenständige Persönlichkeit zu entwickeln. Zum anderen bietet sie einen geschützten Raum, in dem sich junge Muslime kennenlernen können.
Wenn Kleinfamilien diesen Aufgaben nicht nachkommen können, wird es für die organisierten Umma zu einer Pflicht, dies zu übernehmen. Die Frage, welchen Beitrag der Einzelne dazu leisten kann, möchte ich jedem einzelnen Muslim selbstkritisch mitgeben. Vor allem in Zeiten, in denen man Moscheegemeinden und andere muslimische Institutionen gerne schlechtredet.
IslamiQ: Interethnische Partnerschaften werden oft als ein Zeichen von gelungener Integration gesehen. Diese Ehen scheinen in muslimischen Gesellschaften aber ein Tabuthema zu sein. Wie bewerten Sie das?
Johari: Wenn muslimische Familien – egal welcher Herkunft – zusammenkommen, um eine sinnstiftende Ehe für die jüngere Generation gemäß islamischen Werten zu ermöglichen, ist das ein Zeichen für ein gesundes Islamverständnis. Regelmäßig werbe ich dafür, jungen Muslimen die Ehe zu ermöglichen und nicht zu erschweren. Die Verhinderung einer Heirat kann zu einem Doppelleben oder gar zur Unzucht in verschiedenen Stufen führen. Nicht zuletzt kann es zu seelischen Problemen durch fehlende Partnerschaft führen.
Das Interview führte Elif Zehra Kandemir.