PSYCHOLOGISCHE BERATUNG

Was ist Psychotherapie?   

Psychische Erkrankungen sind keine Seltenheit in Deutschland. Wer von seelischen Problemen geplagt wird, sollte sich nicht scheuen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Eine Kolumne von Dr. Ibrahim Rüschoff.

20
08
2022
Was ist Psychotherapie?   
Was ist Psychotherapie?   

Über die Frage, was Psychotherapie eigentlich ist, bestehen unter Nichtmuslimen wie Muslimen sehr unterschiedliche Vorstellungen. Eine Klärung dieser Frage ist auch deshalb wichtig, weil davon die Bereitschaft beeinflusst wird, Psychotherapie in Anspruch zu nehmen, wenn man an Symptomen wie Depressionen, Ängste, Zwänge oder eine Suchterkrankung leidet.

Aber auch Psychotherapeuten sind sich nicht immer einig, was Psychotherapie genau ist, wo ihre Grenzen zur Beratung und zur Seelsorge liegen oder welche Therapieverfahren noch dazu gehören. Es gibt fragwürdige Methoden wie Geistheilung und andere, wissenschaftlich nicht überprüfbare Vorgehensweisen, die manchmal sogar sektiererischen Charakter annehmen. Trotz mancher Meinungsverschiedenheiten sind sich Wissenschaftler einig, was Psychotherapie ist, sodass sich für den therapeutischen Arbeitsalltag brauchbare Definitionen ergeben, auch wenn in letzten Einzelheiten unterschiedliche Meinungen bestehen.

„Psychotherapie“ bedeutet entgegen landläufiger Meinung nicht die Behandlung der Seele, sondern eine Behandlung mit „seelischen“ Mitteln, d. h. mit Gesprächen, also ohne den Einsatz von Medikamenten. Die können zwar unterstützend verordnet werden, sind aber Domäne von Ärzten, im Normalfall des Hausarztes oder Psychiaters, während Psychotherapeuten eher die Wirkung des Gesprächs nutzen.

Da Psychotherapeuten ebenso wenig wie Automechaniker einfach nur „nach Gefühl“ arbeiten können, wenn sie gute Arbeit abliefern wollen, benötigen beide eine ordentliche Ausbildung, was sie von Hobbypsychologen und Freizeitschraubern unterscheidet. Psychotherapeuten lernen daher in der Ausbildung therapeutische Vorgehensweisen, die von einer Vorstellung ausgehen, wie die Symptome zustande gekommen sind und bei Patienten regelmäßig zum Erfolg führen müssen. Das unterscheidet Therapeuten z. B. von erfolgreich arbeitenden Imamen, die, ohne die psychologischen Zusammenhänge zu kennen, im Gespräch mit Ratsuchenden eine tragfähige Beziehung aufbauen und manchmal beachtliche Therapieerfolge erzielen, diese aber nur schwer reproduzieren können.

Therapeutische Verfahren

Seit der Etablierung der Psychologie vor ca. 140 Jahren sind auch viele verschiedene therapeutische Verfahren entstanden und weiterentwickelt worden. Zu den bekanntesten zählen die Psychoanalyse und daraus abgeleitete tiefenpsychologische Therapieverfahren, die Verhaltenstherapie, der systemische Therapieansatz und die sog. humanistischen Verfahren, zu denen die Gesprächspsychotherapie zählt. Praktisch bedeutsam in der heutigen psychotherapeutischen Versorgung der Bevölkerung sind die Psychoanalyse, die tiefenpsychologischen Verfahren, die Verhaltenstherapie und die systemische Therapie, da sie von den Krankenkassen bezahlt werden. Angesichts dieser verschiedenen Verfahren vergleiche ich Patienten gerne mit einer Landschaft, für die Therapeuten mit ihren Therapieverfahren verschiedene Landkarten haben, die wie im Leben unterschiedlich hilfreich sind, je nachdem, ob man wandert oder mit dem Auto unterwegs ist. Diese „Landkarten“ bestehen aus Vorstellungen über die Krankheitsentstehung (z. B. einer Angststörung) und den daraus abgeleiteten therapeutischen Möglichkeiten.

Die Psychoanalyse und die daraus abgeleiteten tiefenpsychologischen Verfahren verstehen die Krankheitsentstehung aus einem unbewältigten und verdrängten, zumeist frühkindlichen Konflikt, der durch Bewusstmachung einer Verarbeitung zugänglich gemacht werden kann. Die Verhaltenstherapie basiert dagegen auf der Annahme, dass ungünstiges Verhalten und krank machende Denkmuster letztlich erlernt wurden. In der Therapie werden dann neue Verhaltens- und Denkmuster systematisch erlernt und eingeübt. Die systemischen Therapieansätze gehen davon aus, dass der Patient seine Symptome aufgrund gestörter Beziehungen oder ungünstiger Kommunikationsmuster als Teil eines Systems, z. B. der Familie, ausgebildet hat, und daher durch Veränderungen im System diese Symptome überflüssig werden.

Von der Psychotherapie abgrenzen muss man die Beratung, die sich an Gesunde in Krisen wendet (z. B. Ehekrise, Erziehungsprobleme), da die Psychotherapie nur kranke Menschen behandelt. Die Seelsorge hingegen versucht einer sich in Not befindenden Person zu helfen und Beistand zu leisten, wobei dieses auch durch gemeinsames Gebet oder religiöse Anleitung geschehen kann. Dieser Beistand kann in der Psychotherapie aus methodischen Gründen nicht erfolgen.

Religion als Chance in der Psychotherapie

Für Muslime stellt sich häufig die Frage, ob die verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren, die in der christlich geprägten, westlichen Welt entstanden sind, überhaupt für sie infrage kommen. Hinzu kommt, dass die Begründer der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie, Freud und Skinner, Atheisten waren und sich einem naturwissenschaftlichen Weltbild verpflichtet sahen. Es war die Sorge religiöser Menschen, nicht nur von Muslimen, dass Psychiater und Psychotherapeuten die Grundlage ihres Lebens, nämlich ihre Religion und ihre Beziehung zu Gott, nicht nur als unwichtig abtun, sondern vielleicht sogar als krankhaft ansehen könnten. Diese Sorge war bis in die späte Hälfte des 20. Jahrhunderts berechtigt. Doch haben sich die Verfahren in der Psychotherapie seit ihrer Entstehung grundlegend weiterentwickelt, sodass sie heute Religion und Spiritualität nicht mehr nur als Hindernis, sondern auch als Chance im Heilungsprozess sehen und berücksichtigen. Die großen Berufsverbände der Psychotherapeuten in den USA, England und auch Deutschland haben hierzu für ihre Mitglieder sogar Empfehlungen gegeben.

Beziehung zwischen Patienten und Therapeuten

Angesichts der Geschichte diskutieren muslimische Therapeuten und Gelehrte in der ganzen Welt seit Jahrzehnten über die Frage, ob es nicht eine islamische Psychologie gibt, die sich aus den Quellen des Islam speist, insbesondere aus Koran und Sunna. Beides sind keine wissenschaftlichen Werke, aus denen man moderne Therapiekonzepte oder gar eine moderne wissenschaftliche Psychologie erstellen könnte, sondern reichen unendlich viel weiter als es eine Wissenschaft kann.

Wissenschaftlich gesichert ist die Tatsache, dass die Therapiemethode nur einen relativ geringen Einfluss auf das Therapieergebnis hat. Entscheidend ist dagegen die Qualität die therapeutische Beziehung zwischen Patienten und Therapeuten, die nicht nur von der persönlichen Passung, sondern auch stark vom Menschenbild des Therapeuten beeinflusst wird. Auf dieser Basis arbeiten auch alle guten Therapeuten erfolgreich, Nichtmuslime wie für Muslime.

Leserkommentare

IslamFrei sagt:
An Hr. Rüschhoff Sehr geehrter Herr Rüschhoff, Muslims laufen ein weit erhöhtes Risiko, in ein islamisches Fettneppchen zu tappen und eine Sünde zu begehen, Haben Sie deshalb einen höheren Anteil an Muslim-Patienten als deren Bevölkerungs-Anteil entspricht? So kam in GB heraus, dass im Leim von Briefmarken ein Tierprodukt verarbeitet ist, wohlmöhlich vom Schwein. Viele Muslms dort gerieten in Panik, " Stell dir vor, Allah erfährt davon " Derlei Überlegungen betreffen normale Menschen zum Glück nicht. Vielen Dank für Ihre Antwort. Best Regards, Islamfrei
21.08.22
19:23