MUSLIMISCHE AKADEMIKER

„Home Sweet Home“ – die Suche nach der Heimat

Akademiker widmen sich den wichtigen Fragen unserer Zeit. IslamiQ möchte zeigen, womit sich muslimische Akademiker aktuell beschäftigen. Heute mit Ferihan Yeşil über Heimat und Migration.

27
08
2022
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Ferihan Yesil - „Home Sweet Home“ - die Suche nach der Heimat
Ferihan Yesil - „Home Sweet Home“ - die Suche nach der Heimat

IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Person und ihrem akademischen Werdegang sagen?

Ferihan Yeşil: Ich bin in München geboren und aufgewachsen, meine Eltern kamen beide aus der Türkei. Ich studierte Architektur in München. Momentan promoviere ich an der Architekturfakultät der TU Berlin im Fachbereich „Bildende Künste“ und arbeite ehrenamtlich an verschiedenen kleinen Projekten.

IslamiQ: Können Sie uns Ihre Dissertation kurz vorstellen?

Yeşil: In meiner Dissertation geht es um die Neukonstruktion von Heimat nach einer Migration und darum, welche Rolle Architektur und Stadt dabei spielen. Das Ganze exemplifiziere ich an Münchner*innen mit türkischer Migrationsgeschichte. Thematisch umfasst mein Forschungsprojekt Themen wie Heimat und Räume, Migration und Stadt, Taktiken der Heimatkonstruktion, Raumaneignung und Teilhabe, „türkische“ Raumkonstitutionen. Da das Thema keineswegs typisch ist für meinen Fachbereich und die traditionellen Forschungsmethoden anderer Fachbereiche nicht ausreichen, um die facettenreichen Daten der Feldforschung zu analysieren, die im Zentrum stets den Raum haben, verwende ich in meiner Dissertation eine eigene Forschungsmethode – künstlerische Forschungsmethode. Damit ist nicht gemeint, dass ich meine Ergebnisse künstlerisch darstelle, sondern die Forschung an sich künstlerisch ist.

IslamiQ: Warum haben Sie dieses Thema ausgewählt? Gibt es ein bestimmtes Schlüsselerlebnis?

Yeşil: Mein Großvater, der leider mittlerweile nicht mehr lebt, hat uns unermüdlich von seinen Erfahrungen erzählt, die er als sogenannter Gastarbeiter in Deutschland erlebt hatte. Eines seiner Motto-Gebete lautete immer: „Ey hak, bir cuval altın“. Das bedeutet so viel wie, „Oh mein gerechter Herr, schenke uns einen Sack voller Gold“. Wenn ich ihn fragte, was er denn damit machen würde, fing er an zu träumen. Auf der „Tepetarla“, dem höher gelegenen Feld in seinem Dorf, würde er ein Häuschen bauen. Wir, seine Enkelkinder und unsere Großmutter würden „Gözleme“ backen und verkaufen und er würde Sitzplätze im Garten arrangieren. Somit hätten wir ein kleines Café in seinem Dorf und würden im oberen Stockwerk wohnen.

Mein Vater kam als Kind schon nach Deutschland, meine Mutter erst nach ihrer Heirat. Beide sehnten sich nach der Türkei und ich erlebte sie als sehr glücklich und außerordentlich zufrieden, wenn sie in der Türkei war. An sich sind solche hybriden Persönlichkeiten, wie man sie heute nennt, äußerst positiv zu bewerten. Doch als Kind und auch als Jugendliche hatte ich immer das Gefühl nicht in meiner Heimat zu sein. Dieses Gefühl verstärkte sich, als ich mein erstes Kind erwartete. Ich konnte mittlerweile meine negativen Erfahrungen beim Namen nennen und erkannte Rassismus, Islamophobie, Hass. Besonders der rassistische Anschlag in Hanau sowie in München am OEZ waren Schlüsselerlebnisse. Musste unser Kind in einem solchen Land leben? Was wäre die Alternative? Die Türkei? Bei jedem Besuch stellten wir fest, dass die Türkei eigentlich nicht wirklich unser Wunschort ist. Gleichzeitig liebte ich meine Stadt in Deutschland und begann zu reflektieren, was denn Heimat überhaupt sei. Somit ist mein Thema für mich persönlich notwendig. Ich möchte selbstverständlich einen Beitrag für die Wissenschaft leisten, will die Frage aber auch für mich persönlich beantworten können.

IslamiQ: Haben Sie positive/negative Erfahrungen während Ihrer Doktorarbeit gemacht?

Yeşil: Meine Interviewpartner*innen empfinden es als großartig, dass ihre Geschichten in die Wissenschaft „aufgenommen“ werden. Sie äußern sich dazu und ich freue mich. Gleichzeitig motiviert es mich, als POC in der Wissenschaft präsent zu sein. Eine Freundin meinte einmal, „Wir müssen in die weißen Räume der Wissenschaft mit alten weißen Männern Farbe hineinbringen.“ Dieses positive Gefühl setzt besonders bei wissenschaftlichen Tagungen oder Gastvorträgen ein. Außerdem habe ich das Glück, durch ein Promotionsstipendium des Avicenna Studienwerks gefördert zu werden. Das ist einerseits eine finanzielle Unterstützung, die motiviert und zugleich zur Selbstdisziplin einen gewissen Druck ausübt, der sich positiv auf die Dissertation auswirkt. Andererseits durfte ich durch die ideelle Förderung wunderbare Menschen kennenlernen. Darüber bin ich sehr dankbar. Avicenna schafft in diesem Sinne auch Heimat, nachdem man sich als Stipendiat*in mit den verschiedensten Menschen in ganz Deutschland sehr eng verknüpft fühlt. Sicherlich hätte ich mich besonders in meiner Doppelrolle als zweifache Mutter und Doktorandin einsam gefühlt, wenn ich nicht durch Avicenna zahlreiche andere Doktorandinnen mit Kindern kennengelernt hätte.

IslamiQ: Inwieweit wird Ihre Doktorarbeit der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland nützlich sein?

Yeşil: Seit Beginn meiner Doktorarbeit sind schon drei der Akteur*innen, die ich befragt hatte – alle drei in der ersten Generation in Deutschland – gestorben. Ich hatte es als eine der letzten Chancen aufgefasst, die sogenannten „Gastarbeiter*innen“ zu interviewen und sehe, dass dies tatsächlich der Fall ist.

Migration wird leider noch immer sowohl in den Medien als auch in wissenschaftlichen Untersuchungen an einen „defizitären Habitus“ (wie Bourdieu es nennt) gebunden und aus dieser Perspektive analysiert. In meiner Dissertation werden die Akteur*innen wertfrei analysiert. Einerseits wird hierdurch eine gewisse Empathie ermöglicht, andererseits werden kreative Taktiken der Akteur*innen gezeigt, die als unglaublich gute Leistungen bezeichnet werden können. Sowohl im textwissenschaftlichen Teil als auch in den künstlerischen Inputs werden Themen kritisch reflektiert, die die muslimische Gemeinschaft in Deutschland betreffen. Ich stelle mir die fertige Dissertation als ein Buch vor, von dem sowohl die autochthonen Leser*innen, als auch die betroffenen Leser*innen (mit türkischer Migrationsgeschichte) sowie neu ankommende aus den verschiedensten Ländern profitieren können. Mir ist es sehr wichtig, dass bei der Bearbeitung verschiedene Differenzkategorien verwendet werden. Somit ist es in erster Linie ein migrationsspezifisches Thema. Auch „das türkische“ wird behandelt, jedoch so, dass konkret genannt wird, welche traditionellen Aspekte sich in welcher Art und Weise auf die Raumkonstruktionen in Deutschland auswirken.