Für viele Muslime ist eine Psychotherapie immer noch ein Tabuthema. Vielen fällt es leichter, mit einem muslimischen Theraputen zu sprechen. Doch ist die Wahl des Therapeuten überhaupt so wichtig? Eine Kolumne von Dr. Ibrahim Rüschoff.
Das Verhältnis eines Patienten zu seinem Therapeuten ist eine Beziehung ganz besonderer Art. Diese therapeutische Beziehung, wie man sie nennt, ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass der Patient möglichst alles über seine Ängste, seine geheimen Wünsche, über Erfreuliches, Schmerzhaftes und Peinliches erzählen soll.
Der Therapeut seinerseits berichtet über sich praktisch nichts, zumeist auch nicht, ob er das Gehörte interessant oder langweilig findet, für verrückt oder völlig banal hält, ob er es schlimm findet oder übertrieben und nervig und möglicherweise an etwas anderes denkt. Dieses Ungleichgewicht in der Beziehung hat nichts mit mangelndem Interesse oder Neugierde zu tun, sondern ist Teil des methodischen Arrangements in der Therapie. Den Sinn dahinter sollte der Therapeut zu Beginn erläutern, da er seine Patienten unter Umständen damit doch sehr verunsichert.
Die Frage, ob ein nichtmuslimischer Therapeut einen muslimischen Patienten überhaupt verstehen kann, wird von muslimischen Patienten oft bezweifelt oder gar verneint. Wenn das stimmt und nicht vielleicht auch ein Ausdruck der Angst vor einer Therapie ist, benötigen Muslime natürlich unbedingt muslimische Therapeuten, doch so kompliziert ist die Situation gottlob nicht. Da alle Menschen bzw. Patienten in vieler Hinsicht grundverschieden sind und ganz unterschiedliche Lebensgeschichten und biografische Prägungen erfahren haben, gehört es zu den Grundelementen der Therapieausbildung, mit diesen Lebensentwürfen konstruktiv und professionell umgehen zu können.
Die Unterschiede zwischen einem katholischen, seiner lokalen Kultur eng verbundenen Landwirt aus dem Bayerischen Wald und einem nichtreligiösen, in Frankfurt am Main aufgewachsenen und praktizierenden Psychotherapeuten sind ebenfalls ganz erheblich und sogar ausgeprägter als zwischen einem Therapeuten aus Deutschland und einem Patienten aus der Türkei, die beide in einem kleinen Dorf mit vielen Geschwistern aufgewachsen sind und die Lebenswelt des anderen recht gut kennen. Und wenn in meine Sprechstunde ein muslimischer Geflüchteter aus Afghanistan kommt, der gut Deutsch spricht, dann kenne ich seine gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, in dem er geboren wurde, genauso wenig wie jeder andere (nichtmuslimische) Therapeut. Und da der Islam in einer ländlichen Familien- und Stammesstruktur in Afghanistan sicherlich anders gelebt wird als hier in Deutschland, hilft mir mein Muslim sein auch nicht wirklich weiter.
Dennoch sind unter den beschriebenen Umständen erfolgreiche und gute Therapien möglich, wenn beide Beteiligte, Patient und Therapeut, ein paar grundlegende Voraussetzungen erfüllen. Zum einen sollte der Therapeut eine „kulturelle Neugierde“ mitbringen er muss ein wirkliches Interesse an seinen Patienten und ihren Lebenswelten und einen echten Respekt vor ihren Werten haben und wissen, dass fremde Kulturen nicht per se krank machend sind und überall auf der Welt glückliche Menschen aufwachsen und leben können. Muslimische Patienten hingegen müssen ihren Therapeuten nicht nur von den großen und wichtigen Eckpunkten ihres Lebens berichten, sondern vor allem auch von den Selbstverständlichkeiten des Alltags. Diese Selbstverständlichkeiten haben den Patienten vielmehr geprägt, als die wenigen großen Ereignisse, die der Therapeut jedoch nicht kennt.
Weiterhin sollten Patienten, die für sie wichtige Dinge in der Therapie nicht verstehen oder das Verhalten ihrer Therapeuten kritisieren, das ansprechen. Etwas leichter wird diese schwierige Sache, wenn man daran denkt, dass man über sich spricht, und nicht dem Therapeuten etwas unterstellt (z. B. Vorurteile gegen Muslime), was eine Tatsachenbehauptung wäre, die natürlich falsch sein kann.
Angesichts des bisher Gesagten ist die Frage in der eindeutigen Form, ob ein Muslim einen muslimischen Therapeuten benötigt, mit „Nein!“ zu beantworten. Auch muslimische Patienten profitieren von nichtmuslimischen Therapeuten, wenn diese ihren Beruf beherrschen. Ich sage Patienten häufig, die mich als muslimischen Therapeuten kontaktieren, dass ich selbst den besseren Therapeuten wählen würde, müsste ich mich zwischen einem Muslim und einem Nichtmuslim entscheiden.
Derzeit befindet sich der Ehemann einer meiner Patientinnen, beide praktizierende Muslime, in Therapie bei einer nichtmuslimischen Psychoanalytikerin, die ich vermittelt habe. Da der Ehemann sich positiv verändert und meine Patientin anderenfalls längst die Scheidung eingereicht hätte. Man muss bedenken, dass Frömmigkeit und islamisches Wissen natürlich wichtig und hilfreich sind, jedoch keine therapeutische Qualifikation darstellen. Mitfühlen allein reicht in unserem Fach nicht, auch muslimische Therapeuten benötigen eine solide Ausbildung und laufende Supervision, um ihren Patienten zu helfen. Sie tragen eine besondere Verantwortung, für die sie am Tage des Gerichts geradestehen müssen.
Nun ist es allerdings keinesfalls egal, ob man als Muslim einen muslimischen Therapeuten konsultiert oder nicht. Verschiedene Studien zeigen, dass die Therapiebeziehung das wichtigste Element für den Therapieerfolg darstellt und Therapieergebnisse besser sind, wenn beide Beteiligten denselben religiösen Horizont teilen. Das aus Patientensicht wichtigste Argument für einen muslimischen Therapeuten besteht in dem besonderen Vertrauen, das sie diesem entgegenbringen. Sie fühlen sich besser verstanden, müssen nicht so viel erklären und teilen mit ihrem Therapeuten einen gemeinsamen Sinnhorizont, den Islam.
Es gibt allerdings auch immer wieder Therapien, in denen ein Therapeut in seiner Eigenschaft als Muslim entscheidend für den Therapieerfolg ist. Oft erleben diese Patienten ihre Symptomatik als so eng mit der Religion verbunden, dass jeder Nichtmuslim schnell überfordert sein dürfte und bei einem christlichen Patienten einen Seelsorger einschalten würde. Außerdem müssen religiöse Patienten nicht nur der therapeutischen Kompetenz ihres Therapeuten vertrauen, sondern auch sicher sein, dass ihre Lösungen und seine Therapievorschläge für sie auch islamisch in Ordnung gehen und er sie ggf. warnt, wenn sie hier Grenzen zu überschreiten drohen. Das gelingt oft nur mit einem religiösen Muslim als Therapeuten, der die Religion seiner Patienten als wichtige Ressource begreift. Da diese in der aktuellen psychosozialen Versorgung allerdings noch selten sind, sollten religiöse Muslime keinesfalls zögern, auch nichtmuslimische Therapeuten zu konsultieren.