Psychologische Beratung

Wie entstehen Depressionen und woran erkennt man sie?

Depressionen können unterschiedliche Ursachen haben. Sie sind eine erstzunehmende Belastung. Auch für Muslime. Wie es ist, daran zu erkranken – und was hilft. Eine Kolumne von Dr. Ibrahim Rüschoff.

08
10
2022
Symbolbild: Depressionen - auch bei Muslimen ein Problem © shutterstock, bearbeitet by iQ.
Symbolbild: Depressionen - auch bei Muslimen ein Problem © shutterstock, bearbeitet by iQ.

Der Begriff „Depression“ wird im allgemeinen Sprachgebrauch sehr uneinheitlich verwendet. Für manche sind Depressionen eine Art Befindlichkeitsstörung und gar keine wirkliche Krankheit. Viele Menschen bezeichnen schon unterdrückte Stimmungen als Depression und manche sehen sie als Ausdruck ungenügender Religiosität, schlechten Gewissens oder mangelnder Selbstdisziplin an. Die unterschiedlichen Verwendungszwecke machen das Reden darüber nicht unbedingt einfacher. 

Aus medizinischer Sicht ist der Begriff jedoch eindeutig definiert. In den heutigen Industriegesellschaften sind Depressionen eine der häufigsten psychischen Störungen. 16-20 % der Menschen leiden einmal in ihrem Leben an einer Depression, der Anteil der Frauen ist dabei mit bis zu 26 % doppelt so hoch wie der Männer. Die Zunahme der Depressionen in den letzten Jahren ist sowohl auf die zunehmende Alterung der Bevölkerung als auch auf die größere Akzeptanz der Depression als Krankheit zurückzuführen. 

Ursachen

Depressionen werden in verschiedene Grade eingeteilt. Es gibt leichte, mittelschwere und schwere Depressionen. Leichte Depressionen beeinträchtigen den Betroffenen, aber er kann noch seinen Alltag bewältigen. Mittelschwere Depressionen beeinträchtigen den Alltag des Betroffenen erheblich. Bei schweren Depressionen ist der Betroffene so deprimiert, dass er gar nichts mehr machen kann. Zusätzlich hat er eine starke Antriebshemmung, fühlt sich schuldig und wertlos und hat auch Suizidgedanken. Depressionen können auch als einmalige Lebensereignisse auftreten, jedoch sind mehrfache Erkrankungsphasen von einigen Wochen bis mehrere Monate häufiger.

Die Ursachen dieser Erkrankung werden seit Langem erforscht und weisen u. a. auf einen genetischen Risikofaktor hin, da Angehörige ersten Grades von Depressiven deutlich häufiger erkranken. Wie viele psychische Erkrankungen sind aber auch Depressionen multifaktoriell, d. h. die Ursache ist meist eine Kombination aus erblichen, psychologischen und sozialen Faktoren. Bei den psychologischen Faktoren spielen die frühe Kindheit, mit Gewalterfahrungen, unsicherer Bindung, Verlusterleben oder ständige Schuldzuweisungen eine Rolle. Auch soziale Faktoren wie zunehmende Einsamkeit Alleinstehender, belastende Lebensereignisse wie Scheidungen, soziale Benachteiligung und familiäre Ungerechtigkeiten sind zu nennen.

Symptome von Depressionen

Eine Schwierigkeit Depressionen zu erkennen besteht manchmal darin, dass viele ihrer Symptome auch in gesunden Zeiten vorkommen, wenn auch einzeln und zumeist weniger schwer. Gedrückte Stimmung, Grübeln, schlechte Konzentration, Schlafprobleme, Interessen- und Lustlosigkeit oder Antriebsmangel hat jeder irgendwann einmal erlebt, vor allem auch im Zusammenhang mit persönlichen Problemen. Dennoch war diese Person nicht depressiv erkrankt. 

Während insbesondere schwere Depressionen auch vom Umfeld erkannt werden und der Patient in ärztliche Behandlung gebracht wird, ist die Abgrenzung einer Depression von einer Trauerreaktion nach Verlust nicht immer leicht. Vor allem, wenn die depressive Symptomatik mit einem Lebensereignis zusammenfällt wie einem Berufs- oder Stellenwechsel oder ein Umzug. Trauernde fühlen sich oft lebendiger als Depressive, da sie den Verlust bedauerlicherweise Tief empfinden. Depressive hingegen klagen über eine innere Leere und fühlen sich wertlos und ausgelaugt. 

Wenn die Symptome einer Depression jedoch zusammen und „einfach so“ auftreten oder unverhältnismäßig zum Problem sind, sollten Betroffene einen Arzt aufsuchen und sich untersuchen lassen. Eine stets fleißige, interessierte und gut gelaunte Frau, die innerhalb von ein paar Wochen lustlos und deprimiert wird, nicht mehr schläft, der ihre Liebsten nicht mehr wichtig sind, weist typische Symptome einer Depression auf. 

Behandlung

Leichtere bis mittelschwere Verläufe einer Depression lassen sich oft ausschließlich psychotherapeutisch behandeln, schwere Formen dagegen benötigen jedoch eine medikamentöse Therapie, zumindest in der ersten Zeit. Viele Muslime wollen auf Medikamente verzichten, da sie glauben, dass sie ihnen schaden. Diese sog. Antidepressiva machen jedoch nichts abhängig und müssen auch nicht lebenslang eingenommen werden, wie viele fürchten. Mögliche Nebenwirkungen lassen sich durch vorsichtige Dosierung zu Beginn meistens vermeiden und verschwinden nach Absetzen wieder. Wegen der Bedenken und Ängste der Patienten muss sich der Doktor vielleicht mehr als bei anderen kümmern, was leider zu selten geschieht, sodass die Abbruchrate leider recht hoch ist.

Depressive Patienten scheinen eine schwarze Brille auf der Nase zu haben, egal wo sie hinsehen. Nichts ist mehr so wie früher, alles ist schwerer, gleichgültiger, und es gibt praktisch nichts, worüber sie sich freuen und womit man sie aufheitern könnte. Sie hören oft Ratschläge wie „Lies doch im Koran!“, „Versuche mehr zu beten!“, oder auch „Reiße Dich zusammen!“ „Bemühe Dich doch mehr!“, und „Freue Dich doch mal!“, dabei haben sie es schon so oft versucht, aber nichts hilft, auch nicht das Gegenteil davon.

Die Hilflosigkeit der Angehörigen in solchen Situationen führt häufig zu Aggressionen gegenüber den Kranken. Es erfordert eine Menge Geduld, trotz aller Frustration dabei zu bleiben und immer wieder zu betonen, dass die Depression vorübergehen wird und man den Patienten bis dahin unterstützen. Aus den Befragungen der Patienten nach ihrer Besserung ergab sich, dass ihnen geduldige Haltung ihrer Angehörigen während der Krankheit am meisten geholfen hat.

 

Leserkommentare

Charley sagt:
Welch ein wohltuender Artikel! Warum wohltuend? Weil er nicht - wie viele andere Aritkel - endet in dem Gedanken: Der Islam ist das Allheilmittel! Depression ist tatsächlich schon eine Volkskrankheit. Gelähmt in einem Sinnlosigkeitssyndrom entsteht Gleichgültigkeit: "Was soll ich denn? Wie kann ich denn "Wollen"? Warum motiviert mich nichts?" usw... sind nicht Floskeln, sondern seelische Grundstimmungen. Es ist die Leere des eigenen Selbst, welche durch keine Äußerlichkeiten mehr zu füllen ist. Es ist durchaus die Frage, welchen Begriff der Islam für das menschliche, eigene Selbst selbst bieten kann! Ein wie auch immer geartetes "Folge Allah" wirft in der depressiven Seele sofort - als Erlebnis, vielleicht sogar fomuliert - die Frage auf: Wieso sollte ich denn? Was geht mich das an? Ich möchte mit diesen Gedanken darauf hinweisen, dass ich genau darin ein Problem des islam sehe, dem Menschenselbst/-ich einen Inhalt in sich selbst zu geben, vor allem "Unterwirf dich!" (was die reale Übersetzung des Wortes Islam ist!). In sich selbst Grund und Halt zu finden, in selbst ergreifender Ich-Erkenntnis, in gesunder Erfahrung von Selbstwirksamkeit, das braucht der Depressive. Er muss wieder lernen an sich, an sein Leben zu glauben. Dass er als Individualität eine Biographie hat und er diese selbst gestalten kann (.... der Kishmet-Gedanke ist da nicht besonders förderlich!) Das wird für ihn der Weg der Heilung. Eine Hinlenkung auf ein "Unterwirf dich Allah!" lenkt geradezu ab von diesem "Glauben an sich selbst!", den der Depressive wieder zu gewinnen hat. Ein fanatisch in einen Allah-Glauben Getrieben sein, kann da - wir jeder religiöse Fanatismus - wie eine Droge wirken, die das Problem vielleicht sogar eine Weile übertüncht. Das Problem wird dadurch aber gewiss nicht kleiner. Wie anders dagegen ein gesundes An-sich-selbst-Glauben-können und in dann vielleicht sogar dieses Selbstsein als gottgewollt erkennen zu können. Welch eine Kraft ginge aus von solch einem Erlebnis, wenn der Depressive fühlt: "Gott glaubt an mich!"... um meiner selbst willen. Gott will keine Marionetten, die ihr Selbst aufgeben, sondern gesunde, freie "Du"s... die sich ihm dann evtl. (!) in Freiheit zuwenden, aber er will vor allem sich selbst bestimmende, freie Menschen. * Kann der Islam das bieten? Beste Grüße Charley *ein anderer Gottesbegriff würde mich in keiner Weise interessieren! An einem anderen "Gott" würde ich vorbei gehen, wie an einer Litfassäule.
08.10.22
22:03
Charley sagt:
Wer erkennt hier nicht eine Ähnlichkeit mit der Depression? "Charakteristisch für die religiöse Haltung des Muslims ist das Gefühl der eigenen Ohnmacht und der totalen Abhängigkeit von dem einen, allmächtigen Schöpfergott Allah." https://www.focus.de/wissen/mensch/religion/islam/islamlexikon..... (bitte googlen, Links sind ja nicht erlaubt). Wo ist da ein Selbst, welches sich nicht als ohnmächtiges Werkzeug des Kishmet erkennen muss? Das Problem des Islam ist - meinem Verständnis nach - immer noch einen in sich begründeten Begriff des menschlichen Ich/Selbst zu haben.
08.10.22
22:12
Tarik sagt:
Der letzte Satz ist teilweise richtig. Er ist sogar treffender, wenn man ihn dezent abändert in "das Problem ist mein Verständnis". Das soll an dieser Stelle keine Polemik sein, denn ein irriges Islamverständnis ist heute angesichts des gigantischen weißen Rauschens, den wir "Information" nennen, ziemlich leicht. Dazu kommen natürlich auch eigene Ansichten, Erfahrungen, Voreingenommenheit, die ein jeder von uns mit sich trägt. Zur Sache: Die islamische Lehre/Tradition kennt sehr wohl ein eigenes Selbst/Ego (nafs), es kennt den Geist/Bewusstsein (aql) und das spirituelle Herz (qalb), wo der - wenn wir so wollen "göttliche Funke" oder Seele sitzt. (ruh). Das Ego besteht aus bestimmten Teilen, z.B. das "tierische Selbst" (wie Hunger, Begierde) oder das "sich anklagende Selbst" (das analytische ich). Übrigens allesamt qur'anische Begriffe, wo der Nafs in verschiedenen Zusammenhängen gebraucht wird. Dabei geht es darum, all das in eine Harmonie zu bringen, denn alles hat seine Funktion. Wir müssen essen, uns fortpflanzen und auch eine gesunde Portion Aggression (zum Schutz) ist notwendig. Jedoch sollen wir uns nicht dadurch lenken lassen. Es geht also nicht um die Negierung des eigenen Selbst, sondern um dessen Zähmung. Mit Ghazalis Worten gesprochen: um das Pferd zu reiten und nicht von ihm geritten zu werden. Warum? Weil unser Ruh, unsere Seele nicht von dieser Welt ist und sich nach der Wiedervereinigung mit Gott sehnt: Dazu brauchen wir spirituelle Nahrung. Wir kennen im Islam keinen Konflikt zwischen Körper und Geist, sondern wir glauben an die Einheit von Körper und Geist. Ja, wir sind ein Kind dieser Erde, wir sind aus organischen Bestandteilen geschaffen (wie der Quran u.a. sagt, aus Schlamm, aus Erde, aus Lehm, aus Wasser...). Doch gleichzeitig sind wird eben auch nicht von dieser Welt. Der Mensch wurde nicht dadurch Mensch, als er lernte, aufrecht zu gehen, zu sprechen oder geschickt mit Werkzeugen umzugehen. Das macht ihn lediglich zu einem intelligenten Tier. Der Mensch wurde dann Mensch, als er anfing, Höhlenmalereien zu zeichnen, in dem Glauben, dass eine Verbindung mit den Ahnen ihnen bei der nächsten Jagd Segen bringt. Etwas vergleichbares gibt es in der tierwelt nicht. Tiere sind effizient, aber keine Künstler, weshalb die Kunst auch - mit Hegel gesprochen - eine Ausprägung des Göttlichen ist. .. Natürlich ist der Islam ist nicht das Allheilmittel, wie der Qur'an übrigens selbst sagt, als Gott Muhammad (a.S.) - nachdem ein arabischer Stamm zum Islam konvierterte - daran erinnert, sinngemäß aus dem Gedächtnis übersetzt :"Sprich von Ihnen nicht als Gläubige (Mu'min), sondern als gegenüber Gott ergebene (Muslim) - denn der Glaube ist noch nicht in ihr Herz gelangt". Die höchste - und die angestrebte Stufe - ist die eines Muhsin - derjenige mit Ihsan, der nicht an Gott glaubt, sondern in direkt erfährt (Ghazali: "Das Wissen steht über dem Glauben, aber das Schmecken (die Erfahrung) steht über dem Wissen, denn das schmecken ist eine intiutive Erfahrung, während der Glaube Nachahmung ist und das Wissen sich in Syllogismen erschöpft"). Nun ist die Läuterung des Herzens ein alles andere als einfacher Prozess. Und nur eine Minderheit lebt tatsächlich bewusst. "Islam" ist dabei lediglich der kleinste gemeinsame Nenner, das absolute Minimum, sozusagen um noch mit einer 4- zu bestehen und nicht durchzufallen. Das sehen auch andere Traditionen ähnlich: zunächst geht es um das Erlernen von dem, was ein einem weitergereicht wird. Und wir lernen zuallererst in Kleinkindalter durch Imitation, durch Nachahmung. Nur wir verharren nicht dabei. Wenn Sie sich wirklich dafür interessieren, was der traditionelle Islam - der die gesammelte Weisheit von madhdhab (Rechtsschulen), Kalam (Theologie) und tasawwuf (islamische Psychologie) - vereint, dann empfehle ich Ihnen, durch die Kanäle des Zaytuna College in Berkeley (Hamza Yusuf) oder des Cambrige Muslim College (Abdal Hakim Murad) zu stöbern (youtube). Buchtipp: "The Purification of the Heart - Signs, Symptoms and Cures of the Spiritual Diseases of the Heart" (von Imam al Mawlud - übersetzt von Hamza Yusuf).
08.11.22
13:11
Tarik sagt:
Der Gerechtigkeit halber sei hinzugefügt: wir erleben schon seit längerem einen Prozess der Entfremdung. Das betrifft alle möglichen Gesellschaften, westliche wie auch islamische - dort noch mit schlimmeren Auswirkungen. Hier ist die Entfremdung, die in immer groteskeren und aggressiverer Propaganda neuerer Körpervorstellungen / Menschenbild, ein schleichender Prozess gewesen, der mit der Aufklärung begann und heute wenig mit Kant gemeinsam hat. In der islamischen Welt hingegen erlebten wir einen Zusammenbruch von über einem Jahrtausend aufgebauten Bildungssystem und gelebter Tradition. Und den Versuch, etwas von außerhalb - zumeist gewaltsam - aufzuzwingen, ad hoc und von oben verordnet. Wo Tariqate (Sufi-Orden) verboten wurden, wo ganze Bevölkerungen über Nacht Analphabeten wurden, etc. pp. Das beständige Gleichgewicht - das es in der islamischen Welt über lange Zeit gab - zwischen "rationaler und offenbarter Weisheit" fiel zusammen. Es ist für westliche Geister nicht leicht, traditionellen, authentischen Islam zu finden. Denn dieser wird seit über 100 Jahren von zwei Seiten aus angegriffen. Und beide Seiten werden politisch vom Westen unterstützt. Zum einen säkulare Modernisten, die Rückständigkeit und vermentliche Unvereinbarkeit mit der Moderne angreifen, und zum anderen "salafistische" Eiferer, die den traditionellen Islam als "unauthentisch" attackieren. Ihnen zufolge sind die Rechtsschulen unislamisch, ihnen ist die Theologie unislamisch ("wozu brauchen wir den Verstand, wenn der Quran klar und eindeutig ist"), und der tasawwuf selbstverständlich auch. Die Fragmentierung des Islams heute ist das Problem. Die islamische Lehre ist ganzheitlich. Sie beinhaltet sowohl das Bewusstsein als auch die Seele und Körper. Und nicht nur einen Aspekt. Die säkularen Reformer fokussieren sich auf den Verstand, vernachlässigen allerdings sowohl Gebote als auch das Herz (denn das Ziel ist es, aus Liebe zu beten, nicht aus Nachahmung). Die Radikalen Eiferer hingegen ignorieren sowohl Herz als auch Verstand und kennen nur Gebote - allerdings ignorieren sie die Tradition. Es hat seinen Grund, wieso es bis zu den Erscheinen der Taliban in Afghanistan dort in der Geschichte keine Steinigungen gab. Die neotraditionalistische Schule (siehe Tipps) beruft sich auf die Ganzheitlichkeit des Islams, und Tonnen an Schriften aus einer über Tausendjähriger Tradition haben sie im Rücken. Ebenso wie heute leider rare Gegenden, wo diese Tradition bis heute relativ intakt geblieben sind.
08.11.22
14:17
Charley sagt:
Ich schaue jetzt nach einiger Zeit mal wieder hier rein. Tarik, das klingt durchaus intelligent, was Sie schreiben. Dass der Islam dem Menschen einen göttlichen Funken zuspricht, der sogar entwickelbar ist, hört man im Mainstream des Islam eigentlich nicht. Denn das wäre ja quasi eine Identität zwischen dem Göttlichen und Menschlichen (im Tropfen und im Meer ist es dieselbe Substanz). Das geht meiner Meinung nach an das Grundverständnis des Islam und wirft Fragen auf: Wie kommt dieser "Gotteskeim" in den Menschen hinein? Der Verweis auf die Schöpfung greift wenig, weil da eine Kontinuität nachzuweisen wäre? Damit kommt man an den Monadenbegriff eines Leibnitz heran, der deshalb richtig folgernd zum (damit christlichen!) Reinkarnationsbegriff kommt. Durch welche Kraft entwickelt sich dieses Selbstsein des Menschen, wenn er aus diesem Keim heraus seine eigene Entwicklung beginnt? (hier ist im Christentum die spirituelle Befruchtung durch das Ereignis der Menschwerdung, des Todes und der Auferstehung des "Gottessohnes" zu sehen, welcher das Urbild wahren Menschseins als Herzenskraft im Menschen erneuert hat. Denn so einfach ist es nicht zu denken, weil ein Allah mit einem "Eingriff von oben" die Freiheit des Menschen zerstören würde!) Gleichfalls wirft es die Frage nach der Notwendigkeit der Geschlechterspaltung auf: Während im Islam die sexuelle Identität auch im Nachtodlichen dauerhaft bestehen bleibt, findet man in anderen spirituellen Schulen durchaus den Punkt, dass in der nachtodlichen Entwicklung auch die sexuelle Identität abgelegt wird. Das ist sinnvoll, wenn dieser Keim der Erkenntnis- und Liebespotenz sich verwirklichen können soll. Dann muss er auch seine "sexuelle Verpackung" irgendwann ablegen. Konnte Mohammed da nicht weit genug ins Nachtodliche schauen? (Da sind andere spirituelle Meister viel, viel klarer.) Ibn Rushd geht von einem Aufgehen/Auflösen der Individualität im Nachtodlichen aus. Damit ist alles Menschsein nur ein "Prozess Allahs", der diesen in/mit der Menschheit vollzieht, die Menschheit ist nichts für sich (weshalb der Islam auch keinen wirklichen Entwicklungsbegriff (z.B. im Gegensatz zu Leibnitz oder überhaupt dem Christentum ("neues Jerusalem"/Offenbarung des Johannes) hat. Allein wahr ist ein "back to the roots"/Paradies und jegliche Menschheitsentwicklung ist am Ende allein ein Irrtum. Im esoterischen christlichen Verständnis entwickelt aber die Menschheit sich zu einem Urbild von Freiheit (!, "Freiheit bringt heim der verlorene Sohn" vergleiche das Gleichnis im Evangelium!) und Liebe. Das ist ein Entwicklungsziel, welches das Herumstolpern in der Welt des Irrtums (derzeitige sinnliche Inkarnation) als einen wertvollen Prozess der Entwicklung zur Freiheit erkennt. Man sieht selbst, dass in dieser Diskussion durchaus ernst zu nehmende Motive im Islam auftauchen. Ich selbst habe diese Motive allein in Sufitexten wieder gefunden. Aber die Sufis lebten immer an der Grenze zur Verfolgung, wenn sie ihre wirklich in individueller spiritueller Entwicklung gemachten Erfahrungen auch nur mitteilten. Insofern sind sie eben nicht repräsentativ für den Islam. Typisch ist da z.B. auch Al Halladsch, der in seiner spirituellen Entwicklung/Selbstbefreiung die "Pilgerfahrt nach Mekka" soweit verinnerlicht hatte, dass er deren äußeren Vollzug in Frage zu stellen wagte. Er überwand in seiner individuellen Entwicklung eben auch "den Islam", er war er selbst, im allerbesten Sinne. Ist der islam fähig, solch eine Selbstbefreiung anzuerkennen? Ich meine dieses prinzipiell und auch praktisch. Letzteres wäre heutzutage lebensgefährlich in der islamischen Welt. Wenn Sie von 2 Degenerationsrichtungen des gelebten Islam sprechen, so ist die Frage: Wo und wie entwickelt sich also der "wahre, berechtigte Islam"? Wo sind spirituelle Repräsentanten dieser Qualität? Und wie wirksam ist diese (dann wohl eher, weil lebendig:) "Hefe des Islam" in der zeitgenössischen Wirklichkeit? Daran schließt sich an die Frage, ob die spirituellen "Entwicklungstechniken" noch in der modernen Welt greifen (können). Religion im traditionellen Sinne könnte bald überwunden sein (das gilt auch für die sog. großen christlichen Kirchen), auch wenn die spirituelle (innere und äußere) Kultur, die sich aus Spiritualität nährt, weiterhin sich entwickeln und entfalten kann (solange es menschliche Menschen gibt). Die äußerlichen Formen, insbesondere des islam mit seinen "Regeln" (an die sich viele klammern, um "Halt" zu finden) sind in manchen Teilen schon heute deutlich anachronistisch. Damit diese "Klammerer" loslassen könnten, müsste Ihnen ein Weg der Befreiung gezeigt werden. Kann der Islam das ohne sich selbst abzuschaffen? Über Halladsch von Friedrich Rückert Ich sah meinen Herrn mit meines Herzens Augen. Ich sprach: Wer bist du? Er sagte: Du! Bei Dir hat das Wer kein Wer, Wo du bist, ist kein Wer. Die Vorstellungskraft hat keine Vorstellung von Dir, So dass sie wüsste, wo du bist. Du bist der, der alles Wo umfasst Bis hin zum Nichtwo. Wo also bist Du? Halladsch, der in Bagdad War ein Wundertäter, Der den Leuten zeigte Sommerfrücht’ im Winter, Winterfrücht’ im Sommer, Und wenn er die Hände Auf zum Himmel streckte, Silberdrachmen brachte, Denen aufgeprägt war Kol-llahu ahad, Sage Gott ist einer! Den zuletzt als Ketzer Die Gesetzgelehrten Wussten hinzurichten, Weil er ausgesprochen, Ein Ersatz der Wallfahrt Sei nach Mekka dieses, Dass ein Mann in seinem Haus ein Zimmer habe, Still und rein gehalten, Wo er alles bete, Was man auf der Wallfahrt Kann nach Mekka beten, Und alsdann versammle Alle Waisenkinder, Die er aufzufinden Weiß in seinem Viertel, Und gespeist, bekleidet, Und mit Geld beschenket, Wieder sie entlasse – Diesen, der sich rühmte Dass in der Entzückung Eins mit Gott er werde, Sah in der Entzückung Einst ein Mann und fragte: Gott! Warum zur Glut ist Pharao verdammet, Weil er ausgerufen: Ich bin Gott! Und Halladsch Ist entzückt zum Himmel, Weil er ruft das Gleiche: Ich bin Gott! – Da hört’ er Eine Stimme sprechen: Pharao, als jenes Wort er ausgerufen, Dachte nur sich selber, Hatte sich vergessen. Halladsch, da er’s ausrief, hatte sich vergessen, Dachte nur Mich selber. Darum war im Munde Pharaos das „Ich bin“ Ihm ein Fluch; das „Ich bin“ Ist in Halladsch eine Wirkung Meiner Gnade. von Friedrich Rückert aus Sieben Bücher morgenländischer Sagen und Geschichten", Stuttgart 1837
29.11.22
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